ADB:Richthofen, Karl Theresius Freiherr von

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Artikel „Richthofen, Karl Otto Johannes Theresius Freiherr von“ von Conrad Borchling in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 53 (1907), S. 346–353, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Richthofen,_Karl_Theresius_Freiherr_von&oldid=- (Version vom 5. Oktober 2024, 03:33 Uhr UTC)
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Richthofen: Karl Otto Johannes Theresius Freiherr von R., bedeutender Rechtshistoriker, wurde am 30. Mai 1811 zu Damsdorf in Niederschlesien geboren und wuchs im väterlichen Hause zu Brechelshof (Kr. Jauer) auf. Nachdem er die Prima der Ritterakademie zu Liegnitz absolvirt hatte, begann er das Studium der Jurisprudenz auf der Landesuniversität Breslau, wo ihn Unterholzner besonders anzog. In Berlin schloß er sich sehr bald, durch Savigny und Eichhorn gewonnen, der rechtshistorischen Schule an, und Eichhorn’s Vorlesungen über deutsches Staatsrecht gaben der wissenschaftlichen Entwicklung des jungen Mannes die entscheidende Richtung. Schon ganz erfüllt von dem großen Plane einer gründlichen Erforschung der altfriesischen Rechtsgeschichte, eilte R. nach Göttingen, um unter dem Altmeister der germanischen Philologie, unter Jakob Grimm, die friesische Sprache zu studiren und sich eine gründliche philologische Ausbildung zu erwerben, die ihm für die Durchführung seiner Arbeiten unerläßlich schien. Auf den Rath Jakob Grimm’s unternahm er im Sommer 1834 von Göttingen aus eine Studienreise durch die niedersächsischen und friesischen Bibliotheken und Archive, um sich nach unbekannten Handschriften friesischer Rechtsquellen umzusehen. Er berührte auf dieser Reise Wolfenbüttel, Hannover, Hamburg, Bremen, Oldenburg, Aurich, Emden, Groningen, Leeuwarden und Leiden, wurde besonders liebenswürdig in Groningen aufgenommen, erfuhr dafür aber einen unerwarteten Widerstand in Leeuwarden. Die Ausbeute der Reise war so groß, daß sich R. zu einer Gesammtausgabe der altfriesischen Rechtsquellen entschloß, die im J. 1840 in [347] zwei Bänden (Bd. 1, Friesische Rechtsquellen [Texte], Berlin 1840; Bd. 2, Altfriesisches Wörterbuch, Göttingen 1840) erschien und R. mit einem Sch1age einen angesehenen Namen unter den Rechtshistorikern sowohl als unter den altdeutschen Philologen verschaffte. Am 8. Juli 1840 wurde R. in Halle zum Dr. juris promovirt, und im Sommer 1841 habilitirte er sich als Privatdocent in der juristischen Facultät der Berliner Universität. In fast 20jähriger Lehrthätigkeit hat R. hier die germanistischen Fächer und das deutsche Staatsrecht vertreten. Er wurde sehr bald zum außerordentlichen Professor ernannt und am 16. October 1860 bei Gelegenheit des Berliner Universitätsjubiläums von der philosophischen Facultät der Universität Berlin durch die Verleihung des Dr. phil. honoris causa geehrt. Er wird als ein anregender Lehrer geschildert, und er widmete sich seinen Vorlesungen und sonstigen akademischen Pflichten mit solcher Hingebung, daß ihm schließlich der Fortgang seiner eigenen wissenschaftlichen Arbeiten darunter zu leiden schien. Deshalb entschloß er sich im J. 1860, seine Professur niederzulegen, um von nun an ausschließlich wissenschaftlicher Beschäftigung leben zu können. Er zog sich nach Damsdorf zurück und kam nur den Winter über regelmäßig auf längere Zeit nach Berlin. Als Gutsherr auf Damsdorf beschäftigte er sich daneben intensiv mit praktischer Landwirthschaft und blieb auch dem politischen Leben nicht fern: nachdem er bereits 1850–1852 dem Erfurter Parlament angehört hatte, wählte ihn 1861 sein Heimathskreis zu seinem Vertreter im preußischen Abgeordnetenhause.

