ADB:Reitzenstein, Friedrich Albrecht Karl Johann Freiherr von

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Artikel „Reitzenstein, Friedrich Albrecht Karl Johann Freiherr von“ von Emil Münsterberg in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 53 (1907), S. 667–672, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Reitzenstein,_Friedrich_Albrecht_Karl_Johann_Freiherr_von&oldid=- (Version vom 26. November 2024, 10:09 Uhr UTC)
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Reitzenstein *): Friedrich Albrecht Karl Johann Freiherr von R. wurde am 26. März 1834 als Sproß des bekannten alten fränkischen Geschlechts geboren, dessen Mitglieder dem Staats- und Militärdienst zahlreiche Kräfte geliefert haben. Sein Vater war zu jener Zeit Rittmeister und Flügeladjutant des Königs, ein Verhältniß, das R. den Vorzug verschaffte, den König selbst und den Prinzen und die Prinzessin[WS 1] Albrecht von Preußen zu seinen Taufpathen zu zählen. R. wendete sich nach Beendigung der Schulzeit dem Studium der Rechts- und Cameralwissenschaften zu, denen er vom Herbst 1851 bis Frühjahr 1855 oblag. Am 4. April 1855 wurde er als Kammergerichtsauscultator vereidigt und zunächst bei dem Amtsgericht in Neiße beschäftigt. Am 10. August 1856 legte er die Prüfung als Referendar ab, der nach Erledigung der in dem Ausbildungsgang üblichen Stationen bei Unter- und Obergerichten das Assessorexamen folgte, das er am 24. December 1859 bestand. Schon damals trat seine entschiedene Neigung zur Verwaltung und namentlich das Interesse für die Bethätigung auf dem communalpolitischen Gebiet deutlich hervor, die für seine spätere öffentliche und wissenschaftliche Thätigkeit entscheidend werden sollte. Wenige Monate nach Ablegung der letzten Staatsprüfung, im März 1860, wurde er als Hülfsarbeiter bei dem Magistrat in Görlitz beschäftigt und trat nach einjähriger Thätigkeit dort zur Staatsverwaltung über, die ihn am 14. October 1861 als Regierungsassessor übernahm und der Regierung zu Königsberg i. Pr. überwies; dort nahm er die Geschäfte eines Justitiars bei der Abtheilung für die Kirchenverwaltung und das Schulwesen wahr. Als Regierungsassessor war er dann noch in Marienwerder und Potsdam thätig, um 1866 aus dem Staatsdienste zunächst auszuscheiden und das Amt eines zweiten Bürgermeisters der Stadt Königsberg zu übernehmen. Dort lag ihm vor allem die Leitung des öffentlichen Armenwesens ob; doch hatte er auch fast ein volles Jahr während einer Vacanz die Geschäfte des ersten Bürgermeisters zu führen. Eine ernste Erkrankung nöthigte [668] ihn, im Herbst 1869 einen halbjährigen Urlaub zu nehmen, den er meist im Süden zubrachte. Eine entscheidende Wendung seines äußeren und inneren Lebensganges brachte ihm das Jahr 1871. Die bedeutungsvollen Aufgaben, die der Regierung in der Verwaltung der neu gewonnenen Reichslande erwuchsen, forderten geschulte und weitblickende Persönlichkeiten. Die Aufmerksamkeit des Ministers Delbrück war auf R. gelenkt worden, der zunächst zur commissarischen Verwaltung des Generalsecretariats für Lothringen berufen wurde. Am 20. Juli 1871 legte er sein Amt als zweiter Bürgermeister nieder und trat in den Reichsdienst als Generalsecretär der Präfectur in Metz über. Anfang 1872 wurde er zum Oberregierungsrath ernannt und am 8. Mai 1877 an die Spitze von Lothringen als Bezirkspräsident gestellt. Unerwartet schnell endete diese Thätigkeit und damit überhaupt die amtliche Thätigkeit Reitzenstein’s, der am 22. April 1880 in den Ruhestand versetzt wurde. Die Gründe, die zu dieser Maßregel führten, sind öffentlich nicht bekannt geworden; es ist anzunehmen, daß politische Constellationen die Ursache bildeten, daß namentlich die Auffassung des Bezirkspräsidenten über die Behandlung Lothringens vom deutschen Standpunkte aus von der der leitenden Stellen abwich und weiteres gedeihliches Zusammenarbeiten in Zweifel stellte. Wenn R. auch in der üblichen Weise nur zur Disposition gestellt wurde, so hat er doch thatsächlich ein Staatsamt nicht wieder übernommen und hat von 1880 bis zu seinem am 5. Februar 1897 erfolgten Tode im amtlichen Ruhestande gelebt. Nach der Amtsniederlegung siedelte er sich in Freiburg i. Br. an, das bis zu seinem Ende sein Wohnsitz blieb. Von seinen äußeren Lebensschicksalen ist nur noch zu berichten, daß ihm am 13. November 1890 von der Universität Tübingen die Würde eines Doctors der Staatswissenschaften honoris causa verliehen wurde. Ueber seine Familienverhältnisse sei bemerkt, daß er sich am 18. October 1870 mit einer Verwandten, der Freiin Klaudia v. Reitzenstein aus München vermählte und daß aus dieser Ehe mehrere Kinder entsprossen sind.

