ADB:Ancillon, Johann Peter Friedrich

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Artikel „Ancillon, Friedrich“ von Jakob Caro in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 1 (1875), S. 420–424, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Ancillon,_Johann_Peter_Friedrich&oldid=- (Version vom 3. Dezember 2024, 18:09 Uhr UTC)
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Ancillon: Johann Peter Friedrich A., preußischer Staatsmann und staatswissenschaftlicher Gelehrter, wurde zu Berlin 30. April 1767 als Sohn des Oberconsistorialraths Ludwig Friedrich A. geboren, † 1837. Entsprechend dem in seiner Familie herrschenden Geiste, studirte er in Genf Theologie, ohne sich allzu eng auf den Umkreis der theologischen Wissenschaften zu beschränken. Jedenfalls schienen seine historischen Kenntnisse so beachtenswerth, daß man kein Bedenken trug, ihm, als er Prediger der französischen Gemeinde in Berlin geworden war, auch die Stelle eines Professors für Geschichte an der Kriegsakademie anzuvertrauen. Auch mit dem Hofe kam er schon frühzeitig in Berührung, und vermeintlich soll eine Rede, die er 1791 in Gegenwart des Prinzen Heinrich gehalten hatte, diese Beziehung zuerst geknüpft haben. Sie war entscheidend für sein Leben, denn die theologische Richtung wurde fortan immermehr von der politischen, der er sich mit ganzem Eifer zuwandte, zurückgedrängt. Insbesondere vollendeten diese Umwandlung seine Reisen in die Schweiz und nach Frankreich in den Jahren 1793 und 1796, also in einer Epoche, in welcher die größten Umwälzungen des Jahrhunderts auf jenem Boden sich abspielten. Eine Reihe von Essays und Zeitungsartikeln gaben seine Eindrücke wieder (sie erschienen gesammelt als „Mélanges de littérature et de philosophie“, Berlin 1801), die ihn zugleich weiterhin veranlaßten, seine allgemeinen politischen Ueberzeugungen in einem Werke darzulegen, das als eine Art Philosophie der Geschichte anzusehen ist. [421] Es ist das „Tableau des révolutions du système politique de l’Europe“, 1803 (deutsch v. Mann 1804–1806). Es erscheint heute unbegreiflich, wie diese Schriften Aufmerksamkeit erregen konnten, in denen ein süßlicher Optimismus mit salbungsvoller Phrase und Kirchencanzellogik sich zu einem Brei mischen, der allenfalls für das Bedürfniß weichlicher Hofdamenseelen ausreichen mochte. Wahrscheinlich waren es auch wohl Bewunderer dieser Gattung, welche ihn dazu ausersahen, Erzieher der königlichen Prinzen und insbesondere Lehrer des Kronprinzen zu werden. Im J. 1808 bekam er die erste, 1810 die andere wichtige Stelle. Das war nun höchst verhängnißvoll. Denn wie die Natur des Kronprinzen beschaffen war, nervös, sprunghaft, schwungvoll bis ins Nebelhafte, hätte er eines durch imponirende Gesundheit des Geistes und urkräftige Realität sich auszeichnenden Leiters bedurft, und Nichts konnte auf die bis zum Krankhaften gesteigerte Fülle und sensible Empfänglichkeit des hochbegabten Prinzen schlimmer einwirken, als die molluskenhafte Natur Ancillon’s deren ganzes Bindegewebe in einigen schlecht verarbeiteten Brocken Jacobi’scher Philosophie bestand, deren Ehrgeiz blanke Gemüthsglätte, deren Ausdruck eine überfeine Altklugheit und wohlgepflegte Manieren, und deren ganze Tendenz nach dem Vornehmen und Geltenden, auch wenn es nur auf Schein beruhete, gerichtet war. Ein Mann, der aus den furchtbaren Gewittern der französischen Umwälzung, die er mit eigenen Augen in der Nähe gesehen, nichts anderes als den dünnen Qualm politischen Doctrinarismus, wie er in seinem „Tableau“ vorliegt, heimzubringen wußte, wäre in jedem Falle ein bedenklicher Prinzenerzieher gewesen, Friedrich Wilhelm gegenüber war er eine traurige Calamität, und es ist freilich nicht zu messen und zu wägen, wol aber deutlich zu erkennen, wie unsäglich viele