ADB:Pistorius, Johannes (Humanist)

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Artikel „Pistorius, Johann der Jüngere“ von Wilhelm Gaß in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 26 (1888), S. 199–201, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Pistorius,_Johannes_(Humanist)&oldid=- (Version vom 16. April 2024, 14:29 Uhr UTC)
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Pistorius: Johann P. der Jüngere, geb. am 4. Februar 1546 zu Nidda, daher Niddanus, wie er sich selbst unterschreibt, warf sich frühzeitig auf theologische Studien, aber schon mit 18 Jahren zugleich auf Medicin und Kabbala und Jurisprudenz, wurde Doctor der Medicin und praktischer Arzt, so daß er sich rühmen konnte „alle drei Studien durch göttliche Gnade mit einander für sich geübt zu haben“. Entscheidend für seine Zukunft war die Uebersiedelung nach Baden. Karl II., der Reformator dieses Landes, machte ihn zum Hofarzt, zog ihn aber auch in theologischen Verhandlungen zu Rathe; unter Karl’s Söhnen wurde er seiner medicinischen Dienstleistung entbunden und zum mehrseitigen Consiliarius gemacht. Die gleichzeitigen dogmatischen Händel, zumal die ubiquetistischen, scheinen ihm anstößig geworden zu sein, obgleich er doch die Concordienformel unterschrieben hatte. Seit 1575 wandte er sich dem Calvinismus zu und wußte es durchzusetzen, daß für das unter seiner Mitwirkung gegründete Gymnasium zu Durlach 1586 reformirte Lehrer berufen wurden. Auf diesen ersten Glaubenswechsel folgte sofort ein zweiter; P. trat in demselben Jahre zur katholischen Kirche über und entwickelte von nun an alle Eigenschaften eines fanatischen Apostaten; seine Streitschriften gegen Grynäus, Heerbrand, L. Osiander beweisen es. Jetzt ist Luther für ihn der fleischliche Läster- und Frevelgeist, der „gotteslästerliche Mann, mit welchem er selber 14 Tage auf Erden gelebt habe“; und er verspottet die protestantischen Theologen, deren viele zuvor Handwerker oder Schulmeister gewesen seien. Dafür mußte er sich von jenen den „bösen Bäcker“ schelten lassen, welchen der Ehrgeiz, statt des Gewissens verführt, die evangelische Lehre muthwillig zu verlästern. P. in seiner „rechtmäßigen Retorsionsschrift“ von 1590 und Osiander in seiner „Antwort“ überbieten sich gegenseitig an Ausfälligkeiten. Was P. hauptsächlich zum Uebertritt verleitet hatte, war die Positivität des Kirchen- und Traditionsprincips; auf dieses Centrum des Gegensatzes, nicht auf specielle Lehrabweichungen, lenkt er daher auch bei späteren Gelegenheiten immer wieder zurück, wohl wissend, daß dieser Artikel den Protestanten die meiste Verlegenheit bereitete. Das war es auch, was er dem Grynäus vorhielt mit den Worten: er werde vergeblich wünschen, katholisch oder apostolisch zu heißen, wenn er sich nicht zu der katholischen Kirche als der alten und immer gewesenen bekennen wolle. Merkwürdig ist es, daß ein so vollständig von kirchlichen Tendenzen beherrschter Mann während dieser Streitigkeiten noch zu gelehrten historischen Arbeiten Zeit und Neigung finden konnte, er beweist damit sein Talent und seine Willenskraft. Sehr verdienstlich war die von ihm veranstaltete Herausgabe der Rerum germanicarum veteres jam primum publicati scriptores, zuerst zu Frankfurt 1583 in drei Folianten, dann durch Struvius zu Regensburg 1726 erneuert; ebenso das Polonicae historiae corpus, i. e. Polonicarum rerum latini veteres et recentiores scriptores quotquot extant, Basil. 1582, sowie er sich auch mit der badischen Geschichte und der Genealogie des Fürstenhauses gründlich beschäftigt hat. Doch sind diese letzteren Studien, von zwei genealogischen Tabellen abgesehen, nicht zum Abschluß gelangt. Auf diesem Wege ist P. ein historischer Name geworden, von römischer Seite bis in die neuesten Zeiten gerühmt und verherrlicht, von Lutheranern und Reformirten gebrandmarkt als infamis apostata, alastor, impudens scurra, welchen nur der Ehrgeiz und der Glanz der Welt bestochen habe. Aber er wollte auch Propaganda machen, und nachdem Markgraf Ernst Friedrich seine Anträge zurückgewiesen, wandte er sich mit besserem Erfolge an den Markgrafen Jakob III. von Baden und Hochberg, einen persönlich ausgezeichneten Fürsten, welcher jedoch schon durch den Umgang mit katholischen Höfen eine Zuneigung für die alte Kirche in sich aufgenommen hatte. Damals konnte ein solcher