ADB:Kühnöl, Christian Gottlieb
Ernesti’sche Richtung. Morus, Rosenmüller, Dathe waren Kühnöl’s persönliche Lehrer. Im J. 1788 habilitirte er sich in der philosophischen Facultät zu Leipzig, hielt aber, wie es die Sitte der Zeit war, neben den philologischen auch theologische Collegien. Bereits 1790 erhielt er eine außerordentliche Professur der Philosophie, daneben 1793 die Stelle eines Custos an der Universitätsbibliothek. Eine außerordentliche Professur der Theologie, die ihm im J. 1796 zugesagt war, wurde im entscheidenden Augenblicke ihm doch verweigert, da er, wie es in dem betreffenden Ministerialrescripte heißt, „in seiner neuerlichen Schrift über die evangelischen Perikopen S. 36 unter andern die Erscheinung der Engel, die er gleichwohl an mehreren andern Orten zugibt, in Zweifel gezogen, auch S. 125 die Verklärung Christi auf dem Berg für ein Traumgesicht auszugeben sich nicht entsehen, und dadurch so viel Mangel an Ueberlegung und Zusammenhang seiner theologischen Kenntnisse verrathen hat, daß ihm eine theologische Profession zu übertragen noch zur Zeit bedenklich fällt.“ Der wahre Grund der Zurücksetzung war übrigens, daß man einen jüngeren Docenten, den [355] Sohn eines einflußreichen Mannes, in die Stelle einschieben wollte. Unter diesen Umständen ergriff K. gerne die Gelegenheit ins „Ausland“ zu gehen, die sich ihm durch eine Berufung nach Gießen darbot. Im J. 1801 trat er dort mit einer Antrittsrede „De Helii Eobani Hessi in bonas literas meritis“ die ordentliche Professur „der Beredtsamkeit und Dichtkunst“ an; und hat von nun an fast 40 Jahre lang der Universität Gießen als Lehrer angehört. Zunächst hielt er, wie es seine Stellung als Professor der Eloquenz mit sich brachte, nur philologische Collegien. Doch wurde ihm bereits im J. 1806 der Charakter eines Professors der Theologie verliehen, mit der Erlaubniß theologische Vorlesungen zu halten. In demselben Jahre erhielt er von der theologischen Facultät zu Halle die theologische Doctorwürde. Im J. 1809 wurde er unter Enthebung von seiner Stelle als Professor der Beredtsamkeit und Dichtkunst zum dritten ordentlichen Professor der Theologie ernannt. In der theologischen Facultät nahm er bald eine sehr geachtete Stellung ein, und auch von Seite der Regierung wurde er fast über das gewöhnliche Maß mit Ehren bedacht: im J. 1818 erhielt er den Titel eines Geheimen Kirchenrathes, im J. 1829 den eines geistlichen Geheimen Rathes; auch an hohen Orden fehlte es nicht. Im J. 1836 rückte er zum professor primarius in der theologischen Facultät auf. Im J. 1838 konnte er noch sein 50jähriges Jubiläum als Doctor der Philosophie feiern. Schon zwei Jahre später (1840) nöthigte ihn aber Kränklichkeit, um seine Versetzung in den Ruhestand nachzusuchen, die ihm unter den schmeichelhaftesten Ausdrücken gewährt wurde. Er starb in der Nacht vom 15. zum 16. October 1841, um 12 Uhr (nicht den 23. October, wie Scriba und Zöckler angeben). – K. war ein Stubengelehrter im vollen, aber auch im guten Sinne des Wortes. Seine Bibliothek und sein Arbeitszimmer waren seine Welt. Um die Dinge des öffentlichen Lebens sich zu kümmern lag ihm gänzlich fern. Und eben diesem Umstande hatte er wol zu einem großen Theile seine Gunst bei der Regierung zu danken. Von seiner Thätigkeit als Docent hat ein ehemaliger Zuhörer dem Schreiber dieser Zeilen folgende Schilderung entworfen: „Ich bin überzeugt, daß