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Autor: Wilhelm Kahl
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Titel: Staat und Kirche
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aus: Handbuch der Politik Erster Band: Die Grundlagen der Politik, Zweites Hauptstück: Der Staat, Abschnitt 9, S. 86−106
Herausgeber: Paul Laban, Adolf Wach, Adolf Wagner, Georg Jellinek, Karl Lamprecht, Franz von Liszt, Georg von Schanz, Fritz Berolzheimer
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Entstehungsdatum: {{{ENTSTEHUNGSJAHR}}}
Erscheinungsdatum: 1914
Verlag: Dr. Walther Rothschild
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Erscheinungsort: Berlin und Leipzig
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[86]
9. Abschnitt.


Staat und Kirche.
Von
Geh. Justizrat D. Dr. Wilhelm Kahl,
o. Professor der Rechte an der Universität Berlin.


1. Allgemeines.

Eichhorn, Grundsätze des Kirchenrechts etc., Bd. I (1831) S. 50 ff., 128 ff., 180 ff., 214 ff., 266 ff, Bd. II (1833) S. 208 ff.
Richter-Dove-Kahl, Lehrb. des Kirchenrechts, 8. Aufl. (1880) §§ 15, 22–24, 30, 44, 48, 52. 69, 74, 98–102.
Friedberg, Lehrb. des Kirchenrechts. 6. Aufl. (1909) §§ 10, 12, 14 f., 19 f., 29 f.; De finium inter ecclesiam et civitatem regundorum judicio etc. 1861; Die mittelalterlichen Lehren über daa Verhältnis von Staat und Kirche in Zeitschr. f. K. R. Bd. VIII (1869): Die Grenzen zwischen Staat und Kirche und die Garantien gegen deren Verletzung, 1872.
Hinschius, Allgemeine Darstellung der Verhältnisse von Staat und Kirche im Hdb. d. öff. Rechts. Bd. I, 1 (1883).
Kahl, Lehrsystem des Kirchenrechts und der Kirchenpolitik, I. (1895) S. 246–412; Die Verschiedenheit kathol. und evang. Anschauung über das Verhältnis von Staat und Kirche, 1886; Aphorismen zur Trennung von Staat und Kirche, 1908.
Scherer, Handb. des Kirchenrechts Bd. I, 1886. § 14.

[87]

– v. Mohl. Staatsrecht, Völkerrecht und Politik. Bd. II (1862) S. 171 ff.
Bluntschli, Deutsches Staatswörterb., Bd. V. (1860) S. 564 ff., Über das Verhältnis des modernen Staates zur Religion, 1868. Ges. kl. Schr., Bd. II. S. 148 ff.
– G. Meyer-Anschütz, Lehrb. d. Deutschen Staatsrechts. 6. Aufl. (1905) S. 844 ff.
Sohm, Das Verhältnis von Staat und Kirche etc., in Zeitschr. f. K. R. Bd. XI ( 1873) S. 157 ff.
Singer, Zur Frage des staatlichen Oberaufsichtsrechtes. Mit besonderer Rücksicht auf das Verhältnis des modernen Staates zur katholischen Kirche. Deutsche Zeitschr. f. K. R. Bd. V (1895) S. 60 ff., Bd. VIII (1898) S. 30 ff.
– O. Mayer, Staat und Kirche. Real-Enzykl. f. prakt. Theol. und Kirche. 3.Aufl. Bd. XVIII, S. 707 ff.
Zeller Staat und Kirche, 1873.
Martens, Die Beziehungen der Überordnung, Nebenordnung und Unterordnung zw. Kirche und Staat, 1877.
Knitschky, Staat und Kirche, 1886.
Nippold, Die Theorie der Trennung von Kirche und Staat geschichtlich beleuchtet, 1881.
Rieker, Die Stellung des modernen Staates zur Religion und Kirche, 1895.
Simons, Freikirche, Volkskirche, Landeskirche, 1895.
Frantz. Das Rechtsverhältnis von Staat und Kirche, insbesondere Trennung von Staat und Kirche, 1905.
Geffcken, Staat u. Kirche in ihrem Verhältnis geschichtlich entwickelt. 1875.
Maassen, Neun Kapitel über freie Kirche und Gewissensfreiheit, 1876.
Troeltsch, Die Trennung von Staat und Kirche, der staatliche Religionsunterricht und die theologischen Fakultäten, 1908.
Rothenbücher, Die Trennung von Staat und Kirche, 1908.

