Wilhelm Löhes Leben (Band 2)/Nr. 6. Einige Fragen, das Beicht- und Parochialverhältnis betreffend, samt kurzen Antworten

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Wilhelm Löhes Leben (Band 2)
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Nr. 6.
Einige Fragen, das Beicht- und Parochialverhältnis[1] betreffend, samt kurzen Antworten.
 Vorbemerkung. So Fragen, wie Antworten, wurden am 14 Julius 1852 einer Pastoralkonferenz vorgelegt, nicht zur Annahme, nicht zur Beschlußfassung, sondern allein um Nachdenken und Besprechung anzuregen. Die Sache schien, namentlich in ihrem Zusammenhang viel zu wichtig, als daß man nur den Antrag, sich schlüssig zu machen, hätte stellen mögen. – Was die Antworten anlangt, so scheinen sie aus der Praxis der lutherischen Kirche sämtlich gerechtfertigt werden zu können. Nur daß die vorhandenen Stamina[2] nirgends unter einen Brennpunkt gestellt sind. Die letzte Frage samt ihrer Antwort zeigen die nicht leicht zu hoch anzuschlagende Wichtigkeit der Sache, und fassen die vorausgegangenen Sätze zu einem Resultate zusammen, an welches unsere Väter bei ihrer pur kasuistischen[3] Behandlung der Fragen von Parochial- und Beichtverhältnis weder dachten, noch denken konnten. Und doch| scheint die letzte Antwort durchaus richtig, wenn nämlich die vorausgehenden richtig sind. Für die absterbenden Landeskirchen, die durch Änderung der allgemeinen Verhältnisse zu keinem neuen Leben kommen können, handelt sichs um die mögliche Regeneration von innen heraus. In diesem Interesse scheinen die nachfolgenden Fragen und absichtlich kurz und prägnant (inhaltsreich) gegebenen Antworten richtig.


1. Sind Beicht- und Parochialverhältnis, so wie sie sich geschichtlich gestaltet haben, identisch (ein und dasselbe)?

 Antwort: Nein. So wie sie sich geschichtlich gestaltet haben, sind sie nicht identisch.

 Das Parochialverhältnis ist ein öffentliches zwischen einer christlichen Gemeinde und dem ihr von dem heiligen Geiste gesetzten Hirten. Das Beichtverhältnis ist ein privates zwischen einer Christenseele und ihrem Seelenrate. Dort gilt es Leitung eines Ganzen, hier Leitung eines Gliedes. Dort ist Gesetz, hier herrscht, soweit nämlich beide Verhältnisse in ihrer Scheidung vorliegen, freie Wahl.


2. Ist Parochialverband oder Beichtverband göttlich, oder sind es beide?

 Antwort: Das Parochialverhältnis ist göttlich. Zwischen Hirten und Herde ist eine von dem heiligen Geist gewollte und gestiftete Zusammengehörigkeit.

 Das Beichtverhältnis, sofern es das Verhältnis eines gnadenhungrigen Herzens zu einem Amtsträger des Neuen Testaments ist, ist auch göttlich – ist nur das Hirtenamt in seiner Anwendung und Beschränkung auf einzelne, insofern mit dem Parochialverhältnis sogar identisch.

 Alle Accidentien des Beichtverhältnisses sind aber nicht göttlicher Art. Dahin gehört z. B. Ausschließlichkeit und Unauflöslichkeit des Beichtverhältnisses. Die Erteilung der Absolution und die Übung des Schlüsselamtes, alles, was Schrift und Symbole über Privatbeichte (Augsb. Konf. Art. XI., Art. XXV., Apolog. Art. IV., V. und VI., Schmalk. Art. Teil III. Art. 8.) sagen und setzen, läßt sich ohne Ausschließlichkeit und Unauflöslichkeit des Beichtverhältnisses denken. Das| Neue Testament weiß von diesen Accidentien nichts, ebenso wenig das Altertum. Diese Dinge kamen erst mit dem Verderbnis der Kirche und mit der Aufrichtung der Einzelbeichte als Institut.