Im September 1867 überfiel ihn, während er zu einer Brunnencur in Ems weilte, plötzlich ein schweres Augenleiden, das ihm für längere Zeit jede wissenschaftliche Bethätigung unmöglich machte und ihn bis an sein Lebensende des freien Gebrauchs seiner Augen beraubte. Doch mit seltener Energie wußte er des körperlichen Leidens Herr zu werden, und unterstützt durch einen Amanuensis, der ihm vorlas und dem er dictirte, nahm er bald die gelehrte Arbeit wieder auf und blieb ihr mit rastloser, immer nur tiefer dringender Liebe getreu. Die 1870er Jahre waren für ihn eine Zeit der Sammlung und des Sammelns. Sein langes Schweigen in Verbindung mit der Nachricht von seiner schweren Erkrankung hatten in der gelehrten Welt gegen Ende der 70er Jahre die irrige Meinung aufkommen lassen, R. sei längst gestorben. Da überraschte er 1880 die Welt durch den ersten Band seiner fundamentalen „Untersuchungen zur friesischen Rechtsgeschichte“, dem dann in rascher Folge die übrigen Bände und eine verwandte Arbeit folgten. Mitten aus dieser Periode erneuten Schaffens riß den 77jährigen nach nur 14tägiger Krankheit am 6. März 1888 der Tod.

In seinen „Untersuchungen“ ist R. zu demjenigen Problem zurückgekehrt, das ihn zuerst auf die altfriesischen Studien geführt hatte: die Frage nach der Entstehung und der Entwicklung der Landeshoheit in Friesland hat ihn Zeit seines Lebens wohl am stärksten und innerlichsten interessiert. Aber der Weg von den ersten durch Eichhorn’s Vorlesungen angeregten Jugendplänen bis zu den reifen Untersuchungen über Upstalsbom, Freiheit und Grafen in Friesland ist recht weit und nicht geradlinig gewesen. Es liegt das an der Eigenart von Richthofen’s Begabung und Arbeitsweise. Er besaß den klaren Blick des Juristen, wenn es galt, eine neue Aufgabe erschöpfend zu disponiren und nach allen Seiten hin abzugrenzen; ja, er muß eine besondere Freude an solchem Plänemachen gehabt haben. Trat er dann aber in die Einzelarbeit ein, so ging ihm die Arbeit nicht so glatt von der Hand. Eine echt philologische Akribie, eine Andacht zum Kleinen, wie er sie mit seinem Lehrer Jakob Grimm theilte, ließ ihn fast zu ängstlich bei jeder Nebensache verweilen, um auch hier auf den Grund zu gelangen. So sind alle seine [348] Arbeiten äußerst solide, wohl fundamentirte Leistungen, die ihren Stoff erschöpfen; aber sie gehen leicht etwas zu sehr in die Breite, anstatt energisch aufs Ziel loszusteuern. Mit zunehmendem Alter wurde diese vorsichtige, und dabei doch wieder behagliche Art immer ausgeprägter; die Ausgabe der friesischen Rechtsquellen hat am wenigsten darunter gelitten; die Untersuchungen zur friesischen Rechtsgeschichte werden geradezu durch den Altersstil charakterisirt. Wie ganz anders würde wohl die Friesische Rechtsgeschichte ausgesehen haben, wenn R. sie im ersten frischen Anlauf zugleich mit den Rechtsquellen zum Abschluß gebracht hätte!