Arbeit des preußischen Staats in einer späteren Epoche nothwendig wurde, um die unheilvollen Sprossen zu verwinden, die in jenem fatalen Verhältniß ihren Keim haben. Diplomatische Berichte vernünftiger Männer wissen an A. insbesondere „die sokratische Gelassenheit“ zu preisen, eine Tugend von großem Werth, wenn sie als eine bewußte Bändigung regellos überwallender Kräfte und Triebe sich erweist; aber A. hatte Nichts zu bändigen und zu überwältigen, denn in ihm gährte weder Gluth noch Fluth, und das ganze Verdienst dieser Gleichmüthigkeit der Erscheinung ist zurückzuführen auf die Geringfügigkeit der geistigen Schwingungen in Verbindung mit der Appretur, welche die Erziehungsmethode dieser calvinistischen Réfugiés sich angelegen sein ließ. Gleichwol war diese Tugend Ancillon’s die Staffel, auf der er alle seine Positionen erstieg, und mit der er auch sehr einsichtsvolle Männer zu bestechen wußte. Hardenberg zog ihn 1814 als geheimen Legationsrath in das Ministerium, und die Schrift „Ueber Souveränität und Staatsverfassung“ (1815, 2. Aufl. 1816), in welcher mit so viel Bestimmtheit, als deren A. überhaupt fähig war, dem constitutionellen System im allgemeinen das Wort geredet war, sollte seine Berechtigung als Staatsmann ausweisen. Er war schon früher Mitglied der Akademie geworden, und es scheint, daß man im Ministerium durch A. die belebende und nothwendige Berührung der praktischen Politik mit der Wissenschaft hergestellt und gewahrt zu haben glaubte. Wenn das die Meinung war, dann wurde die Absicht gründlich verfehlt, denn A. gegenüber nehmen sich die seichten, schablonirten Lehren der damaligen Freiheitsschwärmer noch wie gediegene Gelehrsamkeit aus. Er vertrat den Gedanken, daß der Gegensatz des beweglichen und des unbeweglichen Eigenthums „eine sehr natürliche Eintheilung in zwei Stände abgebe“, was er in seinem Buche: „Ueber Staatswissenschaft“ (Berlin 1819) wiederholt, und gründet darauf die Nothwendigkeit einer Reichsvertretung mit dem Unterbau eines communal- und provinzialständischen Systems. Insofern dies im allgemeinen der Gedankengang war, welcher, von Hardenberg ausgehend, alle diejenigen Kreise und Persönlichkeiten [422] des Hofes, die darauf hielten, für liberal zu gelten, beherrschte, kann A. auch nicht einmal daraus ein Verdienst gemacht werden, auch wenn er nicht später in den Gegensatz umgesprungen wäre. Die ebenso wenig tiefe als klare Formulirung dieser in den ersten preußischen Verfassungskämpfen zur Discussion gelangten Frage raubt ihm selbst den Vorzug, den man vielfach an ihm pries, den eines gewandten Redacteurs, und als die Commissionen zum Entwurf einer Verfassung zusammentraten und A. zu denselben herangezogen wurde, da offenbarte sich seine gänzliche Unfähigkeit, denn seine Denkschriften mit ihrer Breite und Kraftlosigkeit blieben doch gar zu sehr hinter den ernsten, von einer wirklichen Meinung getragenen Arbeiten seiner Collegen zurück. Inzwischen ruderte sich der Mann doch immer weiter hinauf in dem Canal der Ehren und Aemter; 1817 wurde er Staatsrath, 1818 Director der politischen Section im Ministerium des Auswärtigen, und die charakterlose Beflissenheit, die milde Umgangsform halfen ihm immer noch die subalterne Einsicht und den geringen Umfang seiner Fähigkeiten zu verdecken. Wenn aber Gneisenau ihn schon in den Napoleon’schen Tagen wegen seiner Fürsprache für die feigsten Entschlüsse im Zorn einen „Hofpfaffen“ schalt, so wurde diese treffende Charakteristik besonders von der Zeit an zur unantastbaren Wahrheit, da der Kronprinz selbst anfing, sich um die Verfassungsfragen zu kümmern und seinen übermäßig geschichtstreuen, romantischen Idealismus zur Geltung zu bringen. Jetzt trat A. plötzlich für eine „rein ständische Verfassung“ in die Schranken, „deren Wesen in der Gliederung