2. Einzelstaaten und Ausland.

Lehmann, Preussen und die katholische Kirche, 6 Bde., 1878–93.
– v. Bar, Staat und katholische Kirche in Preussen, 1883.
– v. Sicherer, Staat und Kirche in Bayern. 1874.
– E. Mayer, Die Kirchenhoheitsrechte des Königs von Bayern. 1884.
Golther, Der Staat und die katholische Kirche in Württemberg, 1874.
Friedberg, Der Staat und die katholische Kirche in Baden. 1874.
Gladstone, Der Staat in seinem Verhältnis zur Kirche. 4. Aufl. übersetzt v. Treuherz, 1843, insbes. Kap. VI, S. 280 ff.
Hatschek, Englisches Staatsrecht, Bd. I, 1905. S. 628 ff.
Rüttimann, Kirche und Staat in Nordamerika, 1871.
Thompson, Kirche und Staat in den Vereinigten Staaten von Nordamerika, 1873.
Holst, Das Staatsrecht der Vereinigten Staaten in Amerika, Hdb. d. ö. Rs. Bd. IV, 1, 1884. S. 169 ff.
Köstlin, Das Verhältnis von Kirche und Staat in den Vereinigten Staaten Nordamerikas mit Bezug auf ihr Verhältnis in Deutschland, Theol. Stud. und Krit. 1889 (Jg. 1862, Bd. 2) S. 508 ff.
– O. Mejer, Die deutsche Kirchenfreiheit etc. mit Hinblick auf Belgien, 1848.
– v. Salis, Die Entwickelung der Kultusfreiheit in der Schweiz, 1894.
Gareis u. Zorn, Staat und Kirche in der Schweiz. 1877.
Orelli, Hdb. d. ö. Rs. Bd. IV, 1 (1885) S. 138 ff.
Minghetti, Staat und Kirche, Aut. Übers. 1881.
Geigel, Das Italienische Staatskirchenrecht, 2. Aufl. 1886.
Brusa, Das Staatsrecht des Königreichs Italien, Hdb. d. ö. Rs., Bd. IV, 1. Abt. 7, S. 425 ff.
– Für Frankreich das gesetzgeberische Material bei Sägmüller, Die Trennung von Kirche und Staat, 1907.
– E. Förster, Ist das französische System der Trennung von Staat und Kirche aut die Verhältnisse in Deutschland anwendbar? Preuss. Kirchenzeit. 1906, No. 14–16.
– O. Mayer, Die Frage der Trennung von Staat und Kirche in der Gegenwart, Neues Sächs. Kirchbl. 1906, No. 31, 32.
Die französische Literatur in dem angef. Buch von Rothenbücher, S. 187 ff. und bei Kahl, Aphorismen, S. 32 f.


Die nachfolgende Skizze über das Verhältnis von Staat und Kirche tritt nicht in den Dienst eines bestimmten staatskirchlichen Programms. Ihr Zweck ist nicht ein parteipolitischer, sondern ein wissenschaftlicher. Sie stellt sich als Aufgabe, den Inhalt des vielgestaltigen Problems selbst darzulegen und die allgemeinen Bedingungen nachzuweisen, von denen seine Lösung abhängig ist. Der Verfasser muss seinen persönlichen Standpunkt freimütig wahren, vor allem aber bedacht sein, dem Leser das Material der selbständigen Entscheidung zu erschliessen.

Die kurze Formel „Verhältnis von Staat und Kirche“ schliesst Abertausende von Tatsachen, Rechtssätzen und Einzelfragen in sich ein. Wie ist dem Wesen der Sache näher zu kommen ? Nicht auf dem Wege apriorischer Konstruktion. Die Philosophie kann dieses trotz seines Begriffreichtums und seines idealen Stoffes durch und durch realistische Problem nicht bewältigen. Es gibt kein allgemein und ewig gültiges Normalverhältnis von Staat und Kirche. Denn keines von beiden ist an sich eine gleichartige, konstante und einheitliche Grösse. Einer Menge von Staaten steht eine Mehrheit von Kirchen gegenüber, die einen wie die anderen mit bestimmter Individualität, historischer Eigenart, selbständigen Lebensbedingungen. So kann unmöglich in den Beziehungen beider auf alle das Gewand einer einheitlichen Verhältnisordnung passen. Diese Tatsache weist auf den einzig gangbaren und Erfolg verheissenden Weg. Das Problem ist empirisch geschichtlich anzufassen. Hinwiederum aber bedeutet das nicht ein Sichverlierenmüssen in die Zersplitterung aller einzelnen Staats- und Kirchenwesen. Vielmehr ermöglicht und verbürgt gerade die historische Methode eine geschlossene Betrachtungsweise. Denn wir sind in der Lage, aus einer Höhe und Entfernung von sechzehn Jahrhunderten die Entwicklung des Verhältnisses von Staat und Kirche zu übersehen. Diese Rundsicht über die Gesamtentwickelung liefert das überaus wertvolle Resultat, dass bei allem Reichtum und aller Verschiedenartigkeit der Entwicklungsformen doch eine gewisse natürliche Gesetzmässigkeit in der Gesamtentwickelung des Verhältnisses von Staat und Kirche [88] je und je bestanden hat, also auch ferner bestehen wird. Wohl nur in weitgespanntem Bogen. Aber immerhin, sie besteht. Es waltet auch hier ein universalgeschichtliches Entwickelungsprinzip. Gelingt es, dieses zu fassen, dann ist es auch möglich, auf der Gesamtentwickelungslinie den Punkt annähernd zu fixieren, auf welchem sich gegenwärtig die Dinge befinden. Erst dann kann auch mit einiger Sicherheit von den Zielen und Erwartungen der Zukunft zu reden sein.

