ADB:Neumann, Franz
*): Franz Ernst N. wurde am 11. September 1798 zu Joachimsthal in der Uckermark als Sohn eines Landmanns geboren und von seinem neunten Lebensjahre an in Berlin erzogen, wo er das damals unter Bernhardi’s Directoriat stehende Werder’sche Gymnasium besuchte. Bereits 1815, erst sechzehnjährig, trat er als freiwilliger Jäger unter Lieutenant v. Bagensky in das Colberger Regiment ein, um am Freiheitskriege theilzunehmen. In der Schlacht bei Ligny (16. Juni 1815) wurde er durch einen Schuß, der den Oberkiefer, die Zunge und die Oberlippe durchbohrte, schwer verwundet. Ein Freund, der spätere Gasanstaltsdirector Bärwald in Berlin, zog den Niedergestürzten bis zu einem trockenen Graben bei Seite; dann schleppten sich die Verwundeten z. Th. zu Fuß fort, z. Th. wurden sie auf Pulverwagen weiterbefördert. So ging es über Maastricht und Roermond bis Düsseldorf; erst 14 Tage nach seiner Verwundung erhielt N. eine richtige Verbindung seiner Wunde. Der sorgfältigen Pflege im Lazarethe zu Düsseldorf gelang es, den Jüngling bereits nach sechs Wochen wieder als geheilt zum Heere zu entlassen, so daß er noch an der Belagerung von Givet theilnehmen konnte.
NeumannNach seiner Rückkehr in die Heimath besuchte er zunächst wieder das Gymnasium. Nach Absolvirung desselben ließ er sich 1817, einem Wunsche seines Vaters folgend, in Berlin in die theologische Facultät einschreiben; auch in Jena, wo er dann seine Studien fortsetzte, hörte er noch theologische Vorlesungen; zu seinen Lehrern gehörten Neander und Schleiermacher. Aus der Jenaer Studentenzeit besitzen wir von dem Kunstschriftsteller und Maler Ernst Förster (1800–1885) in seiner nachgelassenen Selbstbiographie „Aus der Jugendzeit“ (Stuttgart (1887) eine kurze Charakteristik Neumann’s, aus der u. a. seine traurigen finanziellen Verhältnisse zu ersehen sind. Als Andenken an den Befreiungskrieg, heißt es dort, trug er einen alten, grauen Mantel, und zwar Sommer und Winter; denn er mußte ihm den Rock ersetzen, den er nicht hatte. Bereits in Jena wandte er sich der Mathematik zu; die Vorlesungen waren aber nichts weniger als anregend; sie trugen, wie es heißt, einen geschmacklos deklamatorischen Charakter, ohne einen fördernden Inhalt zu bieten. Aeußere Veranlassung Jena zu verlassen wurde für ihn die bekannte That des Jenenser Burschenschafters Karl Sand. So kehrte er 1819 nach Berlin zurück, wo er sich nunmehr den Naturwissenschaften, insbesondere der Mineralogie, zuwandte. Zu eigenen Beobachtungen und Studien regte ihn besonders der Mineraloge Weiß an, dem er durch eine neue Berechnungsmethode der Krystallwinkel aufgefallen war. Dieser brachte auch 1823 einen kleinen Zuhörerkreis zusammen, vor dem N. seine neue Methode der Krystallprojection, der auch seine erste Veröffentlichung gewidmet war, vortrug. Zu den Zuhörern dieses kleinen Kreises gehörten einige der ersten Capacitäten Berlins, u. a. Leopold v. Buch. Obwol die Vorlesungen unentgeltlich waren, ließ dieser am Schlusse derselben dem gänzlich unbemittelten Docenten 30 Thlr. Honorar überweisen. Diese Summe benutzte der überglückliche Jüngling zu einer Studienreise ins Riesengebirge, die ihn derart fesselte, daß noch der Greis immer gern wieder dorthin zurückkehrte.