3. Ist das Beichtverhältnis, so wie es sich ausgebildet hat, durchaus nötig:

 a. für das Seelenheil der Christen?

 Antwort: Nein. Man kann – gewiß allgemein zugestandnermaßen – ohne Beichtverhältnis selig werden. Die Schrift weiß nichts von besonderem Beichtverband. Die erste Kirche kannte es nicht.[4] Erst im 13. Jahrhundert[5] wurde zum besondern Beichtverband die Einleitung getroffen – kirchenordnungsmäßig wurde er von den Lutheranern beibehalten.


 b. für den Genuß des heiligen Abendmahls?

 Antwort: Nein. Buße und die von dem Apostel befohlene Prüfung kann ohne Beichtverband geschehen. Weder in der Sache selbst, noch in der Schrift, noch in der Lehre der ersten Kirche oder der Reformatoren liegt etwas, was ein Ja erzwänge.


 c. für die Austeilung des heiligen Abendmahls?

 Antwort: Nein. Wie würde sonst Abendmahlsgenuß in der Fremde, Abendmahlsausteilung an Fremde, Handwerker, Studenten, Soldaten etc. etc. möglich? Es ist am Tage, daß man sich je und je an anderen Garantieen der Würdigkeit genügen ließ, als in der unausgesetzten| setzten Beobachtung und genauen Kenntnis der einzelnen Seele durch einen ständigen Beichtvater liegen. Ist doch, was eigentlich Aufschluß vom Sakrament betrifft, nicht einmal der Beichtvater die Hauptperson, sondern das Zeugnis des Parochus und der Kirchenvorsteher nötig, wo nicht gar das Zeugnis einer kirchlichen Oberbehörde. –


4. Ist es nützlich, ein bestimmtes und dauerndes Beichtverhältnis mit Einem Beichtvater zu schließen?

 Antwort: Indifferens est in se, an quis uno uti velit confessionario, an pro arbitrio modo huic, modo alii confiteri velit. Gotthold’s Manuale Casuist. S. 349 f. Bechmann S. 143 und 118. – Es kann nützlich, sehr nützlich sein, ein stehendes Beichtverhältnis zu haben; es kann aber auch schädlich sein, wenn man in der Wahl des Beichtvaters nicht glücklich war.


5. Ist das Beichtverhältnis

 a. unverbrüchlich?

 Antwort: Nein. Das ganze Verhältnis beruht auf Wahl, welcher gewisse Bedingungen zu Grunde liegen. Man kann sich in der Wahl irren; ein Seelsorger kann sich zum Schlechteren ändern etc.; da hören die Bedingungen auf und die Wahl kann widerrufen werden. – Man könnte von einem gewissen Standpunkte aus auch sagen: das Beichtverhältnis beruht auf Kirchenordnung, die Kirchenordnung auf pastoraler Weisheit; diese aber widerrät in vielen Fällen die Dauer und Erhaltung des Verhältnisses.


 b. oder ist es lösbar?

 Antwort: Es ist lösbar, weil es oft für die Seele nützlich ist, es zu lösen. Lösbarkeit des Beichtverhältnisses gehört zur Freiheit eines Christenmenschen.


 c. und wenn ja, in welchen Fällen?

 Antwort: Si justa subsit causa. Pruckner S. 284 (d. h. wenn ein genügender Grund vorliegt).

 Ist der Pfarrer heterodox (irrgläubig), so muß das Verhältnis| gelöst werden. Pruckner S. 286. Bechmann S. 145. Gerh. v. Pertsch S. 427.

 Ist er gottlos,[6] so kann man einen andern annehmen, weil die Gottlosigkeit des Lebens das Vertrauen stört. Bechmann S. 200. Carpzov b. Pertsch S. 432.