Wir stellen das kurze Ergebnis voran. Das erwähnte universalgeschichtliche Entwickelungsprinzip ist ein stetiger Gang von anfänglich engster Vereinigung beider Gemeinschaften zu immer mehr sich durchsetzender Unterscheidung. Es versinnbildlicht sich dem geistigen Auge durch die Vorstellung zweier Kreise, welche zuerst sich decken, sich weiterhin schneiden, sodann an der Peripherie berühren, um endlich ganz auseinander zu streben. Die Berührung an der Peripherie bezeichnet ungefähr den Beharrungspunkt der Gegenwart. Der gesamtgeschichtliche Entwickelungsgang offenbart hiernach zwei Grundverhältnisformen von Staat und Kirche: ihre Einheit und folgeweise Verbindung, ihre Unterscheidung und folgeweise Lösung. Dort gehen Zwecke, Funktionen, Organe beider Gemeinschaften in einander auf oder über. Hier gehen sie teilweise oder ganz auseinander. Innerhalb beider Grundtypen haben sich die konkreten Gestaltungen und Übergangsformen der Einheit wie Verschiedenheit gebildet. In grosser Mannigfaltigkeit zwar, aber doch in gewissen charakteristischen Merkmalen übereinstimmend. Ihre abgeschlossenen, geschichtlichen Resultate bezeichnet die Reflexion als kirchenpolitische Systeme. Es sind drei solcher Systeme, welche sich auf der Linie, je der Einheit und je der Verschiedenheit von Staat und Kirche entwickelt haben. Ihre technische Bezeichnung bleibt vorbehalten.

Mit diesen Feststellungen ist der Grundriss dieses Entwurfs gezeichnet. Es sind zunächst die entscheidenden universalgeschichtlichen Tatsachen in ihrem inneren und äusseren Zusammenhang zu ordnen und kritisch zurechtzustellen (I). Demnächst wird der wesentliche Rechtsinhalt des in Deutschlnad herrschenden kirchenpolitischen Systems zu fixieren sein (II). Endlich möge die Auseinandersetzung mit den Fragen und Sorgen der Zukunft den Gedankengang schliessen (III).

I. Geschichtliches. Unter Verhältnis von Staat und Kirche verstehen wir Rechtsverhältnis, also den Inbegriff von rechtlich geordneten Beziehungen zwischen beiden. Die Geschichte eines Verhältnisses in diesem Sinne konnte erst unter Konstantin und Licinius im Jahre 313 christlicher Zeitrechnung beginnen. Bis dahin waren die Christen entweder als angebliche jüdische Sekte übersehen, oder als Schwärmer mitleidig geduldet oder als Hochverräter blutig verfolgt. Die Begründung eines Rechtsverhältnisses setzte staatlich anerkannte Rechtsfähigkeit der Kirche im römischen Reich voraus. Diese Anerkennung wurde erstmalig im Mailänder Toleranzedikt aus dem genannten Jahre gewährt. Ein wunderbarer Anfang der Geschichte des Verhältnisses von Staat und Kirche. Toleranz nicht etwa bloss für die Christen, sondern Freiheit und Gleichheit für Alle, für Christen, Heiden und Juden. Vollkommene Gewissens- und Kultusfreiheit. Das Mailänder Toleranzedikt, von Ranke eine der vornehmsten Urkunden der Weltgeschichte genannt, könnte in jeder modernen Verfassungsurkunde stehen. Es proklamierte den paritätischen Staat. Ohne Vermessenheit darf man der Phantasie die Frage vorlegen, was wohl geworden wäre, wenn sich auf dieser Grundlage das Verhältnis von Staat und Kirche weiter entwickelt hätte? Viel Spaltung, viele Zwingherrschaft, viel Blut wäre vielleicht vermieden worden. Aber es kam anders. Noch vor dem Schluss des 4. Jahrhunderts war der Freibrief von 313 wieder zerrissen. Im Jahre 380 wurde von Theodosius die christliche Religion zur ausschliesslichen und allein berechtigten Staatsreligion erklärt, die Kirche zur Staatskirche, man darf nicht sagen erhoben, sondern erniedrigt. Gewiss glaubte der grosse Kaiser damit dem Christentum und der Kirche den besten Dienst erwiesen zu haben. Er hat ihr den schlechtesten getan. Er hat ihr innerstes Wesen, die Freiheit auf dem Wege zu Gott, verleugnet und verkehrt. In Namen Christi begann nun der Vernichtungskampf der Gesetzgebung und des Schwertes gegen Heiden und Ketzer. Römischer Staat und christliche Kirche sind eins geworden. Der Staat hat die falsch verstandene Aufgabe des Christentums zu der seinigen gemacht und führt sie mit seinen Machtmitteln durch. Diese am Ende des 4. Jahrhunderts begründete Einheit hat auf nicht weniger als vierzehn Jahrhunderte hinaus das massgebende Prinzip für die Verhältnisbildung von Staat und Kirche abgegeben. Freilich im Gewand sehr verschiedenartiger [89] und sich widersprechender kirchenpolitischer Systeme, aber im Wesen gleich. Denn mit jener reichsgesetzlich proklamierten Einheit von 380 war offenbar die Möglichkeit einer doppelten Entwickelung in die Weltgeschichte gelegt. Der Staat konnte sich die Kirche, die Kirche sich den Staat eingliedern. Einheit in beiden Fällen. Im einen Fall dargestellt durch die Herrschaft des Staates über die Kirche, im andern verwirklicht durch die Herrschaft der Kirche über den Staat. Die Geschichte hat beide Folgerungen gezogen, nachdem schon im Jahre 395 die Teilung des römischen Reichs in die östliche, morgenländische mit der Hauptstadt Byzanz und in die westliche abendländische Hälfte mit der Hauptstadt Rom vollzogen war.