Es war dies durchaus seine Absicht gewesen; das specielle Thema von der Freiheit der Friesen und der Landeshoheit in Friesland hatte sich dem jungen R. sehr bald zu dem Plane einer allgemeinen friesischen Rechtsgeschichte erweitert, die das gesammte ältere friesische Stammesrecht von der karolingischen Epoche bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts nacheinander in den vier großen, durch das vorhandene Quellenmaterial gegebenen Zeitabschnitten darstellen sollte. Wir haben eine ausführliche Entwicklung dieses Planes von R. selbst im Vorwort zu Band 1 der „Untersuchungen“. Es kam ihm vor allem darauf an, den ganzen Schutt der Jahrhunderte, den eine reiche sagenhafte Tradition und die willkürliche Construction der späteren friesischen Geschichtschreiber, besonders des berühmten und viel ausgeschriebenen Ubbo Emmius, über den echten Quellen der altfriesischen Staats- und Gerichtsverfassung aufgethürmt hatte, gründlich fortzuräumen und „aus echten Werkstücken einen neuen Bau aufzuführen“. Dazu war aber vor allem nöthig, erst einmal das authentische Quellenmaterial aus den Archiven und den ungenügenden älteren Ausgaben hervorzuziehen und es einer systematischen Sichtung zu unterwerfen. So entstand, als Vorarbeit für die größere Aufgabe, 1840 die Ausgabe der „Friesischen Rechtsquellen“. Sie ist wohl die abgerundetste Leistung Richthofen’s, ein völlig selbständiges, äußerst sorgfältig gearbeitetes Werk von ungemeiner Frische der Conception, noch heute die grundlegende Ausgabe der Rechtsquellen in altfriesischer Sprache. Hatte es bis dahin immer schon für eine große That gegolten, wenn ein einheimischer Gelehrter einmal ein einzelnes altfriesisches Rechtsdenkmal publicirte, so brachte nun Richthofen’s Band 1 gleich die vollständige Sammlung sämmtlicher damals erreichbarer älterer Rechtsquellen aus den verschiedenen Theilen Frieslands; selbst die nordfriesischen Rechte, die Professor Michelsen in Kiel beigesteuert hatte, fehlten nicht. Sauber geordnet, in gereinigter Textgestalt, mit dem Variantenapparat am Fuße jeder Seite, bietet sich hier der ganze Reichthum der altfriesischen Rechtslitteratur dem Forscher und dem Laien dar. Die Anordnung des Bandes mit ihrer strengen Scheidung der allgemein-friesischen Rechtsquellen des 12. Jahrhunderts von den jüngeren Rechten der einzelnen Landschaften und mit ihrer mustergültigen Gruppirung der mannichfaltigen Paralleltexte ist an sich schon ein wissenschaftliches Verdienst; ein vergleichendes Studium der altfriesischen Texte ist erst seit Richthofen’s Ausgabe überhaupt möglich geworden. Richthofen’s Lesung der handschriftlichen Texte ist an manchen Stellen nicht ganz einwandsfrei; aber die Zahl dieser Versehen ist nicht eben groß und verschwindet vollkommen, wenn man daneben die Legion von Lesefehlern bei seinem Vorgänger Wiarda (Asegabuch, Berlin 1805; Willküren der Broeckmänner, Berlin 1820) und die zahlreichen Schnitzer seines niederländischen Concurrenten M. de Haan-Hettema vergleicht. Freilich mußte R. den von Hettema herausgegebenen Text der damals in Leeuwarden befindlichen dritten Emsiger Handschrift (Het Emsiger Landrecht, Leeuwarden 1830) in seinen Rechtsquellen nachdrucken, aber er hat dann doch oft genug auf offenkundige Lesefehler des ihm vorliegenden Druckes hingewiesen. Hettema [349] war es auch, der ihm 1834 bei seinem Aufenthalt in Leeuwarden die übrigen, damals im Besitze des Procureur criminel Petrus Wierdsma befindlichen altfriesischen Handschriften vorzuenthalten suchte, da er selber eine Ausgabe der friesischen Rechtsquellen vorbereitete. So hat R. die beiden alten Hunsingoer Codices mit der wichtigen lateinischen Fassung der gemeinfriesischen Rechtsquellen, dem sogenannten „Vetus Jus Frisicum“, nur während des Zeitraumes einer einzigen Nacht benutzen können, die sogenannte Fivelgoer Handschrift aber überhaupt nicht in die Hände bekommen und auch die wichtige Westergoer Handschrift Wierdsmas, das sogenannte Jus municipale Frisionum, eine selbstständige Handschrift des in einem alten Incunabeldrucke von ca. 1470 überlieferten Westerlaurerschen Landrechts, nicht gebührend heranziehen können. Für die Rechtsquellen Richthofen’s ist besonders das Fehlen der Fivelgoer Ueberlieferung eine störende Lücke, die auch Hettema’s Abdruck der Handschrift (Het Fivelingoer en Oldampster Landregt, Dockum 1841) nicht gebührend auszufüllen vermag. Vergeblich hatte R. sechs Jahre lang auf das Erscheinen von Hettema’s Ausgabe gewartet, um wenigstens nach ihr den fehlenden Text nachtragen zu können. Als dann im J. 1858 Wierdsma in Leeuwarden starb, erwarb R. seine sämmtlichen altfriesischen Handschriften und hat sie so wenigstens für seine späteren Arbeiten im Original einsehen können. Sieht man von dem Fehlen der Fivelgoer Sammlung ab, so sind die altostfriesischen Rechtsquellen bei R. auch heute noch durchaus brauchbar. Weniger gilt dies von den allerdings viel jüngeren westfriesischen Quellen, bei denen jetzt nicht nur für das Jus municipale Frisionum die Ausgabe Hettema’s (Oude Friesche Wetten II, 1; Leeuwarden 1847) herangezogen werden muß, sondern wo zugleich durch die neuen Funde von Theodor Sieb’s Bruchstücke einer noch älteren westfriesischen Handschrift, des von Siebs sogenannten Codex Unia, bekannt geworden sind, deren vollständige Mittheilung noch nicht erfolgt ist.