Am Ende des Sommersemesters 1825 reichte N. bei der Berliner philosophischen Facultät eine geometrische Abhandlung ein unter dem Titel: „De tactionibus atque intersectionibus circulorum et in plano et in sphaera sitorum, sphaerarum atque conorum ex eodem vertice pergentium. Commentatio geometrica auctore Fr. E. Neumann.“ Berolini, mens. Septbr. [681] MDCCCXXV. Dirksen, der die Arbeit zu beurtheilen hatte, äußerte sich nun darüber, „daß der Gegenstand der Dissertation und die darin befolgte Methode, beide, mit Rücksicht auf ihre Bedeutsamkeit einer früheren Periode der Wissenschaft angehören, der jetzigen Richtung der Mathematik und dem Bedürfniß eines Physikers so fremd sind, daß ich nicht einsehe, wie der Verfasser einen so unzeitigen Stoff hat wählen und sich so ganz auf den Tummelplatz angehender Gymnasiallehrer hat zurückwerfen können. Zu Vieta’s Zeiten hätte die eingereichte Arbeit allerdings ihren großen Werth gehabt“ … Es ist bemerkenswerth, daß Weierstraß diese Arbeit im Gespräch noch in den siebziger und achtziger Jahren als eine ausgezeichnete, noch für die Gegenwart werthvolle Leistung bezeichnete. Trotz des harten Urtheils, das sie durch Dirksen erfuhr, wurde die Dissertation indeß nicht zurückgewiesen, und so bestand N. am 5. November 1825 das examen rigorosum mit dem Erfolg, „daß der Candidat seine Würdigkeit, das testimonium doctrinae zu erhalten, besonders durch seine gründlichen physikalischen Kenntnisse, aufs ehrenvollste bekundet habe“. N. erbot sich nunmehr freiwillig statt der nicht ganz gebilligten mathematischen eine andere Abhandlung einzuliefern. Nach Druck dieser letzteren („De lege zonarum principio evolutionis systematum crystallinorum“) und öffentlicher Disputation wurde er am 16. März 1826 zum Doctor promovirt. Im Herbst desselben Jahres siedelte er gleichzeitig mit Jacobi und Dove als Privatdocent an die Universität Königsberg über, die ihm sogar die Habilitationsacte erließ. Am 10. März 1828 wurde er hier zum außerordentlichen Professor (mit 200 Thalern Gehalt!) ernannt. Da war es Bessel, der sich seiner annahm. In einem Brief vom 7. October 1828 trägt er dem Unterrichtsminister v. Altenstein die überaus traurige Lage des jungen Professors vor, zugleich mit Hinweis auf dessen Begabung, die zu erkennen ihm freilich „bei der großen Bescheidenheit“ Neumann’s erst nach längerem Umgange möglich gewesen sei; er glaube aber sicher vorauszusehen, daß N. unter den mathematischen Physikern bald eine der ersten Stellen einnehmen werde. Zugleich hebt Bessel auch den Charakterzug rühmend hervor, daß N. der Versuchung, Privatunterricht zu ertheilen widerstehe, vielmehr es vorziehe, wissenschaftlichen Untersuchungen allein seine Zeit zu widmen. Der Erfolg war die Ernennung Neumann’s zum ordentlichen Professor der Physik und Mineralogie am 17. Mai 1829 mit einem Gehalt von 500 Thalern. Waren seine Forschungen anfänglich noch zwischen Mineralogie und Physik getheilt, so wandten sie sich allmählich immer mehr der Physik allein zu; schon in den 20er Jahren hatte er über die Physik der Erde und über physikalische Eigenschaften der Mineralien gelesen; von 1830 an las er über alle Theile der theoretischen Physik. Da diese Vorlesungen für Deutschland die ersten waren und lange Zeit auch die einzigen blieben, so ist es erklärlich, daß Königsberg bald der Sammelpunkt der hervorragendsten diesen Studien sich widmenden jungen Leute wurde. Nicht nur aus ganz Deutschland, sondern auch aus der Schweiz und Rußland scharten sich Schüler um N., zu denen spätere Leuchten der Wissenschaft, wie G. Kirchhoff, Clebsch, Paul Du Bois-Reymond u. A., gehörten. Sein Vortrag, der stets aufs sorgfältigste vorbereitet war, erweckte die Begeisterung, die den Lehrer beseelte, auch in den Hörern. Auch zu eigenen wissenschaftlichen Arbeiten wußte er seine Schüler in den von ihm geleiteten seminaristischen Uebungen anzuregen, wie u. a. die große Zahl bedeutender Themata für Doctordissertationen beweist, die nach den Universitätsacten auf N. zurückzuführen sind. Er stellte darin freilich auch recht hohe Anforderungen an seine Schüler, wenn er auch andrerseits Dissertationen, denen er fern stand und denen er einen wissenschaftlichen Werth nicht [682] beimessen zu können meinte, keine unbedingten Hindernisse in den Weg legte, wenn in ihnen den vorgeschriebenen Forderungen nach Recht und Billigkeit genügt war. In selbstlosester Weise ermöglichte er auch seinen Schülern, sich in der experimentellen Physik auszubilden. Da die Universität zu seiner Zeit ein besonderes physikalisches Laboratorium nicht besaß (das jetzige erstand erst in den Jahren 1884–86), so kaufte N. 1847 aus eigenen Mitteln ein einsam gelegenes Haus auf dem Hintertragheim, in dem er dann die Haupträume und den Garten den Studirenden zur Verfügung stellte, ohne Rücksicht auf seine eigene Bequemlichkeit oder die seiner Familie. Repräsentirte er so den wahren, nur auf das Wohl seiner Schüler bedachten Lehrer, so war er auch andrerseits der Typus eines echten Gelehrten, der die Wissenschaft einzig und allein um ihrer selbst willen trieb, unbekümmert um äußere Ehren, die an die Erfolge sich knüpfen könnten. Daraus erklärt es sich auch, daß er wenig auf die Art der Veröffentlichung seiner Forschungsergebnisse Gewicht legte; er war zufrieden, wenn er sie durch Mittheilung an seine Schüler und Freunde für die Wissenschaft nutzbar gemacht zu haben glaubte, daher denn manche seiner Entdeckungen erst durch die Arbeiten seiner Schüler oder durch den später erfolgten Druck seiner Vorlesungen weiteren Kreisen bekannt geworden sind.