Die Kaiser von Byzanz verengerten den Einheitsgedanken zur absoluten Herrschaft des Staates über die Kirche. Seinen klassischen Ausdruck fand dieses Verhältnis in der Gesetzgebung Justinians, vor allem im Cod. Just., lib. I, tit. 1–13. Kein kirchliches Rechtsverhältnis, von Dogma und Kultus fortschreitend bis zu Disziplin und Kirchenvermögen, welches nicht hier von der omnipotenten Gesetzgebungsgewalt der Kaiser geregelt worden wäre. Sie beherrscht das Kirchenwesen nach all seinen inneren und äusseren Beziehungen. Der Byzantinismus ist der weltgeschichtliche Typ für die bedingungslose Unterordnung unter den Willen des Staats geworden. Von den weiteren Schicksalen der Entwickelung im Morgenland ist hier abzusehen und nur das Resultat zu fixieren. Die Einheit von Staat und Kirche im Sinne der absoluten Staatsherrschaft ist für alle aus dem Orient hervorgegangenen Kirchenkörper bis in die Gegenwart hinein die massgebende Verhältnisform geblieben. So verschieden auch unter den wechselvollen Einflüssen der politischen Geschichte die Schicksale jener Kirchen und ihrer zahlreichen Denominationen sich gestaltet haben, nirgends hat sich eine grundsätzliche Scheidung des politischen und religiösen Elements, der staatlichen und kirchlichen Organisation vollzogen, weder im Verhältnis des Staats zur griechisch-orthodoxen Kirche des russischen Reichs, noch im Königreich Griechenland oder in den Balkanstaaten. Auch die abendländisch mittelalterliche Geschichte hat ähnliche Perioden absoluter Staatsherrschaft über die Kirche durchlaufen und ebenso ist der Protestantismus in den beiden ersten Jahrhunderten seines Bestehens kaum mehr als ein Departement der Staatsverwaltung gewesen. Aber überall war dieses Verhältnis im Abendland nur Übergangsform, die Lebenskreise der Kirchen haben sich schliesslich mit relativer Selbständigkeit im Staate bewegt. Die orientalischen Kirchen dagegen haben die ursprüngliche Ausstattung des Byzantinismus in allen wesentlichen Zügen beibehalten.

Anders die Entwickelung im Abendland. Hier lösten sich in Jahrhunderte langem Wechsel die beiden Formen des Einheitsgedankens ab.

Durch eine merkwürdige Gruppierung der Gedanken gebenden Personen und entscheidenden geschichtlichen Tatsachen hat sich hier in grossem Stile der Einheitsgedanke zunächst im Sinne der absoluten Herrschaft der Kirche über die Staaten abgeschlossen. Allerdings erst nach endlosen Reibungen und Schwankungen, nach heftigem Ringen der christianisierten germanischen Staaten, nach Überwindung der Gegenkraft mächtiger Träger des Staatsgedankens, fränkischer und deutscher Könige. Aber vom Höhenstandpunkt retrospektiver Betrachtung erscheinen alle diese Kämpfe mit der päpstlichen Gewalt nur als wechselvolles Schlachtenspiel in dem unaufhaltsamen Siegeszuge Roms. Die urkundliche Deckung für die kirchliche Weltherrschaft war schon im 9. Jahrhundert durch die gefälschten Dekretalen Pseudoisidors beschafft. Die hierin verbrieften Rechte wurden durch die führenden Päpste, beginnend mit Gregor VII. und endigend mit Bonifaz VIII. in Taten umgesetzt. Am Ende des 11. Jahrhunderts ist die absolute Kirchenherrschaft etabliert und sie weiss sich bis zu dem Anfang des 14. zu behaupten. Ihre höchste quellenmässige Offenbarung hat sie in geschlossener und zwingend folgerichtiger Gedankenreihe vor allem in dem grossen kanonischen Rechtsbuch des Mittelalters, dem Corpus juris canonici gefunden. Viele Hunderte von Dekretalen zeugen von dem hier bis ins feine und kleine durchgebildeten System der weltumspannenden päpstlichen Suprematie. Die monumentalste Einzelurkunde dieses Rechtsbuches ist die Bulle Unam Sanctam von 1302, doppelt interessant als Zeugnis vom Höhepunkt und zugleich vom Wendepunkt der päpstlichen Allgewalt. Die Summe des ganzen aber ist diese. Die Kirche der die ganze Menschheit umfassende göttliche Universalstaat. Das Haupt der Kirche also auch das Haupt der Welt. Die Gottgegebene Gewalt des Papstes ist priesterliche und königliche zugleich. Er hat die beiden [90] Schwerter, das weltliche und das geistliche. Daher ist jede andere Gewalt von der päpstlichen abgeleitet. Der Papst übt die Lehensoberherrlichkeit über alle christlichen Staaten, auch über das deutsche Reich. Der deutsche Kaiser muss ihm folgerichtig den Vasalleneid leisten. Staat und Kirche verhalten sich wie Körper und Geist, Mond und Sonne, Blei und Gold. Daher hat die Staatsgewalt der Kirchengewalt in allem dienstbar zu sein. Sie muss der Kirche das weltliche Schwert, das brachium saeculare auf den Blick und nach Willen des Priesters zur Verfügung stellen. Der Kaiser muss dem Papst den Steigbügel halten. Der Staat muss die katholische Glaubenseinheit bewahren, muss die Urteile der kirchlichen Gerichte vollstrecken. Die Päpste ihrerseits haben das Recht, Staatsgesetze aufzuheben, Könige zu entthronen und die Throne wieder zu besetzen. Von der Unterwerfung unter diese Gewalt ist nach den Schlussworten der Bulle Unam Sanctam das ewige Seelenheil abhängig. Die notwendige reale Basis der päpstlichen Universalherrschaft endlich ist der weltliche Herrschaftsbesitz, der Kirchenstaat. Er ist das Annex der königlichen Gewalt und zugleich die als unentbehrlich geachtete Voraussetzung für die unbehinderte Ausübung der geistlichen. Dieses kirchenpolitische System bezeichnet man passend als mittelalterliches Kirchenstaatstum. Der Staat eingeschlossen, umklammert vom Kirchentum. Der Kirchenstaat der Boden, der es erzeugt, von dem aus es seine universelle Wirkung geübt, auf dem sich zuletzt sein Schicksal erfüllt hat. Unter der freiwilligen Unterordnung der ganzen abendländischen Welt hat es sich drei Jahrhunderte lang durchgesetzt.