Band 2 von Richthofen’s „Friesischen Rechtsquellen“ enthält das Altfriesische Wörterbuch, für seine Zeit wohl eine noch großartigere Leistung als der Textband. Zu einer Zeit, wo die Laut- und Formenlehre des Friesischen von der historischen Grammatik überhaupt noch nicht behandelt worden war, wagte es dieser Rechtshistoriker, ein altfriesisches Glossar aufzustellen, das der sprachlichen Seite volle Aufmerksamkeit schenkte. Mit scharfem Auge hatte R. erkannt, daß gerade wie das altfriesische Recht, so auch die altfriesische Sprache gewissermaßen die Brücke von den continentalen Germanen zu den Angelsachsen und den nordischen Stammverwandten bildet. So wird in Richthofen’s Altfriesischem Wörterbuch von vornherein der richtige Nachdruck auf die zahlreichen altenglischen und die nicht ganz so häufigen altnordischen Entsprechungen gelegt. Das sollte der moderne Germanist, der dem Altfriesischen Wörterbuch immer nur seine absolute Rückständigkeit in allen Fragen der neueren Lautlehre vorwirft, doch bedenken! Aber das Altfriesische Wörterbuch ist nicht nur ein Glossar; es ist auch ein sehr werthvolles Sachwörterbuch zu den altfriesischen Rechten, und hier ist es keineswegs veraltet, sondern noch heute eine unerschöpfliche Fundgrube und ein unentbehrlicher Schlüssel für das Verständniß der altfriesischen Texte.

Mit froher Erwartung mußte ein jeder Freund des germanischen Alterthums die in der Vorrede der Friesischen Rechtsquellen angekündigte friesische Rechtsgeschichte des Autors begrüßen. Wie weit der Entwurf dieser Rechtsgeschichte beim Abschluß der Rechtsquellen (1840) bereits gediehen war, können wir nicht genau erkennen. Wenn aber R. dort in der Vorrede gesagt hatte, es sei seine ursprüngliche Absicht gewesen, beide Werke gleich vereint dem Publicum vorzulegen, und nur auf den Wunsch des Verlegers habe er davon [350] Abstand genommen, so ist daraus nicht zu schließen, daß nun auch der Entwurf der friesischen Rechtsgeschichte bereits fix und fertig vorgelegen hätte. Im Gegentheil erfahren wir aus dem oben schon einmal citirten Vorworte der „Untersuchungen“, daß R. überhaupt niemals über die Darstellung des 12. Jahrhunderts hinausgelangt ist. Je älter er wurde, je mehr der jugendliche Wagemuth einer vorsichtig abwägenden Methode Platz machte, desto weniger genügte ihm die gewählte Form der Darstellung, desto unzuverlässiger erschien ihm das ganze Gebäude, das er dort aufführen wollte, in all seinen Fundamenten. Die Mittheilungen der Rechtsquellen geben ja besonders für die älteren Perioden nur ein ziemlich verworrenes, unklares Bild des gesammten friesischen Staats- und Rechtslebens und seiner einzelnen Institute. Man wird also genöthigt sein, da auch die sonstige historische Ueberlieferung zunächst recht dürftig ist, die jüngeren Rechtsquellen und die Nachrichten späterer Perioden zur Aufhellung der älteren Verhältnisse mit heranzuziehen. Mit anderen Worten, an die Stelle der vier Querschnitte, wie sie R. in seinem Entwurf der friesischen Rechtsgeschichte geplant hatte, tritt jetzt eine ganze Anzahl von Längsschnitten, indem der Forscher nun der Reihe nach einzelne Rechtsinstitute in ihrer Gesammtentwicklung durch das ganze friesische Recht aller vier Perioden hindurch verfolgt. Das ist die neue Methode, die R. nachher in seinen „Untersuchungen“ eingeschlagen hat, und mit der er nun so entscheidenden Fragen, wie der Einführung fränkischer Staatseinrichtungen in Friesland, ihrem Fortbestehen oder ihrer Umbildung, auf den Leib rückt.