Daß R. in dem jugendlichen Alter von 46 Jahren eine wechselvolle und erfolgreiche amtliche Thätigkeit für immer abschließen mußte, hat ihm ernsten Kummer bereitet, den er wohl nie ganz verwunden hat. Was ihm selbst aber zum Kummer gereichte, wurde zum Gewinn des öffentlichen Lebens und vor allem zum Gewinn der Wissenschaft, denen beiden er sich von nun an ausschließlich zu widmen die Muße gewann. Schon in Königsberg hatte er in seiner Eigenschaft als Leiter des öffentlichen Armenwesens zu denjenigen Fragen ein besonderes Verhältniß gewonnen, die wir heute mit dem weiterreichenden Namen der „socialen Fürsorge“ bezeichnen. Er bemühte sich um die Reorganisation des öffentlichen Armenwesens in Königsberg und erkannte die Schäden einer zersplitterten und planlosen Privatwohlthätigkeit; das praktische Ergebniß war die Begründung des Vereins zur Bekämpfung der Bettelei, der die diesem Namen entsprechenden Aufgaben erfüllen und die private Liebesthätigkeit in geordnete Bahnen lenken sollte. Aber neben dem Armenwesen wendete er auch den weiteren Aufgaben der communalen und öffentlichen Wohlfahrtspflege dauerndes praktisches und theoretisches Interesse zu; in Lothringen waren es die französischen Zustände, die zur Vergleichung mit den alten deutschen Verhältnissen herausforderten. Aber hier wie dort ließ die täglich drängende praktische Arbeit eine wissenschaftliche Vertiefung nicht recht zu und erweckte in R. um so mehr den Wunsch, sich einmal gründlicher und eingehender mit allen diesen Fragen beschäftigen zu können, als eindringende wissenschaftliche Arbeit durchaus seinen Neigungen und Fähigkeiten und die Beschäftigung mit Gegenständen der socialen Fürsorge und der Wohlfahrtspflege seinem Herzensbedürfniß entsprach.

[669] Ein überaus ernster Mann, mit einem etwas schwerfälligen Temperament, gewissenhaft, ja streng in den Anforderungen, die er an Amt und Arbeit stellte; fest in seinen religiösen, politischen und wissenschaftlichen Ueberzeugungen, die er sich in hartem Ringen und fleißigster Arbeit abgewann. Dabei im Grunde seines Wesens gütig und freundlich, stets bereit, die gegnerische Meinung gelten zu lassen, und von einer so rührenden Bescheidenheit und Einfachheit, daß er auf das Bereitwilligste Leistungen und Tüchtigkeit der Anderen anerkannte und seine eigene Tüchtigkeit gering einzuschätzen leicht geneigt war. Wer ihn gekannt hat, wird sich die hohe, schlanke Gestalt vergegenwärtigen, den klugen Kopf, der die Arbeit des Denkers anzeigte, die klaren, hellen und freundlichen Augen; doch ließ sein Aeußeres, der schon früh ergraute Vollbart, ihn leicht älter erscheinen, als er war. Die Gabe der klangvollen, volksmäßig wirkenden und zündenden Rede war ihm nicht gegeben. Wo er aber im engeren Kreise von Sachkundigen und Fachgenossen zu berichten hatte, gewann er den Hörer durch die Tiefgründigkeit seiner Beweisführung, durch die lückenlose Kenntniß des Gegenstandes, über den er sprach, und durch den Ernst, mit dem er seine Forderungen vertrat.