er auf dem Katheder niemals ein einziges freies Wort gesprochen hat. Er saß so auf sein Heft gebückt, daß nur seine ehrwürdigen weißen Härchen ein wenig über den Katheder hervorragten; hoben sich einmal die Finger seiner linken Hand über den Rand, so war das ein seltenes Zeichen äußerster Gemüthsbewegung. So dictirte er ununterbrochen sein sorgfältig ausgearbeitetes und manches schätzbare Material bietendes Heft, und so bequem, daß er alle Eigennamen vorbuchstabirte, hebräische Wörter von der Linken zur Rechten!“ Daß die hier angedeuteten Schwächen seines Vortrages sich nicht etwa erst mit dem Alter einstellten, beweisen die übereinstimmenden Aeußerungen Welcker’s, welche sich auf die ersten Jahre von Kühnöl’s Gießener Wirksamkeit beziehen (Kekulé, Das Leben Welcker’s, 1880, S. 32). – Mit dem Bilde des Docenten stimmt das des Gelehrten. Was er in dieser Hinsicht gewesen ist und gegolten hat, hat er lediglich seinem Fleiße zu danken. Irgendwelche Bedeutung als Theologe hat er nie gehabt. Wenn er trotzdem zu seiner Zeit einen gewissen Ruf genoß, so kommt dies eben daher, daß er fleißig gearbeitet hat und das gesammelte Material in gefälliger Form und elegantem Latein vorzutragen wußte, wie er denn seine Berufung nach Gießen wesentlich auch der „Aechtheit seines lateinischen Stiles“ zu danken hatte. Als Schriftsteller war er sehr fruchtbar, sowol auf philologischem wie auf theologischem Gebiete. In ersterer Beziehung sind etwa zu nennen: Eine Ausgabe der Alcestis des Euripides (1789), eine solche von Sophokles’ „Oedipus Rex“ (1790); „Observationes in Propertium“ (4 Programme, Gießen 1801–1803); eine Ausgabe des „Propertius“ (2 Bde., 1805); „Animadversionum criticarum in Ovidii Heroidas Spec. I et II“ (1805, 1806). [356] Seine Hauptleistungen liegen auf dem Gebiete der Theologie und zwar hauptsächlich auf dem des Neuen Testamentes. Denn seine ziemlich zahlreichen alttestamentlichen Arbeiten aus der Leipziger Zeit („Hoseas neu übersetzt nebst einigen Erläuterungen“, 1789; „Geschichte des jüdischen Volks“, 1791; „Messianische Weissagungen des Alten Testaments“, 1792; „Hoseae oracula hebraice et latine, perpetua annotatione illustravit“, 1792; „Die Psalmen metrisch übersetzt und mit Anmerkungen“, 1799) haben höchstens ephemere Bedeutung gehabt. Seinen eigentlichen Ruf als gelehrter Theologe hat er durch seinen Commentar zu den historischen Büchern des Neuen Testaments begründet, der sich seiner Zeit einer ziemlichen Beliebtheit erfreute und eine Reihe von Auflagen erlebt hat („Commentarius in libros Novi Testamenti historicos, Vol. I, Ev. Matthaei“, Lips. 1807; Vol. II, „Evv. Marci et Lucae“, 1809; Vol. III, „Ev. Joannis“, 1812; Vol. IV, „Acta apostolorum“, 1818. Die letzten Auflagen sind: Vol. I et II, „Editio quarta sic emendata et aucta ut novum opus videri possit“, 1837. 1843; Vol. III, „Editio tertia auctior et emendatior“, 1825; Vol. IV, „Editio secunda auctior et emendatior“, 1827). Ein competenter Beurtheiler wie Bleek charakterisirt den Commentar mit folgenden Worten (Synopt. Erklärung der drei ersten Evangelien, I. 24): „Die Auslegungen Anderer zusammengestellt und geprüft; namentlich für die sprachliche Auslegung brauchbare Sammlungen, obwol die grammatische Interpretation nicht tief geht; ohne bestimmten theologischen Charakter.