Doch erst ganz allmählich ringt sich R. zu dieser neuen Methode durch. Vorläufig läßt er die Dinge ganz ruhen und begrüßt mit Freuden das Anerbieten der Monumenta Germaniae Historica, für die Bände der Leges das ältere lateinische Volksrecht der Friesen, die Lex Frisionum und im Anschluß daran auch die Lex Saxonum zu bearbeiten. Die Lex Frisionum hatte R. bereits einmal herausgegeben, vorn in den Friesischen Rechtsquellen, wo er auch den Nachweis erbrachte, daß alle älteren Texte des Gesetzes auf den einzigen Druck bei Herold zurückgehen. Die neue, verbesserte Ausgabe in den Monumenten, deren Vorrede von 1862 datirt, ist durch reiche commentirende Anmerkungen und eine längere Einleitung vermehrt. Diese Einleitung gibt in ihrer breitangelegten topographischen Beschreibung der drei Theile Frieslands einen Vorgeschmack von den unendlichen topographischen Aufzählungen des 2. und 3. Bandes der „Untersuchungen“; außerdem enthält sie aber die sehr wichtige Erörterung über den Ursprung und die Zusammensetzung der Lex Frisionum. R. zerlegt sie in drei Theile, die nacheinander von den fränkischen Königen für die unterworfenen Friesen erlassen worden seien, der älteste bereits 734 für Mittelfriesland, der mittlere für Ostfriesland 785 und der letzte, die sogenannte Additio sapientum, 802 auf dem Reichstage zu Aachen. Diese Aufstellungen Richthofen’s haben sich nicht durchzusetzen vermocht; man hält heute die Lex Frisionum für eine Privatarbeit, die praktischen Zwecken dienen wollte und dazu alles sammelte, was ihr an friesischen Rechtssätzen begegnete, mochten das nun Theile königlicher Erlasse oder gewohnheitsrechtliche Sätze sein. Eine ähnliche Untersuchung über die Zusammensetzung der Lex Saxonum wuchs sich R. unter der Hand zu einem umfangreichen Buche aus, das 1868 mit dem Titel „Zur Lex Saxonum“ zugleich mit der Ausgabe der Lex im 5. Bande der Leges erschien.