Zu der Anerkennung der Leistungen Neumann’s seitens der Fachgenossen gesellten sich dann alsbald die Ehrenbezeugungen von Seiten der Behörden. Nur wenigen Sterblichen, besonders unter den Gelehrten, dürfte eine solche Ueberfülle von Auszeichnungen zu Theil geworden sein, wie N. Wir führen sie im Folgenden in chronologischer Reihenfolge auf: 1833: correspondirendes Mitglied der Akademie der Wissenschaften zu Berlin; 1838: correspondirendes Mitglied der Akademie der Wissenschaften zu Petersburg (einen glänzenden Ruf nach Petersburg hatte er ausgeschlagen); 1843: Prorector magnificus; 1844: zum 300jährigen Universitätsjubiläum Dr. med. honoris causa; 1854: Rother Adlerorden III. Classe mit der Schleife; 1856: correspondirendes Mitglied der Akademie der Wissenschaften zu Wien, Auswärtiges Mitglied der Societät der Wissenschaften zu Göttingen; 1858: Auswärtiges Mitglied der Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Geheimer Regierungsrath; 1860: Ehrenmitglied der Akademie der Wissenschaften zu Wien, Stimmfähiger Ritter der Friedensclasse des Ordens pour le mérite; 1862: Auswärtiges Mitglied der Royal Society in London; 1863: correspondirendes Mitglied der Akademie der Wissenschaften zu Paris; 1864: Rother Adlerorden II. Classe mit Eichenlaub; 1865: correspondirendes Mitglied der Academia dei Lincei zu Rom; 1869: Kronenorden II. Classe; 1872: auswärtiges Mitglied der bayerischen Akademie der Wissenschaften zu München, Mitglied des Bayerischen Maximilians-Ordens für Wissenschaft und Kunst; 1873: correspondirendes Mitglied der Akademie zu Bologna; 1876: 50jähriges Doctorjubiläum, Stern zum Kronenorden II. Classe; 1886: 60jähriges Doctorjubiläum, Stern zum Rothen Adlerorden II. Classe; 1887: Verleihung der Copley Medal der Royal Society; 1888, zum 90. Geburtstag: Kronenorden I. Classe mit Stern; 1894, zum 350jährigen Universitätsjubiläum: Wirklicher Geheimer Rath, Excellenz. 1886 wurde durch Allerhöchsten Erlaß die Aufstellung eines großen Oelgemäldes Neumann’s in der königlichen Nationalgalerie in Berlin, 1887 durch Erlaß Sr. Excellenz des Unterrichtsministers ein gleiches im Senatszimmer der Universität angeordnet.