 Ist das Vertrauen zu Ende aus andern Gründen, so kann ein Verhältnis des puren Vertrauens durch Zwang nicht länger zusammengehalten werden. Vgl. Böhmer über Notwendigkeit des Vertrauens bei Pertsch S. 418. – Selbst wenn sich Beichtvater und Beichtkind aus Schuld des letzteren verfeindet haben und letzteres zur Erkenntnis und zum Bekenntnis gekommen ist, ist es thöricht, das Verhältnis durch Zwang zusammenhalten zu wollen. Es kann dennoch etwas zurück bleiben, was die Hingebung hindert, welche ein Beichtkind gegen seinen Beichtvater haben soll. Pertsch sagt S. 428 f. Richtiges von verfeindeten Pfarrern und Beichtkindern, so ungerecht er vielfach ist und einen so schlechten kirchlichen Geist sein ganzes Buch in Beichtsachen atmet.


6. Welcher Grad von Aufsicht über die Lösung des Beichtverhältnisses steht dem Kirchenregimente zu?
 Antwort: Nach den Kirchenordnungen steht es dem Kirchenregimente zu, die Gründe zu beurteilen, um deren willen ein Beichtkind von seinem Beichtvater geschieden sein will. Ebenso übertragen sie demselben die Sühne. Nirgends aber wird kirchenregimentlich so durchgefahren, daß um jeden Preis die Aufrechthaltung eines Verhältnisses erzwungen würde, das, wie es ohne Freiwilligkeit keinen Wert hat, auch schlechthin tot ist und jedes Belebungszwanges spottet, wenn Freiwilligkeit und Vertrauen weg ist. Die Kirchenordnungen schreiten gegen widerspenstige, den Frieden verweigernde Beichtkinder mit| Bann ein, aber dann gilt es nicht Herstellung des Beichtverhältnisses, sondern die Korrektion von Sünden, welche, hartnäckig behauptet, nicht bloß den Beichtverband, sondern die Kirchengemeinschaft selbst lösen. Wo überall es sich um Herstellung des Vertrauens handelt, ist’s aus mit jedem Zwang. Übernimmt das Kirchenregiment Urteil und Sühne, so nimmt es nicht etwas an sich, was notwendig zu seinem Bereiche zu rechnen ist, sondern es übernimmt die Übung brüderlicher Liebe, die von anderen, näher stehenden, mit den Verhältnissen vertrauteren Männern eben so gut oder auch wohl besser, mit größerem Erfolg übernommen wird. Ist die Mühe umsonst, und das kann sein, auch wenn Friede hergestellt ist; so kann das Kirchenregiment nicht mehr thun als jeder Schiedsrichter: es muß in der an sich freien Sache einem jeden seine Freiheit lassen. – – (Spener bei Pertsch S. 438. Cf. Seidels Pastoraltheol. S. 200.)


7. Kann man ohne Lösung des Beichtverhältnisses, ja im freiesten und gesegnetsten Gebrauch desselben außerhalb der Parochie beichten und das Sakrament genießen?
 Antwort: Ja, wenn kein contemtus ordinarii ministerii (d. h. keine Verachtung des ordentlichen Amtes) da ist, wenn necessitas vorhanden, quae legem non habet (d. h. wenn dringende Not da ist, die kein Gebot kennt), wenn causa praegnans (d. h. eine gewichtige Ursache) da. Cf. Bechmann S. 144. 200. Und nicht bloß das. Wenn Parochialverband (und das gewöhnliche Beichtverhältnis) aufrecht gehalten werden, ist es Recht und Freiheit eines jeden Christenmenschen, da zu beichten und zu kommunizieren, wo man grade ist. Der Genuß des Sakraments gehört zum Parochialverband, aber er ist nicht Monopol (alleiniges Vorrecht) der Parochie. So weit die Kirchengemeinschaft geht – und die geht, so weit die Gemeinde und Kirche der Glaubensgenossen sich erstreckt –; so weit geht auch die Abendmahlsgemeinschaft. Alle Rechtgläubigen, nicht Excommunicierten oder in den gradibus admonitionis Begriffenen (bei denen einer der Ermahnungsgrade Matth. 18, 15–17 angewendet werden mußte) haben Anteil an jedem rechtgläubigen Altar – und, über die Ausübung der Freiheit| ist nur die von dem Herrn gebotene Ordnung zu stellen, zu deren Einhaltung sich alle Glieder der Kirche um Gottes willen bereit finden lassen.