Schritt nicht ohne öffentliche Vorbereitung [200] von statten gehen. Daher wurde zuerst ein Religionsgespräch nach Baden berufen, woselbst der Markgraf selber mit seinem Rathe P. mit dem inzwischen katholisch gewordenen Hofprediger Zehender und dem Jesuiten Busäus erschien, Christoph[1] von Württemberg aber sich durch die Theologen Heerbrand, Andreä und Gerlach vertreten ließ. Disputirt wurde am 18. und 19. November 1589, und zwar nicht, wie erwartet wurde, über die Ubiquität, sondern auf Anstiften des Pistorius über sichtbare und unsichtbare Kirche, was erklärlicher Weise keinen Erfolg hatte. Unzufrieden mit diesem Ausgang bestellte der Markgraf ein neues Colloquium nach Emmendingen, welches vier Tage, vom 3. bis 7. Juni 1590 dauerte, aber gleichfalls durch seinen Hergang beinahe vereitelt worden ist. P. hatte über die Rechtfertigungslehre Thesen gestellt, aber sie blieben liegen, die Discussion wandte sich nochmals der Kirchenfrage zu. Ein Lutheraner Pappus aus Straßburg machte schlechte Geschäfte, Hunnius konnte nicht mehr herbeigerufen werden. Der Markgraf, nachdem er sich persönlich in die Disputation eingemischt, überwand jetzt sein bisheriges Zagen; er wurde am 15. Juli im Kloster Thennenbach förmlich der römischen Kirche einverleibt und von dem Jesuiten Busäus absolvirt; der Papst Sixtus V. begrüßte das Ereigniß als erste Rückkehr eines protestantischen Fürsten mit einem Freudenfest, allein er hatte zu früh triumphirt. Sixtus selbst starb kurz darauf, noch vor ihm am 7. August wurde auch Markgraf Jakob, nachdem er die Wiedereinführung der alten Kirche in seinem Lande angeordnet, vom Tode abgerufen. Der calvinisch gesinnte Ernst Friedrich verhinderte jede Neuerung und durch Georg Friedrich wurde die ganze Markgrafschaft 1604 dem lutherischen Bekenntniß wieder zugeführt; für die Zukunft war also nichts erreicht. In den inneren Hergang dieser immerhin denkwürdigen Angelegenheit werden wir durch die von P. veranstaltete Sammelschrift: „Jakob’s Markgrafen zu Baden erhebliche Motifen etc., Cöllen 1591,“ vollständig eingeführt. Zuerst berichtet hier der Markgraf selber mit schneidenden aber ernstgemeinten Worten von seiner „Bekehrung“ und wie er genöthigt gewesen, die lutherische Kirche für eine neue und darum falsche zu erklären; hierauf folgen sechs „Motive“ des Uebertritts nebst ausführlicher Begründung und Darlegung der lutherischen Fälschungen und Monstra; sodann die 300 Thesen des Pistorius über die Justification, dazu noch einige andere Actenstücke – alles sehr geeignet, um in das damalige polemische Getriebe und die katholische Behandlung der Controversen Einsicht zu verschaffen. Sogleich nach Jakob’s Tode verließ P. Baden, empfing die Weihen und erntete den Lohn seiner Thaten. Wir finden ihn unter den kirchlichen Würdenträgern, er wurde Generalvicar des Bischofs von Constanz, dann kaiserlicher Rath, Protonotar, Dompropst zu Breslau, Hausprälat in Fulda und starb 1608. Als einer der ersten gelehrten Convertiten ist er für viele Nachfolger vorbildlich geworden. Als Schriftsteller blieb er unermüdlich. Aus seiner späteren Polemik sei noch erwähnt: „Tractatus de communione sub una“, worauf Holder satirisch antwortete „Wilhelmus de Stuttgardia, mus exenteratus contra Pistorium“, 1593; „Anatomia Lutheri“, 1595, „Theorema de fidei christianae definita mensura contra Grynaeum“, „Consilium antipodagricum“, „Tractatus de vera curandae pestis ratione“. Sehr bekannt geworden ist: „Wegweiser für alle verführten Christen, d. h. Bericht von 14 durch die Unrechtgläubigen in Streit gezogenen Artikel“, 1599 und mehrfach aufgelegt, worauf B. Mentzer antwortete in dem Antipistorius sive disputationes de praecipuis quibusdam – capitibus, Marp. 1600. Andere Gegenschriften folgten von Konrad Horstius, Christoph Agricola, alle sind, wie schon aus den medicinischen Bezeichnungen hervorgeht, stark sarkastisch gefärbt.

Walch, Bibl. theol. sel. II., pag. 140. Vgl. die beiderseitige Geschichte der Conversionen und den oben erwähnten Artikel von Tzschirner in Herzogs [201] Encyklopädie; Einiges findet sich auch in Kleinschmidt, Jakob III., der erste regierende Convertit, Frankfurt a/M. 1875. Vgl. ferner Fel. Stieve, Briefe und Akten zur Gesch. des 30jähr. Krieges Bd. IV, S. 10, Anm. 1.

[Zusätze und Berichtigungen]

  1. S. 200 Z. 4 v. o. l.: Ludwig (st. Christoph). [Bd. 29, S. 775]