“ Dieses Urtheil findet zugleich auch Anwendung auf das andere Hauptwerk Kühnöl’s zum Neuen Testament, seinen „Commentarius in epistolam ad Hebraeos“, 1831. Sonst hat er noch eine erhebliche Anzahl kleinerer exegetischer Arbeiten geschrieben, namentlich in Form von Programmen. Aus älterer Zeit sind etwa noch zu erwähnen die „Observationes ad Novum Testamentum ex libris apocryphis V. T.“, 1794 und der Abschnitt über die Bücher des Neuen Testamentes in Fabricius’ „Bibliotheca Graeca ed. Harles, T. IV“, 1795, p. 755–895. Ebenfalls noch während der Leipziger Zeit hatte K. mit Velthusen und Ruperti zusammen eine Art theologischer Zeitschrift herausgegeben („Commentationes theologicae, edita a Joh. Casp. Velthusen, Christ. Theoph. Kuinoel et Georg. Alex. Ruperti“. 6 Bde., Lips. 1794–1799). – Was Bleek von dem Commentare zu den historischen Büchern des Neuen Testaments sagt, das gilt zugleich von K. als Theologen überhaupt: er vertritt keine bestimmte theologische Richtung. Und er hat sich darin als einen echten Ausläufer der Ernesti’schen Schule bewährt. Es gilt auch von ihm, was Reuß von den Männern dieser Schule überhaupt sagt: „Mehr Philologen als Theologen, jenes im Sinne classischer Bildung und Gediegenheit genommen, brachten sie zur Schrifterklärung mehr Geschmack und Gewissenhaftigkeit, als Tiefe des Gemüthes und philosophische Anschauungen mit“ (Reuß, Geschichte der heiligen Schriften Neuen Testaments, § 572). So war auch K. ein Mann ohne eine irgendwie ausgeprägte theologische Richtung. Während er im Allgemeinen für einen Supranaturalisten galt, hat er doch die biblisch-theologischen Grundbegriffe sich immer zurecht rationalisirt. Und diese theologische Haltlosigkeit hatte ihren tieferen Grund in dem Mangel einer wahrhaft wissenschaftlichen, historisch-kritischen Methode überhaupt. Was seine Arbeiten auszeichnet, ist nur der Fleiß und die Sorgfalt in der Sammlung des Materials und die Klarheit der Darstellung, sowie die schlichte classische Form seiner Latinität. Dem Zusammentreffen dieser Umstände ist es wol zuzuschreiben, daß seine Commentare namentlich auch in Holland längere Zeit hindurch sehr beliebt waren.
Kühnöl: Christian Gottlieb K., oder auch Kuinoel, wie er auf dem Titel seiner lateinischen Werke sich zu nennen pflegte; evangelischer Theologe. Er war geboren zu Leipzig den 2. Januar 1768 als Sohn eines dortigen Geistlichen. Auf der Thomasschule genoß er den Unterricht seines Oheims, des Philologen Johann Friedrich Fischer, dessen Einfluß er, wie er später selbst versicherte, für seine ganze wissenschaftliche Ausbildung besonders viel verdankte (vgl. auch Kühnöl’s „Narratio de Johanne Friderico Fischero“, Lips. 1800). Noch als Schüler schrieb K. bei Gelegenheit der Doctorpromotion seines Vaters die Gratulationsschrift „Specimen observationum in Euripidis fabulam quae inscribitur Alcestis“, Lips. 1785. Im J. 1786 bezog er die Universität Leipzig und hörte philosophische und theologische Vorlesungen. In der Theologie dominirte damals die- Vgl. für das biographische bes.: Strieder, Grundlage zu einer hessischen Gelehrten- und Schriftsteller-Geschichte, Bd. XVIII (1819), S. 311 ff., und die Personalacten Kühnöl’s auf dem Gießener Universitätssecretariate. Außerdem: [357] Scriba, Biographisch-literärisches Lexikon der Schriftsteller des Großherzogthums Hessen, I. 199 ff., II. 419. Neuer Nekrolog der Deutschen, 1841, S. 985 ff. Zöckler in Herzog’s Real-Enc. für prot. Theol. und Kirche (1. Aufl.), XIX. 758 ff.