Man könnte die Antwort auch so geben:

Ja:

a. Weil Ausschließlichkeit des Beichtverhältnisses und des Abendmahlsgenusses in der Parochie weder notwendig, noch im allgemeinen ersprießlich ist;
b. Weil ein Christ in Gemeinschaft mit allen Christen steht und diese Gemeinschaft sich im gemeinschaftlichen Abendmahlsgenuß erweist;
c. Weil eine gegenseitige Teilnahme am Sakrament nicht bloß sehr erwecklich ist, sondern auch die Liebe, das Bewußtsein der Zusammengehörigkeit, das Kirchen- und Einheitsbewußtsein stärkt;
d. Weil durch die zugestandene, rechtmäßige Freiheit alle falschen Gelüste nach dem Abendmahlsgenuß mit andern, als den Parochianen ausgelöscht, jedenfalls durch die Ordnung, in welcher sich die Freiheit bewegt, im Zaum gehalten werden;
e. Weil die Beichte bei einem begabteren Beichtvater, als der gewöhnliche ist, sehr förderlich sein kann.




Zur notwendigen Ordnung gehört:
a. Forderung der persönlichen Anmeldung der Beichtenden bei einem Beichtvater – allenthalben, namentlich in den Städten. Die herrschende Unordnung in den Städten, da man sich nicht ansagen muß, keine Zählung, keine Kontrolle der Beichtkinder besteht, veranlaßt, daß die Unzufriedenen und die in der Korrektion begriffenen von den Landgemeinden in die Stadtkirchen zum Sakramente gehen. – In den Städten muß die Ordnung den Anfang nehmen.
b. Das Institut der Beichtscheine für alle, namentlich für die wandernde Bevölkerung, durch welche Freiheit und Ordnung zugleich möglich werden, durch| welche die Parochieen in die notwendige Gemeinschaft und Verbindung treten.

 Die Beichtscheine müßten Namen, Stand, Alter, Leumund, Zeugnis über die Rechtgläubigkeit, den Sakramentsgenuß in der Parochie, ungestörten Frieden mit dem Beichtvater (wenn einer gewählt ist), namentlich aber das Zeugnis enthalten, daß der Inhaber weder exkommuniziert, noch in den gradibus admonitionis ist. Die Scheine sind vom Parochus auszustellen, vom Beichtvater zu kontrasignieren, werden von jedem Pfarrer, bei dem der Inhaber beichtet und zum Abendmahl geht, gefordert und mit Tag und Namen unterzeichnet und im Falle der Exkommunikation oder Korrektion vom Parochus abgefordert, außerdem von Zeit zu Zeit erneuert.[7]


8. Muß ein Christ in seiner Parochie zu Gottes Tisch gehen, wenn Hirt und Heerde zur rechtgläubigen Kirche gehören?

 Antwort: Ja. Neben der Freiheit, die er nach Nr. 7 genießt, hat er die Pflicht, die Verbindung mit der Parochie aufrecht zu halten, zu bezeugen und zu ehren. Denn die Parochialverbindung ist heilig, und göttlich, so gewiß das Hirtenamt heilig und göttlich ist.[8]


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9. Verschiedene Bedeutung des Beicht- und Parochialverbands in der Kirche und für sie.

 Im Parochialverband ist ein Princip der Stätigkeit, im Beichtverband ein Princip der Beweglichkeit.

 Dort sondern sich die Herden zu ihrem Heile ins kleine, durch die Freiheit des Beichtens und Abendmahlsgehens reichen sich die einzelnen orthodoxen Gemeinden die Hand, werden sich ihrer Zusammengehörigkeit bewußt.