Daß eine Persönlichkeit dieser Art nicht im Ruhestande verharren konnte, leuchtet von selbst ein. Doch hat sich die von R. nach seiner Entlassung begonnene Arbeit weit über das von ihm erwartete Maaß hin erweitert. Während er sich zunächst mit den Gegenständen des öffentlichen Lebens mehr aus einer Art Liebhaberei und mit dem Wunsche, seine Muße auszufüllen, beschäftigte, wurden ihm die Gegenstände nach und nach vertrauter, die Arbeit daran immer wichtiger. Seine reichen praktischen Erfahrungen halfen die theoretische Einsicht beleben, sodaß von vornherein die Beziehung zum wirklichen Leben gewahrt blieb. So wurde aus der Mußethätigkeit nach und nach eine ernste wissenschaftliche Arbeit, die seinen Lebensabend mehr als ausfüllte und ihn nach verhältnißmäßig kurzer Zeit in die Reihe der auf dem Gebiet der Wohlfahrtspflege und Socialpolitik führenden Männer stellte.

Zwei Stellen waren es hauptsächlich, die ihn zu wissenschaftlicher und praktischer Arbeit führten, der „Deutsche Verein für Armenpflege und Wohlthätigkeit“ und der „Verein für Sozialpolitik“. Beiden gehörte er als Vorstandsmitglied an; in dem ersten hat er seit 1886 bis 1897 die Stelle des zweiten Vorsitzenden bekleidet. Die Thätigkeitsgebiete beider Vereine berühren sich, wie Grenzgebiete sich berühren. Socialpolitische Thätigkeit will vor allem davor bewahren, daß Armenpflege in irgendwelcher Form nothwendig wird; Armenpflege nimmt sich derer an, die trotz allem der helfenden Fürsorge bedürfen. Die Thätigkeit auf dem armenpflegerischen Gebiet war R. von Königsberg her vertraut; die Arbeit in den Reichslanden hatte seinen Blick erweitert und auf die französischen und ausländischen Verhältnisse überhaupt hingelenkt. Und so war die erste Frucht seiner Muße eine 1881 in den Schmoller’schen Jahrbüchern erschienene Abhandlung: „Die Armengesetzgebung Frankreichs in den Grundzügen ihrer historischen Entwicklung“, eine Arbeit, die zum ersten Male in einer dem wissenschaftlichen Bedürfniß einigermaßen genügenden Weise den deutschen Fachgenossen das französische Armenwesen näher brachte und die in der geschichtlichen Entwicklung begründeten Verschiedenheiten des romanischen und des germanischen Armenpflegewesens veranschaulichte; die Ergebnisse der Arbeit, weit entfernt nur theoretisches Interesse zu beanspruchen, berührten sehr unmittelbar praktische Fragen, da die Forderung, das noch auf französischer Grundlage beruhende System der reichsländischen Armenpflege anzupassen, schon damals sehr ernstlich, wenn auch erfolglos erhoben wurde. Schon in dieser Arbeit zeigte sich die Sorgfalt, die R. auf seine [670] Arbeiten verwendete; mit der Litteratur des Gegenstandes machte er sich vollständig vertraut; die aus Büchern gewonnene Anschauung ergänzte er durch eine ausgedehnte Correspondenz mit Fachgenossen und durch persönliche Besichtigung der wichtigsten Einrichtungen.