Seit dem 14. Jahrhundert bereitet sich eine Umkehr der Herrschaftsverhältnisse vor. Der weiteren tatsächlichen Verwirklichung des Kirchenstaatstums wurde je länger je mehr der Boden entzogen. Renaissance, Reformation, Staatsabsolutismus zerstören die Bedingungen der päpstlichen Ein- und Alleinherrschaft. Es bildet und behauptet sich bis tief in das 18. Jahrhundert ein kirchenpolitisches System, das man als Gegenbild des vorigen zutreffend mit Staatskirchentum bezeichnet. Freilich nur eine Kollektivbezeichnung. Denn je nach der Eigenart von Staaten und Herrscherpersönlichkeiten bot sich das System bei aller Einheit des Grundgedankens in ungemein reicher geschichtlicher Ausprägung dar. Es reproduzieren und variieren sich in ihm die Gedanken des Byzantinismus. Von den mittelalterlichen und nachmittelalterlichen Erscheinungsformen im Abendland seien drei genannt. Unmittelbar die päpstliche Theokratie im alten deutschen Reiche ablösend der Caesareopapismus zwischen dem 14. und 16. Jahrhundert. Der Kaiser selbst ist ein Papst. Er geht dem Papste vor. Das Problem von Staat und Kirche hat sich zu einer Personenfrage zugespitzt. Der Kaiser, die Kurfürsten und anderen Fürsten haben ihre Gewalt ebenfalls unmittelbar und selbständig von Gott. Diese Erkenntnis war von der Wissenschaft gekommen. Dante, Marsilius von Padua waren die führenden Geister. In grossen geschichtlichen Ereignissen trat der Umschwung der Machtverhältnisse hervor, im Siege Ludwigs des Bayern über Johann XXII, in den Beschlüssen des Kurvereins zu Rense, in der goldenen Bulle, in der energischen Zurückweisung der päpstlichen Machtansprüche durch die Landesherrn (Dux Cliviae est Papa in suis terris), in den hundert Beschwerden endlich der deutschen Nation, in denen die weltlichen Reichsstände drohen, die vom Papst vernachlässigte Verbesserung des Kirchenwesens selbst vorzunehmen. Die centum gravamina stehen bereits an der Schwelle der Reformation. Diese ihrerseits hat eine besondere Erscheinungsform des Staatskirchentums im sogenannten Territorialismus der protestantischen Staatswesen gezeitigt. Seine Blütezeit liegt im 16. bis 18. Jahrhundert. Seine Haupterkenntnisquelle sind die Kirchen- und Konsistorialordnungen dieser Zeit. An sich stand der Territorialismus durchaus im Widerspruch mit der Tatsache und den Prinzipien der Reformation. Diese hatte die hierarchische Einheit der Kirche zerbrochen und den Staat zuerst zwei, seit Ende des 16. Jahrhunderts drei Konfessionskirchen gegenübergestellt. Die folgerichtige Entwickelung wäre schon damals der paritätische Staat und die sachliche Scheidung der staatlichen und kirchlichen Zuständigkeitsgebiete gewesen. So mögen wir heute logisch kalkulieren. Aber in der unendlichen Kompliziertheit der geschichtlichen Realitäten lagen damals noch unermessliche Hindernisse. Vor allem eines: Herrscher und Staaten waren in der Religionsfrage noch nicht geschieden. Jene hatten, in zwei Lager geteilt, persönlich für und gegen die Reformation gekämpft. In die gleichen Lager teilten sich, mit wenigen Ausnahmen, die Staaten selbst. Sie waren konfessionell, katholische oder protestantische Religionsstaaten. Der Herrscher hatte das Bestimmungsrecht. [91] Cujus regio ejus religio. So konnte sich der paritätische Staatsgedanke noch nicht festsetzen, höchstens gab er mehr oder weniger weitgehende Duldung gegen Andersgläubige. Im ganzen blieb die Einheit von Staat und Konfessionskirche. Die protestantische wurde in den Territorien ihres Bekenntnisses Staatsanstalt. Schon am Ende des 16. Jahrhunderts war im wesentlichen überall gleich die protestantische Kirchengewalt mit der Staatsgewalt verbunden, die Kirche kein vom Staat unterschiedener Lebenskreis. Der Staat herrscht über die Kirche. Alles dies gegen den Geist der Reformation und gegen die Absicht der sächsischen Reformation, namentlich Luthers. „Man soll geistliches und weltliches Regiment sondern, soweit als Himmel und Erde sind.“ „Euer Kurfürstlichen Gnaden ist geistlich zu regieren nicht befohlen.“ „Die Obrigkeit hat nichts ins Evangelium hineinzureden.“ Aber diese grundsätzlichen Verwahrungen vermochten den Gang der Tatsachen nicht aufzuhalten. Indem Luther, unter Beziehung auf Kaiser Constantins Verhalten gegen die Irrlehre der Arianer, von der weltlichen Obrigkeit den Schutz für den Bestand der reinen Lehre forderte und Melanchthon ihr das Wächteramt über beide Gesetzestafeln vindizierte, war der Grund zu derjenigen Tatsachenreihe gelegt, welche den Territorialismus begründete. Die Vermittelung geschah durch die Begründung des landesherrlichen Kirchenregiments. Es war die in der Natur der Sache gelegene Konsequenz, dass die Staatsgewalt, ihrem innersten Wesen folgend, die ihr anvertraute Kirchengewalt nun auch nach ihrer eigenen Weise, mit ihren weltlichen Mitteln, und in staatlichem Geiste handhabte. Daher das protestantische Staatskirchentum. Dieses hinwiederum erzeugte eine Parallele in dem kirchlichen Staatsabsolutismus der katholischen Staaten, der Anwendung desselben Beherrschungsprinzips auf die katholischen Landeskirchen im 17. und 18. Jahrhundert. Charakteristische Typen dieser Erscheinungsform des Staatskirchentums bieten vor anderen Frankreich, Bayern und Österreich. In Frankreich mit seinem Höhepunkt unter Ludwig XIV, in Bayern unter den Kurfürsten Maximilian I und Maximilian Josef, in Österreich unter Josef II. Überall bei erstaunlicher Mannigfaltigkeit der rechtlichen Ausbildung derselbe Grundgedanke und derselbe Erfolg: alles Kirchliche ist der Staatsidee untergeordnet. Das damals in Bayern inaugurierte System hat ein Historiker treffend als „kirchliches Polizeiregiment“ charakterisiert. Das ganze Gebiet der kirchlichen Gesetzgebung unter der Kontrolle des Staats, unter einem unerbittlichen mit Anwendung von Strafe und Temporaliensperre durchgesetzten Placet des Landesherrn, die gesamte innerkirchliche Verwaltung der Bischöfe und Pfarrer unter der landesfürstlichen Mitregierung. Das kirchliche Leben der Einzelnen staatlich strenge überwacht, jede Regung nicht katholischen Bekenntnisses unerbittlich unterdrückt. Die Landesherrn, persönlich streng gläubige Katholiken, hatten sich selbst in den Dienst der Kirche gestellt und suchten mit landesväterlicher Strenge die Organe der Kirche bei ihren kirchlichen Pflichten zu erhalten. Ihr Regiment hatte nicht eine die Freiheit der Kirche beschränkende Absicht, wohl aber fiel ihnen die Wohlfahrtspflege von Staat und Kirche in eine Berufsaufgabe zusammen.