N. war in erster Ehe mit Louise Florentine Hagen (geboren 1800 in Königsberg), der zweiten (jüngsten) Tochter des Medicinalraths Prof. Dr. Karl Gottfried Hagen (eines Tischgenossen von Kant) verheirathet. Die Kinder [683] dieser ersten Ehe sind: Karl N., Professor der Mathematik in Leipzig, geboren 1832; Ernst N., Professor der pathologischen Anatomie in Königsberg, geboren 1834; Julius N., Professor der Nationalökonomie in Tübingen, geboren 1835; Louise N., geboren 1837; Gustav N., geboren 1838, † 1876 als Regierungsbaumeister in Posen. Florentine N. geb. Hagen starb 1838. In zweiter kinderloser Ehe war N. mit Wilhelma Kunigunde Hagen (geboren 1802, † 1877), Tochter des Consistorialraths Ludwig Hagen (eines Bruders von Karl Gottfried Hagen) verbunden. Die ältere Schwester der ersten Frau, Johanna, war seit 1812 mit F. W. Bessel verheirathet. Der Aesthetiker August Hagen, Professor der Kunstgeschichte in Königsberg, war ein Bruder der ersten Frau. Ein Bruder der zweiten Frau war Gotthilf Hagen, der Erbauer des Pillauer Hafens, † als Geheimer Baurath und Excellenz in Berlin. – Seine Tochter Louise pflegte ihn bis zu seinem Lebensende; sie begleitete ihn stets auf seinen Reisen ins Gebirge, für dessen Schönheiten er so sehr empfänglich war. „Noch bis September 1894“, schreibt sie, „war mein Vater so frisch, daß er sich wissenschaftlich beschäftigen konnte, und noch so rüstig, daß er täglich Spaziergänge von ein bis drei Stunden unternehmen konnte, gut hörte und ohne Brille las“. – Im J. 1876 wurde er von der Verpflichtung, Vorlesungen zu halten, entbunden. Am 23. Mai 1895 starb er zu Königsberg.
Als erste Arbeit erschien von N. „Beiträge zur Krystallonomie“, erstes Heft, Berlin 1823 (weitere Hefte sind nicht erschienen), in der er eine neue, noch jetzt von den Mineralogen viel benutzte Projektionsmethode der Krystalle entwickelt. Daran schließt sich seine oben erwähnte Doctordissertation (De lege zonarum etc). Diese Arbeiten waren nicht sowol naturwissenschaftlicher (physikalischer), als vielmehr mathematischer (geometrischer) Natur; und daß sich N. gerade mit geometrischen Studien anfänglich beschäftigte, geht ja auch aus der ursprünglich als Dissertation eingereichten Arbeit, die wir oben erwähnten, hervor. Daß er seine geometrischen Studien alsbald auf das schwierige Gebiet der Krystalle verlegte, zeugt von dem immensen ihm innewohnenden geometrischen Anschauungsvermögen, worin er an Steiner erinnert; andrerseits ist zu erwähnen, daß er streng den Standpunkt vertrat, geometrische Aufgaben auch auf rein geometrische Art (nicht auf dem Umweg durch die Analysis) zu lösen (etwa wie Weierstraß umgekehrt sich bemüht hat, aus der Arithmetik und Functionenlehre alle geometrischen Betrachtungen – auch wenn sie nur als Nothbehelf dienen – auszuschalten). Seine nächsten Arbeiten sind dann vornehmlich der Optik, insonderheit der Optik der Krystalle gewidmet. Als charakteristische Auffassung Neumann’s wäre hier zu erwähnen, daß er die krystallinische Struktur der Materie nicht als eine Besonderheit derselben verglichen mit isotropen Medien auffaßt, sondern umgekehrt von ersterer ausgeht, einen Weg, den die Geschichte der Wissenschaft jedenfalls dadurch sanctionirte, daß wir in die Geheimnisse des Aufbaues des Stoffes offenbar durch das Studium der Krystalle tiefer eingedrungen sind, als durch Betrachtung isotroper Medien. Zu erinnern ist dann hier an die Fresnel-Neumann’sche Controverse betreffs der Lage der Schwingungsebene des polarisirten Lichtes, ein Streit, den bekanntlich die neuere elektro-magnetische Lichttheorie dadurch entschieden hat, daß sie beiden Forschern Recht gab. Durch diese optischen Studien wurde N. zugleich auf die Theorie der Elasticität hingewiesen, die er mit begründete und wesentlich förderte. 1845 erschien dann die epochemachende Abhandlung „Die mathematischen Gesetze der inducirten elektrischen Ströme“ (Abhandlungen der königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, S. 1–87). Von nun an bewegten sich seine Arbeiten längere [684] Zeit auf dem Gebiete der Elektricität. Zwischendurch finden wir Arbeiten über die specifische Wärme und endlich mehrere bedeutende Abhandlungen über die Kugelfunctionen, also wieder rein mathematischer Natur. – Seine gesammelten Werke sind soeben bei B. G. Teubner im Erscheinen begriffen (1906, Band II).
- Poggendorff, Biographisch-litterarisches Handwörterbuch. – Meyer’s Konversationslexikon. – P. Volkmann, Franz Neumann (Leipzig 1896). – Nekrolog von Wangerin in: Jahresbericht der Deutschen Mathematiker-Vereinigung IV, 1894–95, auch in: Leopoldina, XXXII, 1896. – Luise Neumann, Franz Neumann, Erinnerungsblätter von s. Tochter (Tübingen 1904).
[680] *) Zu S. 614.