Bei dem Drucke dieses Buches überraschte ihn die schwere Augenerkrankung, die ihm alle fernere Editionsthätigkeit versagte. So kehrte er jetzt mit der Resignation des Alternden zu den Plänen seiner jungen Jahre zurück. Der Entwurf der friesischen Rechtsgeschichte wurde definitiv aufgelöst in eine [351] Reihe von Einzeluntersuchungen, deren erste und einzig zur Ausführung gelangte wohl nicht ohne Grund zu dem Problem der friesischen Landeshoheit zurückkehrte, von dem einst der Jüngling ausgegangen war. Es ist unmöglich, mit ein paar Worten den überreichen Inhalt zu charakterisiren, der sich unter dem Titel „Upstalsbom, Freiheit und Grafen in Friesland“ verbirgt. Da haben wir zunächst mehrere sehr wichtige Ergänzungen zu Richthofen’s Ausgabe der „Friesischen Rechtsquellen“ zu verzeichnen, neue nach den jetzt in Richthofen’s eigenen Besitz übergegangenen Handschriften revidirte Abdrücke des Vetus jus Frisicum, der Ueberküren und der Leges Upstallsbomicae von 1323, sämmtlich unter den Zeugnissen für den Upstallsbom (Cap. II der Abhandlung). Auch über Entstehungszeit und Handschriften der übrigen allgemeinfriesischen Rechtsquellen bringt dieses Capitel die werthvollsten Aufschlüsse. Die halb priesterliche, grauem Heidenthum entstammende Function des altfriesischen Asega, wie sie sich R. vorstellt, gibt ihm Veranlassung, eine ausführliche Darstellung der Einführung des Christenthums in Friesland mit allen urkundlichen Quellenbelegen einzuflechten, und eben diese rein historische Darstellung ist wiederum nur die Einleitung zu dem am weitesten ausgeführten Theile des Werkes, der Beschreibung der kirchlichen Eintheilung Frieslands im Mittelalter (Cap. VI), in der R. nun völlig zum Territorialhistoriker wird. Und mitten in der unabsehbaren Reihe dieser aus der gesammten historischen Ueberlieferung Frieslands mit immensem Fleiß und absoluter Zuverlässigkeit zusammengetragenen Ortsbeschreibungen plötzlich wieder ein ganz andersartiges Stück, die Abhandlung über die weltlichen Decane im münsterschen Ostfriesland (§ 16), einer der allerwichtigsten Abschnitte des ganzes Werkes, denn hier behandelt R. zusammenfassend die Frage nach dem erblichen Adel in Friesland. So ist es denn kein Wunder, wenn R. am Ende von Bd. 31, mit dem das Werk jetzt leider abbricht, erst bis an den Anfang des siebenten der dreizehn in der Anfangsdisposition in Aussicht gestellten Capitel gelangt ist; gerade da, wo nun die ausführliche Darstellung der ostfriesischen Grafschaftsverfassung einsetzen sollte, entsank dem fleißigen Manne die Feder für immer. Die allein abgeschlossenen ersten sechs Capitel des ursprünglichen Planes sind im weitesten Sinne wiederum nur Vorarbeiten für diesen nicht mehr zur Ausführung gelangten Kern der Arbeit; sie räumen der Reihe nach mit den einzelnen Vorstellungen auf, die sich die unkritische ältere Geschichtschreibung über die friesische Freiheit gebildet hatte, sind also wesentlich kritischer Natur, und ihr positiver Ertrag ruht vor allem in den von R. mit soviel Vorliebe eingefügten Excursen und Seitensprüngen versteckt. Den Hauptschlag gegen die ältere Darstellung der altfriesischen Staats- und Gerichtsverfassung führt er in den beiden Abschnitten über den Upstallsbom (Cap. II und III), wo er den jedem Friesen lieb gewordenen Nimbus, den Emmius’ begeisterte Schilderung um die altehrwürdige Stätte gelegt hatte, mitleidslos zerstörte. Die Geschichte dieses zeitlich engumgrenzten Instituts der altfriesischen Vergangenheit darf hinfort nicht mehr für den Erweis einer uralten persönlichen Freiheit aller Friesen angezogen werden. Die mit den Versammlungen am Upstallsbom gleichzeitigen allgemeinfriesischen Rechtsquellen des 12. Jahrhunderts ergeben vielmehr mit absoluter Sicherheit, daß die fränkische Grafschaftsverfassung auch damals noch in Friesland uneingeschränkt herrschte. Die Versammlungen am Upstallsbom sind also einfache Landfriedensversammlungen gewesen, die allgemeinfriesischen