Im 19. Jahrhundert löst sich auch das Staatskirchentum. Einzelne Staaten waren der Zeit vorangeeilt. So namentlich Brandenburg-Preussen schon seit dem grossen Kurfürsten. Der durch den Westfälischen Frieden von 1648 für das ältere deutsche Reich geschaffene Rechtszustand gab den Städten und Fürsten durchaus die Freiheit, mit dem überlieferten System der Einheit von Staat und Kirche zu brechen. Zwar bezog sich die in ihm gewährte Parität (exacta mutuaque aequalitas) nur auf die Reichsunmittelbaren, die Reichsstände selbst. Zugleich aber gab er diesen das Jus reformandi exercitium religionis in ihren Territorien. Sie gewannen damit das Recht des Religionsbannes, der Duldung und der Aufnahme der drei christlichen Reichskonfessionen. Je nachdem sie von diesem Reformationsrecht Gebrauch machten, konnten sie, wie in Österreich und Bayern, den alten Konfessionsstaat erhalten, oder, wie in Brandenburg-Preussen, die Gleichberechtigung der Konfessionen schon jetzt durchführen. Beide, die engherzigen und die weitherzigen konnten sich für ihre Religionspolitik gleichmässig auf das Grundgesetz des Reiches berufen. Den grundsätzlichen Bruch mit dem System der Vergangenheit brachte in grossem Stil und vorbildlich zuerst das Preussische Allgemeine Landrecht von 1794. Sein staatskirchenrechtlicher Teil, II. Tit. 11, atmet den Geist Friedrichs des Grossen. Gewissens- und Kultusfreiheit sind anerkannt. Die Staatsherrschaft ist zur Staatsaufsicht gemildert. Die Religionsgesellschaft ist in ihrer gemeindlichen Gliederung als ein nach Zweck und Verfassung vom Staate unterscheidbarer [92] und unterschiedener Organismus anerkannt. Konsequent ist die Differenzierung noch nicht durchgeführt, das Mass der Staatsaufsicht noch nicht überall richtig begrenzt, aber die Zukunft ist in allen entscheidenden Umrissen erkennbar. Das Verhältnis von Staat und Kirche soll auf die Grundlage gestellt werden, dass, weil sie in ihrem Wesen verschieden sind, auch ihr rechtliches Verhältnis mit Unterscheidung ihrer Organe und Zuständigkeiten geordnet werde. Der Staat müsse sich darauf beschränken, über die äusseren Rechtsverhältnisse der Kirchen- und Religionsgesellschaften eine aufsehende, ordnende und schützende Kirchenhoheit, als Teil seiner allgemeinen Staatshoheit, auszuüben, ihr dagegen für ihre inneren Verhältnisse Freiheit und Autonomie gewähren. Diese Ziele sind aus dem allgemeinen Zug der Entwickelung deutlich zu erkennen. Auf deutschem Boden geschichtlich bedingt war dieser Übergang zum System der Staatskirchenhoheit, wie man es passend nennt, durch den Reflex der grossen politischen Umwälzungen auf das Kirchenwesen am Anfang des 19. Jahrhunderts. Durch den Reichsdeputationshauptschluss von 1803 und die Rheinbundsakte von 1806 war im alten Reich so zu sagen kein Stein mehr auf dem andern geblieben, waren alte Territorien zertrümmert, neue Staaten gegründet. In ihnen waren durch die Ländergeometrie die Konfessionen bunt durcheinandergewürfelt. Der Konfessionsstaat war zerbrochen. Die in ihm dargestellte Einheit von Staaten und Kirchen war durch den Zusammenbruch des alten Reiches tatsächlich aufgelöst. Damit war die Entwickelung unwiderruflich auf die Linie des modern paritätischen Staates geschoben. In dem Anerkenntnis der Wesensverschiedenheit von Staat und Kirche waren nunmehr auch die inneren Bedingungen für das System der Staatskirchenhoheit gesetzt. Im Anschluss an das Preussische Allgemeine Landrecht hat es sich, zögerlich zuerst noch in der Gesetzgebung der deutschen Rheinbundsstaaten, allgemein sodann während des deutschen Bundes, im Zusammenhang mit der Einführung der konstitutionellen Staatsformen, in den Verfassungen des 19. Jahrhunderts entwickelt und durchgesetzt. Zuerst in Bayern in der Verfassung vom 26. Mai 1818, zuletzt in Preussen in der Verfassung vom 31. Januar 1850. Es ist das in Deutschland herrschende kirchenpolitische System der Gegenwart.