Dieser ersten Arbeit, die seinen Namen zugleich in Fachkreisen auf das beste bekannt machte, ließ er im Laufe der Jahre eine große Reihe von Schriften und Berichten aus dem Gebiet des Armenwesens folgen. Die Mehrzahl von ihnen sind in der Form von Berichten zur Vorbereitung der Verhandlungen des genannten Deutschen Vereins für Armenpflege und Wohlthätigkeit erschienen und in dessen Sammlungen veröffentlicht. Dahin gehören vor allem der Bericht über die Reform der ländlichen Armenpflege, in dem die Berichte zahlreicher Stellen über diesen Gegenstand von R. als Berichterstatter des Vereins gesammelt und zusammengefaßt waren (1886), ferner die Berichte über die Beschäftigung arbeitsloser Armer und Arbeitsnachweis (1887), die Aufsicht über die öffentliche Armenpflege (1889), und Fürsorge für Obdachlose (1893). Das Bemühen, auf diesem Gebiet eine allseitig erschöpfende Kenntniß zu gewinnen und zu verbreiten, führte R. zu eindringendem Studium über das ausländische Armenwesen, über das zuletzt in dem bekannten Sammelwerk von Emminghaus in sehr ungleicher Weise berichtet war. In den Jahren 1891 bis 1895 gibt R. jedes Mal zu Beginn der Tagung des genannten Vereins eine Uebersicht über die „neueren Bestrebungen auf dem Gebiet der Armenpflege in den für uns wichtigsten Staaten des Auslandes“ und weist auf werthvolle Muster hin, die das Ausland zu bieten vermag. Es sind kurze, mündlich erstattete, in den Verhandlungsberichten dann im Druck festgehaltene Berichte, die zu einer späteren vollständigeren und planmäßigeren Behandlung des Gegenstandes durch den Verfasser dieser Zeilen den Anstoß gaben. In seinem Nachlaß fanden sich nicht unerhebliche Vorarbeiten für eine Geschichte des gesammten Armenwesens, in der alle wichtigeren Culturländer behandelt werden sollten. Doch war das Material zu wenig geordnet, um eine auch nur fragmentarische Herausgabe als Ganzes zu gestatten; einzelne Stücke, insbesondere eine Darstellung des schweizerischen Armenwesens und Beiträge zur Geschichte des Armenwesens sind in Schmoller’s Zeitschrift für das Armenwesen publicirt worden. Wenn aber irgendwo die wissenschaftliche Gründlichkeit, der unermüdliche Fleiß und die unerbittliche Gewissenhaftigkeit Reitzenstein’s sich zeigen, so war es in diesen nachgelassenen Stücken, die neben begonnener Textausführung eine große Menge einzelner Notizen, Abschriften aus wenig zugänglichen Büchern, Uebersetzungen fremdsprachlicher Stücke u. dgl. enthalten. In diesem Zusammenhange ist auch der Mitarbeit Reitzenstein’s an dem Wörterbuch des Verwaltungsrechts und des Handwörterbuchs der Staatswissenschaften zu gedenken, für die er zahlreiche Artikel geliefert hat.

Zwei Arbeiten, die auf dem Grenzgebiet zwischen Armenpflege und Socialpolitik liegen, sind ein 1895 von R. abgegebenes Gutachten über „Arbeitslosenversicherung, Armenpflege und Armenreform“, in dem er zu der damals von dem Verein sehr eingehend behandelten Frage Stellung nahm, und ein Werk über den „Arbeitsnachweis“, bei dessen Beendigung R. der Tod überraschte. Von dem ersten Theil dieses Werks lagen 13 Bogen bereits gedruckt vor, während der Rest zwar gesetzt, aber noch nicht durchgesehen war; von dem zweiten Theil waren nur einige Capitel abgeschlossen. Das Ganze ist dann von Dr. Freund durchgesehen und aus dem Nachlaß herausgegeben. Das mehr als 36 Bogen umfassende Werk wird auch in dieser Gestalt seinen Werth als Grundlegung der Wissenschaft des Arbeitsnachweises behalten. Als [671] R. es schrieb, begann die Frage des Arbeitsnachweises im Vordergrund des öffentlichen Interesses zu stehen. Noch war diese Einrichtung keineswegs von den Einrichtungen der Armenpflege völlig losgelöst; noch war ihr Zusammenhang mit der Armenpflege deutlich erkennbar. R. hat gerade diese Entwicklungstendenz deutlich herausgearbeitet und unter Darbietung eines in solcher Vollständigkeit nie vorher bekannten Materials, das wiederum In- und Ausland umfaßt, eine streng systematische Grundlegung des gesammten Gegenstandes gegeben. Einem einleitenden Abschnitt über das Problem und die geschichtliche Grundlage schließt sich eine Darstellung der vorhandenen Einrichtungen und Zustände an, bei der die primitive Form des Aufsuchens von Arbeit, das Stellenvermittlungsgewerbe, die berufsgenossenschaftlichen und endlich die gemeinnützigen und fürsorglichen Vereine und Anstalten geschieden werden. Auf rein socialpolitisches Gebiet begibt sich R. mit einer auf Veranlassung des Vereins für Socialpolitik verfaßten Arbeit: „Agrarische Zustände in Frankreich“, die 1884 erschienen ist, in der zunächst die thatsächlichen Verhältnisse, die Factoren der Production und die einzelnen beeinflussenden Zustände und Maßregeln, wie Steuern, Zollschutz u. s. w. dargestellt werden und die Frage des Rückganges der Landwirthschaft erörtert wird.