Küren und Landrechte dem gleichen Bedürfnisse entsprungen und darum wahrscheinlich am Upstallsbom selbst vereinbart oder wenigstens recipirt. Wie weit die vielgenannten „sieben friesischen Seelande“, aus denen sich der alte friesische Bund zusammengesetzt haben sollte, auf wirkliche politische [352] Verhältnisse zurückgehen, untersucht das nächste Capitel. R. geht hier sehr radical vor; er faßt die Bezeichnung „Seeland“ als einen rein geographischen Begriff und verweist die Siebenzahl ebensogut wie alle an die sieben Seelande geknüpften rechtlichen Beziehungen einfach ins Reich der Fabel. Hier wird eine erneute Durchforschung des ältesten Quellenmaterials doch vielleicht zu weniger entschiedenen Resultaten gelangen; die Möglichkeit alter politischer und rechtlicher Bedeutung der friesischen Seelande bleibt bestehen. Leichteres Spiel hatte R. bei den verschiedenen Privilegien der friesischen Freiheit, die naive historische Fälschung Karl dem Großen, Wilhelm von Holland und Rudolf von Habsburg zugeschrieben hatte. Hier hatte bereits Emmius die Unechtheit erkannt; R. weist nun in scharfsinnigen Auseinandersetzungen Entstehungszeit und Zweck jeder einzelnen dieser Fälschungen nach (Cap. V). Der ganze Rest des Werkes (von Bd. 2, S. 348 ab, also etwas mehr als die Hälfte des Ganzen!) ist dann der Beschreibung der kirchlichen Eintheilung des mittelalterlichen Frieslands gewidmet, die ich oben schon charakterisirt habe. Es ist R. besonders darum zu thun, die von Ledebur in seinem Buche „Die fünf Münsterschen Gaue und die sieben Seelande Frieslands“ (Berlin 1836) vorgetragene Verquickung der späteren Decanatsgrenzen mit den alten Gaugrenzen zurückzuweisen und die principielle Verschiedenheit dieser beiden Grenzen zu erhärten. Ebensowenig wie aus der späteren Grafschaftseintheilung darf man also aus den Grenzen der kirchlichen Decanate die alte Gaueintheilung des Landes reconstruiren. Um dieses methodischen Grundsatzes willen hatte R. ursprünglich dies Capitel VI allein eingeschaltet; aber die überaus reich fließende Ueberlieferung der altfriesischen Decanatsregister ist zugleich die einzige Quelle der älteren friesischen Topographie überhaupt, und so hat R. es sich nicht versagen können, auf die Einzelheiten der Topographie Frieslands selbst einzugehen und sie mit Hülfe der gesammten historischen Ueberlieferung zu controlliren und zu befestigen. Damit hat er denn aber den Rahmen seines Buches völlig gesprengt. Mit dem ersten Abschnitte des dritten Bandes trat R. dann endlich seiner eigentlichen Aufgabe wieder näher: an dem Beispiele des alten Gaues Kinnem (des späteren Kennemerlandes), für den die reiche historische Ueberlieferung des in ihm liegenden Klosters Egmont besonders gute Auskunft gibt, wollte er das allmähliche Aufkommen der landesherrlichen Gewalt, wie sie sich aus der Grafenstellung entwickelte, klarlegen. Aber auch dieser Abschnitt des Werkes ist mehr eine selbständige, in sich abgeschlossene historische Topographie des Kennemerlandes geworden, und es ist bezeichnend, daß R. gleichzeitig die älteren Egmonter Geschichtsque1len in einer besonderen Publication edirte und kritisch untersuchte.

Fehlt so auch den „Untersuchungen“ Richthofen’s die ausführliche Darstellung der friesischen Grafschaftsverfassung, ihres Aufkommens und ihres Vergehens in den Umwälzungen des 13. Jahrhunderts, so hat R. doch mit den leitenden Grundgedanken, die er sich über diese Dinge gebildet hatte, nirgends zurückgehalten. Sie finden sich an vielen einzelnen Stellen des weitschichtigen Werkes ausgesprochen, und sie sind in prägnanter Kürze in § 2 der Einleitung gleichsam programmatisch dem Ganzen vorangestellt, zugleich in wirksamem Contrast zu der im § 1 gleichfalls kurz zusammengefaßten Darstellung des Emmius. Diese ältere Auffassung der altfriesischen Staats- und Gerichtsverfassung ist durch Richthofen’s Werk endgültig aus der Welt geschafft worden. Auch Richthofen’s Ausführungen