der Classen besteht“. Dem gemäß fand er einen Widerspruch in der königlichen Verheißung von Ständen und einer Volksrepräsentation, ja daß das Zweikammersystem dem monarchischen Prinzip und der rein ständischen Verfassung widerspreche, und indem er so sich von Hardenberg immer mehr entfernte, „nistete“ er sich immer mehr in die Gunst des Kronprinzen ein, und wurde schließlich einer der Haupterzeuger jener Mißgeburt von Repräsentation, die als Provinziallandtage fortvegitirten. – An dem großen und unbedingt größten Werke der damaligen preußischen Politik, der Gründung des Zollvereins, hat A. keinen irgendwie hervorragenden Antheil, und obgleich der Minister Bernstorff nicht ohne Ancillon’s Einwirkung berufen worden war, gab dieser ihm doch bald Veranlassung, sich beim Könige darüber zu beklagen, daß er zu wenig beschäftigt werde. Indeß war A. so immer tiefer in feudalistischer Reactionspolitik versunken, daß Bernstorff in der That für die wichtigsten Gegenstände seiner Geschäftsführung den Mann nicht brauchen konnte. Da sich Preußen damals bewußt und principiell die Ehren einer europäischen Großmachtsrolle versagte, da es sich mit einer Stellung begnügte, die allenfalls seinen territorialen Besitz zu wahren geeignet war, so reichte ein Mann wie A. für die auswärtige, d. h. außerdeutsche Politik aus, zumal es sich bei den derzeitigen Constellationen wesentlich darum handelte, der Führung Metternich’s sich zu überlassen. So gewann A. die Muße, neben seinen Amtsgeschäften eine Reihe von Schriften anzufertigen, in denen seine neuen politischen Anschauungen mit seiner früheren durch allerlei Kunstgriffe einer gewundenen Logik ins Gleichgewicht gebracht werden sollten. Die Mittelmäßigkeit übrigens, mit der sich dieser unter Umständen nicht uninteressante Proceß vollzog, ist für A. charakteristisch. Nach einander erschienen „Nouveaux essais de politique et de philosophie“ (Paris 1824) „Ueber Glauben und Wissen in der Philosophie“ (Berlin 1824), „Ueber den Geist der Staatsverfassungen und dessen Einfluß auf die Gesetzgebung“ (Berlin 1825), „Zur Vermittelung der Extreme in den Meinungen“ (Berlin 1828–1831) und endlich „Pensées sur l’homme, ses rapports et ses interets“ (Berlin 1829). Die staatswissenschaftlichen Bücher zählen mit Fug und Recht nunmehr zu den vergessenen, und auf die philosophischen haben schon die Zeitgenossen mit nicht geringerm [423] Recht keinen großen Werth gelegt. Wie aber in allen den wesentlichen Vorgängen und Verhältnissen am preußischen Hofe die öffentliche Meinung völlig unorientirt und verblendet war, so auch in Bezug auf A., den man wegen einiger verlorener Schmähungen auf die Censur und eines gelegentlich hingeworfenen Tadels der Demagogenverfolgungen durchaus des Liberalismus oder wenigstens eines gewissen Liberalismus bezüchtigte. Was diesen Glauben zu widerlegen geeignet war, trat nicht an die Oeffentlichkeit, und so geschah es, daß A. auf dem großen Markt politischer Kannengießerei eine gewisse Popularität genoß, und so wie es ewig denkwürdig bleiben wird, daß man diesem Manne die Leitung der auswärtigen Angelegenheiten nach Bernstorff’s Tode 1832 übertrug, so wird es nicht minder hervorgehoben zu werden verdienen, daß derselbe vom „jungen Deutschland“ als der Hoffnungsstern begrüßt wurde, der eine Zeit der Erlösung und Befreiung beleuchten wird. Daß A. die längst gehoffte freie Repräsentation des Volkes einführen und den Thron mit constitutionellen Formen umgeben werde, schien einen Gutzkow in demselben Augenblick kaum zweifelhaft, als der Minister nach Wien gegangen war, um unter Metternich’s Vorsitz und Inspiration das bekannte Wiener Schlußprotokoll vom 12. Juni 1834 des Wiener Ministercongresses zu entwerfen. Da A. vor Beendigung der Conferenz von Wien abreisen mußte, erbat er sich als besondere