Sein Rechtsinhalt wird demnächst besonders zu prüfen sein. Vorerst aber sind auch die Schlussreihen der geschichtlichen Tatsachen des 19. und begonnenen 20. Jahrhunderts noch vollständig zu ordnen und die kirchenpolitischen Gesamtergebnisse zu würdigen. Denn parallel mit dem System der Kirchenhoheit haben sich noch zwei weitere Vorstellungen über die grundsätzliche Gestaltung des Verhältnisses von Staat und Kirche gebildet, welche, ohne sich im ganzen durchsetzen zu können, jenes doch widerspruchsvoll beeinflusst haben und auch in der Kirchenpolitik der Gegenwart eine entscheidende Rolle spielen.

Die eine dieser Vorstellungsreihen steht noch auf der Linie des Einheitsgedankens und wurde überwiegend von evangelischer Seite eingeführt. Es ist die Vorstellung vom interkonfessionell christlichen Staat. Das System des Staatschristentums hatte seinen geschichtlichen Anknüpfungspunkt in einem bekannten und merkwürdigen Vorgang. Nachdem durch die zuvor geschilderten Ereignisse die staatlich gezogene Scheidewand zwischen den Konfessionen gefallen und unter den Gerichten der Völkerkriege eine allgemeine religiöse Stimmung geboren war, lag die praktische Verwertung des allgemein Christlichen für das Staatsleben so zu sagen im Geist der Zeit. Er nahm Fleisch und Blut an in der heiligen Alliance vom September 1815. In Alexander I. von Russland, Franz I. von Österreich und Friedrich Wilhelm III. von Preussen schlossen die europäischen Repräsentanten der drei grossen christlichen Kirchen einen Bund, um „über den Zwiespalt des Bekenntnisses hinaus das Christentum zum höchsten Gesetz des Völkerlebens zu erheben“. Internationale Verwirklichung konnte der phantastische Plan nie finden. Wohl aber hat er Spuren in das national staatskirchliche Leben gezeichnet. In Deutschland hat er die Idee vom christlichen Staat propagandiert. Literarisch und parlamentarisch wurde sie hier mit Geist und Temperament vertreten. Ihre Vertretung ist mit dem Namen der Minister Eichhorn, v. Bodelschwingh, v. Mühler, der Professoren Stahl und Thiersch, auch Bismarcks eng verknüpft. Bei jedem mit einem im einzelnen besonders gearteten Programm und einem nach Beruf und Gelegenheit verschiedenartigen Zweck. Gemeinsam ist nur die Forderung, dass der Staat sich zwar nicht mehr mit einer bestimmten Konfessionskirche zu identifizieren, wohl aber für seine Einrichtungen einen allgemein interkonfessionell [93] christlichen Charakter zu schaffen und zu bewahren habe. Dieser christliche Staat sollte sich auf ein Christentum stützen, welches nicht der Inbegriff bestimmter dogmatischer Unterscheidungslehren wäre, sondern vielmehr eine Abstraktion aus den allen christlichen Bekenntnissen gemeinsamen Fundamentalwahrheiten. Ein bemerkenswerter positivrechtlicher Niederschlag dieser Bewegung ist der noch in Geltung stehende Art. 14 der Preussischen Verfassung: „Die christliche Religion wird bei denjenigen Einrichtungen des Staats, welche mit der Religionsübung im Zusammenhange stehen, unbeschadet der im Art. 12 gewährleisteten Religionsfreiheit, zum Grunde gelegt.“