über den Charakter der Versammlungen am Upstallsbom sind allgemein acceptirt worden; an anderen Stellen ist dagegen von rechtshistorischer Seite ein entschiedener Einspruch gegen Richthofen’s Aufstellungen erhoben worden. Abgesehen von der abweichenden [353] zeitlichen Anordnung der allgemeinfriesischen Rechtsquellen des 12. Jahrhunderts, die Ph. Heck vorgeschlagen hat, richtet sich die Opposition, die in erster Linie auch hier von Heck ausgeht, gegen zwei Punkte: einmal gegen die von R. verfochtene ständische Gliederung der Friesen in die vier Classen der Edelinge, Freien, Liten und Hörigen. Hier leugnet Heck das Vorhandensein eines altfriesischen Geburtsadels vor der Häuptlingszeit des 14./15. Jahrhunderts, indem er die Nobiles der Lex Frisionum als die Gemeinfreien, die Liberi als die Minderfreien (Frilinge) auffaßt; wie er denn die gleiche Auffassung für die Nobiles und Liberi der Lex Saxonum und der Lex Thuringorum vertritt. Zum anderen verwirft Heck den Bruch in der altfriesischen Gerichtsverfassung, den nach Richthofen’s Auffassung im Beginne des 13. Jahrhunderts das Auftreten der Consules und Redjeven bezeichnet. Die vermeintliche Umgestaltung der Gerichtsverfassung enthüllt sich nach Heck als eine bloße Veränderung des Sprachgebrauchs, der die Quellen des 13. Jahrhunderts charakterisire; die Verfassung selbst sei vorher und nachher dieselbe gewesen. Eine Friesland eigenthümliche ältere Asega–Verfassung, wie sie R. entwirft, sei niemals vorhanden gewesen, vielmehr habe wie die Grafschaftsverfassung, so auch die Gerichtsverfassung Frieslands seit der fränkischen Eroberung von vornherein eine rein fränkische Form gehabt. Sind diese Ausführungen Heck’s richtig, so würden wir damit allerdings einen wesentlichen Schritt über die von R. begründete Auffassung der altfriesischen Rechtsgeschichte hinauskommen. Allein soweit R. selbst das Material für diese Frage in seinen „Untersuchungen“ zusammengestellt hat, lassen sich doch daraus erhebliche Bedenken gegen Heck’s Hypothesen ableiten, und die Mehrzahl der modernen deutschen Rechtshistoriker verhält sich deshalb bislang noch ablehnend dagegen. Aber auch Heck erklärt in seiner Vorrede ausdrücklich, daß er, ungeachtet seiner Gegnerschaft in wichtigen Fragen, doch die Größe von Richthofen’s Verdiensten um die friesische Rechtsgeschichte voll anerkenne, wie denn auch seine eigene Untersuchung ohne Richthofen’s Vorarbeiten kaum möglich gewesen wäre. Die wenig übersichtliche, durch kein Sachregister erhellte Form der Darstellung, mit ihren breiten Excursen, ihren häufigen Wiederholungen und dem unbeschränkten Ausschütten des urkundlichen Belegmaterials, macht allerdings die Lectüre von Richthofen’s „Untersuchungen“ nicht leicht; aber dem eindringenden Studium erschließt sich gerade in diesen Bänden die Eigenart Richthofen’s am besten, und man bekommt einen Begriff davon, welch eine „unübersehbare Summe lebendigen Wissens über friesisches Recht dieser Mann besaß, die in seinen Werken nur theilweise ihren litterarischen Niederschlag gefunden hat“ (Brunner).

Von kleineren litterarischen Arbeiten Richthofen’s nenne ich hier endlich ganz kurz: eine Besprechung von H. Müller, Der Lex Salica und der Lex Angliorum et Werinorum Alter und Heimath, in Richter’s und Schneider’s Krit. Jahrbuch X (1841); den Artikel „Friesen“ in Bluntschlis’ und Brater’s Deutschem Staatswörterbuch IV (1858), 1 ff.; ebd. den Nekrolog über Eichhorn III (1858), 237 ff. Ganz für sich stehen endlich die Abhandlung „Ueber die singulären Erbrechte an schlesischen Rittergütern“ (Breslau 1844), und die von R. besorgte und mit erheblichen eigenen Zusätzen versehene Ausgabe von K. Gustav Kries, „Die englische Armenpflege“ (Berlin 1863).

Das biographische Material, soweit es sich nicht aus den Werken selbst ergibt, ist ausschließlich H. Brunner’s ausgezeichnetem Nekrolog (Zeitschr. der Savigny-Stiftung f. Rechtsgesch., Bd. 9, German. Abth. S. 247) entnommen.