 Eine Landeskirche mit allzusehr eingeengtem Beichtverhältnis pflegt die Lehre von der Einheit aller rechtgläubigen Kirchen nicht, wie sie sollte, und kommt in Gefahr, romanisierend das Einheits-Bewußtsein mehr durch Einheit des Kirchenregiments, als durch die Lebensgemeinschaft in Wort und Sakrament zu repräsentieren.

 Eine Landeskirche, welche Beicht- und Parochialverhältnis identisch faßt, jenes in dieses aufgehen läßt, trägt zum Stagnieren (zur Versumpfung) ihres großen Ganzen bei, – schafft böse Gewissen für die, welche in der Zeit des Stagnierens aller Zustände den Drang der Gemeinschaft mit denen fühlen, die noch leben oder neubelebt in der| Zerstreuung wohnen, – entbehrt des besten Mittels der Wiederbelebung, indem sie eine geregelte und geordnete Freiheit des Beichtverhältnisses und Abendmahlsgenusses entbehrt, läßt in böser Zeit die Kinder Gottes nicht freudig zusammengehen und sich zum Heile aller stärken, weist sie an, in den schweren Leiden der Vereinsamung zu ersterben, oder zum Schaden des Ganzen die Verbindung mit dem altgewohnten und geliebten Ganzen irgendwie zu lösen.




 Sehr lehrreich für die protestantische Kirche könnte das Studium der römischen Erfahrungen seit Innocenz III. sein. Die Entstehung der beiden Orden der Bettelmönche, ihre Privilegien zu predigen und Beichte zu hören, ihr Gegensatz, ihr sich ausbildendes Verhältnis zur Pfarrgeistlichkeit etc. weist auf Bedürfnisse hin, die jede Kirche hat und haben muß. Irgendwie muß sich Stätigkeit und Bewegung, welche beide Lebensbedingungen sind, ins Verhältnis setzen und ordnen. Setzen und ordnen sie sich, so dienen sie beide zur Erhaltung. Ordnen sie sich nicht – so kommen Krankheiten der Stätigkeit und der Bewegung.




 Bei uns wäre leicht zu helfen. Die alten Bestimmungen der Kirchenordnungen bedürfen nur einer zeitgemäßen Fassung und Zusammenordnung, – das Kirchenregiment darf nur einsehen, daß sich Vertrauenssachen nicht anders behandeln lassen, als es ihrer Natur gemäß ist, – die Stimme des sorglichen Geizes darf nur nicht mitstimmen: wenige sehr einfache, klare Sätze dürfen nur anerkannt und ihnen die Folge fürs Leben gegeben werden. – –

 Doch das alles sind ja nur Sätze zur Überlegung und Konferenzfragen.