In der Beschäftigung mit den Aufgaben der Armen- und Wohlfahrtspflege trat R. immer deutlicher die Bedeutung der communalpolitischen Thätigkeit hervor, mit der ihn schon von seiner Thätigkeit als Bürgermeister in Königsberg ein lebhaftes praktisches Interesse verbunden hatte. Die Lehre von den Aufgaben und dem Finanzwesen des Staates war mannichfach ausgebaut, während die Lehre von Aufgabe und Finanzwesen der communalen Körperschaften verhältnißmäßig wenig beachtet worden war, eine Thatsache die theils mit der historischen Entwicklung, theils mit den in der Sache selbst liegenden Schwierigkeiten zusammenhängt. Je mehr aber die communale Thätigkeit in den Communalverbänden höherer Ordnung den Provinzen, Kreisen, Bezirken u. s. w., vor allem aber in denen unterer Ordnung, den Gemeinden, an Bedeutung wuchs, je mehr gerade sie ihren selbständigen Aufgabenkreis von der absolutistischen Staatsgewalt des 18. Jahrhunderts zurückgewannen, desto mehr mußte das Bedürfniß empfunden werden, diese Aufgabenkreise der communalen Körper klar zu stellen, sie von denen des Staats und Reichs zu sondern und ihre finanziellen Grundlagen zu erörtern. Dieser Aufgabe unterzog sich R. in seiner zuerst in der 2. Auflage von Schönberg’s Handbuch der politischen Oekonomie erschienenen Abhandlung über „communales Finanzwesen“. Die Arbeit, die dort 1885 erschien, ist dann in erweiterter Gestalt 1891 in der 3. und nach dem Tode Reitzenstein’s 1898 in der 4. Auflage in wesentlich unveränderter Gestalt erschienen; nur ist die Darstellung in Bezug auf die neuere Gesetzgebung, Statistik und Litteratur von Jolly und Truedinger ergänzt worden. Auch hier wieder eine streng systematische aufbauende Darstellung, die die geschichtliche Entwicklung würdigt und überall in den Einzelheiten diesen Zusammenhang aufzuzeigen sich bemüht. Auch hier wieder die vollständige Berücksichtigung der ausländischen Zustände, wobei namentlich England und Frankreich sehr eingehend behandelt werden, aber auch andere Länder wie die gerade für die communale Entwicklung interessante Schweiz und die Vereinigten Staaten von Nordamerika berücksichtigt werden. R. erörtert die Aufgaben, den Bedarf, die Einnahmen und Einnahmequellen der communalen Körper, die Formen der communalen Finanzverwaltung, die Statistik und die Reformbestrebungen und arbeitet, namentlich das System der Einnahmequellen, der Gebühren, der Steuern, der Subventionen und Dotationen sehr deutlich heraus. Hier wie in seiner Arbeit [672] über öffentliche Armenpflege betont er namentlich immer wieder die Bedeutung der Betheiligung der größeren Verbände an den Aufgaben der communalen Körperschaften. Neben der Arbeit im Handbuch hat er einen Theil des Stoffs in einer Reihe von Artikeln behandelt, die 1887/88 in den Schmoller’schen Jahrbüchern unter dem Titel: „Ueber finanzielle Concurrenz von Gemeinden, Communalverbänden und Staat“ erschien. Diese beiden Arbeiten gehören zu dem unverlierbaren Bestande der Finanz- und Verwaltungswissenschaft; R. konnte das Verdienst für sich in Anspruch nehmen, diese Frage zum ersten Male aus dem speciellen Gesichtspunkt des Verhältnisses von Staat und Gemeinde behandelt und für die fernere Behandlung dieses Verhältnisses den Grund gelegt zu haben. Alle seine Arbeitsweise kennzeichnenden Eigenschaften, Gründlichkeit des Wissens, Kenntniß des gesammten Stoffes und sorgfältige Methodik zeichnen diese Arbeiten über das communale Finanzwesen aus. Sie sind es vor allem, die ihm die hohe und wohlverdiente Ehrung einbrachten, von der Tübinger Facultät zum Ehrendoctor der Staatswissenschaften ernannt zu werden.