Gunst, daß das Schlußprotokoll ihm zur Unterzeichnung nach Berlin nachgesandt werden möchte, weil er einen besonderen Werth darauf legte, seinen Namen mit diesem Actenstücke zu verewigen. Es ist immerhin beachtenswerth, daß dem Verfasser so zahlreicher Schriften über Verfassung und Repräsentation gerade diese politische Vereinbarung, nämlich unter keinen Umständen eine Erweiterung der ständischen Freiheiten irgendwo in Deutschland zuzulassen, von solch monumentalem Werthe war. Die Zeit, da A. die auswärtigen Angelegenheiten leitete, war die Zeit der großen Fürstencongresse, in denen ja die Minister überhaupt eine untergeordnete Rolle spielten, und das Einverständniß der drei Mächte der heiligen Allianz wesentlich auf ein Einverständniß zwischen dem Fürsten Metternich und den Zaren Alexander und Nicolaus hinauslief. Bei aller Zuvorkommenheit und Ehrfurcht, die man Friedrich Wilhelm III. erwies, war Preußen doch in Anbetracht der passiven Rolle, die es sich selbst behufs Durchbildung und Entwickelung seines Staatswesens auferlegte, zu einem gewissen Gehorsam, zu einer scheinbaren Willenlosigkeit verurtheilt, und A. war ganz der Mann dazu, um diesem zwar nothwendigen aber trübseligen Verhältniß ganz zu entsprechen. Metternich’scher Staatsweisheit zu gehorchen, das war, wenn überhaupt eins in Ancillon’s Ministerthätigkeit gefunden werden kann, das Princip, das ihn leitete. Die bewunderungswürdige Offenheit, Rechtlichkeit und die zähe Geduld und Ausdauer, die Preußen damals in den Verhandlungen mit den deutschen Kleinstaaten über den Zollverein an den Tag legte, gingen von dem Finanzministerium aus, und die zeitweilig in den Jahren 1831 bis 1837 vorkommenden Kundgebungen von Festigkeit und unnahbarem Rechtsgefühl in den Beziehungen zu den auswärtigen Mächten tragen so sehr das individuelle Gepräge Friedrich Wilhelms, daß auch hiervon seinem Minister kein Ruhmesantheil abfällt. Hart aber nicht unbegründet ist Varnhagen’s Urtheil, daß „er nicht Eigenthümliches geleistet, noch irgend gewollt habe, und sein Name in den Staatsgeschäften so wenig wie in der Litteratur sei“. Daß ihn der König selbst aber nach seinem am 19. April 1837 erfolgten Tode für „unersetzlich“ erklärt haben soll, kann mehr der Güte und Dankbarkeit des Monarchen als der Trefflichkeit des Ministers zum Zeugniß dienen. – Sein ganzes Leben hindurch hat A. für die Zeitungen geschrieben, und hier liegen vielleicht die anerkennungswerthesten Verdienste des Mannes vor, denn ein Stück Journalistennatur spiegelt sich auch seinen größeren Schriften [424] ab. Dem Könige diente er viele Jahre hindurch als Referent über Zeitungen und politische Litteratur. Auf die Ideen des Kronprinzen ging er immer und überall mit einer bis ans Unwürdige streitenden Beflissenheit ein, und indem er für die Bildung der Majorate mit allen seinen Kräften und Künsten wirkte, glaubte er sich den hohen Adel zu verbinden. Dieser aber haßte ihn nicht weniger als die großen Zeitgenossen Hegel, Schleiermacher, Humboldt u. A., wenn auch aus verschiedenen Gründen. – Sein Briefwechsel ist nach seinem Willen verbrannt worden. Der beste Theil daran sollen die Briefe aus Frankreich an seine Frau während der Revolution gewesen sein. Er war drei Mal verheirathet, und hinterließ keine Kinder. Er war der letzte Sproß der nach Preußen eingewanderten Familie.

Das Material zu seiner Biographie ist sehr zerstreut: Varnhagen, Blätter aus der preußischen Geschichte, passim, und Tagebücher Bd. I, insbesondere S. 31 gegenüber den lächerlichen Hudeleien in dem Nekrolog der Staatszeitung vom 18. Juni 1837. Sehr treffende Charakteristik bei Treitschke, Preuß. Jahrbücher v. April 1872. Würdigung der Schriften bei Mohl, Gesch. u. Litt. d. Staatswissensch. I, und Kaltenborn, Gesch. d. deutsch. Bundesverhältnisse I.