  1. Parochie ist Pfarrei, Parochus – Pfarrer, auch im Unterschied von den ihm untergeordneten zweiten oder dritten Geistlichen (Diakonen, Helfern etc.) so genannt.
  2. Verstehe die ersten Anfänge, Ansätze dazu.
  3. Die Kasuistik, eine bei uns fast unbekannt gewordene, aber sehr wichtige, theologische Wissenschaft, beschäftigt sich mit der Beantwortung und Entscheidung schwieriger Fragen und einzelner Fälle (casus), die im christlichen und kirchlichen Leben Vorkommen.
    D. Red. 
  4. Der Presbyter poenitentialis (S. Socrates Hist. eccl. L. IV. c. 19. Sozom. L. VII. c. 16) ist etwas ganz anderes, hierher gar nicht Gehöriges. Er bestand zudem nicht lange.
  5. Laterankonzil von 1205. Innocenz III. ist Urheber der Ohrenbeichte. Merkwürdiger Kanon: „Alle sollen ihre Sünden des Jahres wenigstens einmal ihren Priestern bekennen.“ S. Pertsch vom Recht des Beichtstuhls. S. 242. 446 etc. Dedekens Thesaur. P. III. L. I. Memb. 3. Sect. 3. Nr. 58. (Pertsch S. 434.) Es ist übrigens dem Pertsch nicht zu trauen. Sein Eifer gegen die Privatbeichte verblendet ihm die Augen. Sonst würde er zwar allerdings nicht die Form der späteren Privatbeichte, aber doch die Sache, und sogar die Anfänge der späteren Form im Altertum gefunden haben. Vergl. S. 143 die Stelle aus Origenes, S. 174, aus Basilius, S. 175 aus Gregorius Nyssen etc.
  6. Wenn J. Gerhard S. 427 bei Pertsch oder LL. T. VI. De minist. eccl. Sect. VII. § 117. S. 196 sagt, man müsse bei dem bleiben, der richtig lehre und die Sakramente richtig verwalte; so beruht dies teils auf einer leicht zu entschuldigenden Identifizierung des Parochial- und Beichtverhältnisses, teils wollte Gerhard die übrigen Lösungsgründe keineswegs damit außer Kraft setzen.
  7. Es ist vielleicht gut, auf die Praxis der Römischen ein Auge zu werfen. Die Römischen verlangen, daß der Parochus Erlaubnis zum Gebrauch eines andern Beichtvaters gebe, – zur Erlaubnis verlangen sie Angabe einer Ursache – Ursache kann auch die Unerfahrenheit des eigenen Pfarrers sein. Will der Pfarrer die Einwilligung nicht geben, so kann man ohne weiteres zu einem andern gehen. (Pertsch S. 421.) Pertsch mißdeutet übrigens S. 409 die Bestimmungen des Conc. Trident. Sess. XXIV. De reform. C. 13. Es wird Ein Parochus befohlen, aber dennoch größere Freiheit gewährt. – –
     Die gewöhnlichen Einwendungen gegen eine größere Freiheit im Beicht- und Abendmahlgehen, als z. B. durch den Gebrauch eines andern Beichtvaters außer dem ordinarius werde dieser verdächtigt; es werde Ärgernis gegeben (gewöhnlich so viel als: der ordinarius müsse sich „zu sehr ärgern und in die Hitze geraten“ etc.) werden von Pertsch gut abgefertigt. S. 423. 425. 447.
  8. Bei den Römischen fließt alle geistliche Gewalt aus der apostolischen Macht eines Einzigen. Dieser gibt den parochis und der gesamten priesterlichen Schar Fug und Macht Beichte zu hören und zu absolvieren und reserviert sich, [569] was ihm gut dünkt. (Pertsch 413.) Da fällt das Ansehen eines Parochus und die Heiligkeit des Parochialverbands. Bei uns aber sind alle Presbyteren gleich, alle Gemeinden gleichen Rechtes, alle geistliche Gewalt stammt von dem ordentlichen Beruf; – alles Kirchenregiment steigt aus dem Schoß frei vereinigter Gemeinden und aus dem Begriff der Ordnung empor: es gibt keine geistliche Obrigkeit in dem Sinn, wie es weltliche Obrigkeit gibt, nämlich keine über den Hirten der Herde, den Presbyter hinaus. Da muß das Parochialverhältnis um so heiliger gehalten werden. Da gehört eine Überzeugung von der Rechtgläubigkeit und richtigen Sakramentsverwaltung in anderen Gemeinden, von der konfessionellen Zusammengehörigkeit dazu, um sagen zu können: wir sind überall daheim – in der Parochie und da und dort in fernen und nahen Orten. Das Parochialverhältnis (Episkopat im Neutest. Sinn) ist das einzige göttliche kirchenregimentliche Verhältnis, – alles übrige Kirchenregiment ist, wo nicht Gewalt für Recht ergeht, die Ausübung gegebenen Auftrags mehrerer oder vieler frei vereinigter Gemeinden, ist de jure humano (menschliche Einrichtung). Das wird richtig sein, so lang die Göttlichkeit des Episkopats im nachapostolischen Sinn nicht zugegeben werden kann.


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