Die wissenschaftlichen mehr theoretischen Arbeiten ergänzte R. vielfach durch praktische gemeinnützige Thätigkeit. So verdankt ihm die 1882 in Freiburg ins Leben gerufene Arbeitsnachweisanstalt den ersten Anstoß der Entstehung; er hat ihr bis zu seinem Tode als Vorstandsmitglied angehört. Ebenso war er Mitglied des evangelischen Gemeindekirchenraths, des evangelischen Arbeitervereins, des Arbeiterbildungsvereins, des Vereins gegen Haus- und Straßenbettel, der Herberge zur Heimath, des Schutzvereins für entlassene Gefangene u. s. w. In all diesen Thätigkeiten zeigte er seiner ganzen Art gemäß ein lebendiges, warmherziges und wirklich praktisch schöpferisches Interesse und war durch seine reichen Erfahrungen und seinen Rath der Förderung aller dieser Bestrebungen in hohem Grade nützlich.

Der Haupttheil der öffentlichen und wissenschaftlichen Thätigkeit Reitzenstein’s fällt in die Zeit des politischen Aufschwunges des deutschen Reichs und der damit Hand in Hand gehenden socialpolitischen Arbeit. In dieser Zeit ist der Name „Socialpolitiker“ zur Bezeichnung von Leuten entstanden, die praktisch oder theoretisch in hervorragendem Maaße socialpolitisches Denken und Handeln geweckt und gefördert haben. R. hat sich durch ein langes, arbeitsreiches Leben, durch den Adel seiner Gesinnung, durch seine Werkthätigkeit und durch seine wissenschaftlichen Arbeiten den bleibenden Anspruch erworben, zu den hervorragenden „Socialpolitikern“ des neuen deutschen Reichs gezählt zu werden.

Die wichtigsten Schriften Reitzenstein’s sind: „Die Armengesetzgebung Frankreichs in den Grundzügen ihrer historischen Entwicklung“ (in J.-B. f. Ges. u. Verw., Leipzig 1881, Heft II u. IV); „Die ländliche Armenpflege und ihre Reform“ (in Verh. d. D. V. f. A. u. W., Freiburg i. B. 1887); „Arbeiterversicherung, Armenpflege und Armenreform“ (Freiburg i. B. 1895); „L’Assistance des Etrangers en Allemagne“ (in Bulletin de la Soc. internat. pour l’étude des Questions d’Assistance, Paris 1893); „Der Arbeitsnachweis“ (in d. Schriften der Centralst. f. Arb.-Wohlf.-Einr., Berlin 1897); „Agrarische Zustände in Frankreich und England“ (in Schriften d. V. f. Social-Pol., Leipzig 1884); „Das communale Finanzwesen“ (in Handb. d. Pol. Oekonomie, Bd. 3, Tübingen 1898); „Ueber finanzielle Concurrenz von Gemeinden, Communalverbänden und Staat“ (in J.-B. f. Ges. u. Verw., Leipzig 1887, 1888); „Das deutsche Wegerecht in seinen Grundzügen“ (Freiburg i. B. 1890).


[667] *) Zu S. 301.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Wilhelmina Frederika Louise Charlotte Marianne von Oranien-Nassau (1810–1883); war eine geborene Prinzessin der Niederlande und eine geschiedene Prinzessin von Preußen. Sie war eine für ihre Zeit höchst unkonventionell denkende und lebende Frau. Weil sie ihren untreuen Ehemann Prinz Albrecht von Preußen verließ und mit ihrem Lebensgefährten Johannes van Rossum und dem gemeinsamen unehelichen Sohn zusammenlebte, wurde sie aus dem Königreich Preußen verbannt.