Die zweite Vorstellungsreihe, welche parallel mit dem System der Kirchenhoheit in die Praxis eintrat, gleich diesem bereits auf der Linie der Unterscheidung von Staat und Kirche stehend, war von katholischer Seite eingeführt : der Anspruch der rechtlichen Gleichordnung von Staat und Kirche, das Koordinationssystem. Beide sind koordinierte souveräne Gemeinschaften, wie der Staat, so auch die katholische Kirche souverän auf ihrem ganzen aus eigener Vollmacht abgesteckten Rechtsgebiet. Daher kann ihr der Staat keine Grenzlinie im Staat durch seine Gesetzgebung ziehen. Er kann keine Kirchenhoheit in Anspruch nehmen, keine Staatsaufsicht über die Kirche ausüben. Solche ist an und für sich eine Verletzung der Kirchenfreiheit. Soweit eine Grenzregulierung überhaupt notwendig wird, soll sie, wie auch sonst unter den Souveränen des Völkerrechts, durch Vertragsschluss geschehen. Konkordate sind der sprechende Ausdruck des Systems. Ausserhalb der vertragsmässig abgegrenzten Kompetenzen richtet die Kirche ihre Rechtsordnung im Staate aus eigener Machtvollkommenheit auf und muss die Freiheit in Anspruch nehmen, sie mit ihren eigenen Machtmitteln durchzusetzen. Praktisch ist das System fast nur in eben denjenigen Fällen und Beziehungen geworden, in welchen die Verhältnisordnung zwischen den Staaten und der katholischen Kirche irgendwie durch vertragsmässige Festsetzungen geregelt wurde. Von prinzipiell mehr zurücktretender Bedeutung sind die Circumskriptionsbullen, d. h. auf Vereinbarung beruhende einseitig erlassene kirchliche und staatliche Verordnungen über die geographisch kirchliche Einteilung des Staatsgebiets und die für katholische Kirchenzwecke aufzuwendenden Staatsmittel. Der Abschluss von Konkordaten, d. i. prinzipiellen Grenzregulierungen in völkerrechtlich bindenden Verträgen gelang Rom in Frankreich 1801, in Bayern 1817, in Österreich 1855. Das französische Konkordat ist für Frankreich selbst durch die neueste Rechtsentwickelung beseitigt, für Elsass-Lothringen noch teilweise in Kraft. In voller Geltung steht das bayerische mit den durch die Verfassung und das Religionsedikt von 1818 für seiner Anwendbarkeit gegebenen Einschränkungen. Das Österreichische wurde auf Grund des Vatikanums 1870 gekündigt und durch die spätere Staatsgesetzgebung ausser Wirksamkeit gesetzt. Der von Rom eifrig betriebene Abschluss eines Konkordats mit Preussen scheiterte an der Abneigung Friedrich Wilhelm III., über unveräusserliche Majestätsrechte mit dem Papst zu paktieren; es kam nur zur Vereinbarung der Circumskriptionsbulle De salute animarum von 1821. Circumskriptionsbullen kamen ebenfalls zustande für das Königreich Hannover und die Staaten der oberrheinischen Kirchenprovinz. Als ein weiteres praktisches Residuum des Koordinationssystems kann auch noch die Unterhaltung gesandtschaftlicher Beziehungen mit dem päpstlichen Stuhl zu bezeichnen sein, wie solche für das deutsche Reich zwar eingestellt, von Preussen aber wieder aufgenommen worden ist. Aus der Zahl der wissenschaftlichen Verfechter des Systems seien die bekannten Namen Görres, Ketteler und Reichensperger hervorgehoben.

Beide Zwischensysteme konnten in die Entwickelung des Systems der Kirchenhoheit wohl Hemmungen und Anomalien hineintragen, aber seine grundsätzliche Verwirklichung in der Gesetzgebung der deutschen Staaten nicht mehr ausschliessen. Es stellt den objektiven Niederschlag des geschichtlich gewordenen Rechtsbewusstseins über das zeitige Normalverhältnis von Staat und Kirche dar. Zugleich bezeichnet es auf der universalgeschichtlichen Entwickelungslinie den ungefähren Ruhepunkt, auf welchem gegenwärtig das Verhältnis von Staat und Kirche in Deutschland sich befindet.

Den Ruhepunkt, nicht den Beharrungszustand. Einen solchen kann es in diesem schlechthin geschichtlich bedingten Verhältnis nicht geben. Schon jetzt beginnt die Entwickelung über diesen Punkt hinauszudrängen. Die Kirchenhoheit hat ihren Bestand gegen ein anderes kirchenpolitisches System zu behaupten, welches den Kreis der Verhältnisformen von Staat und Kirche überhaupt [94] schliesst: die Trennung von Staat und Kirche. Die Überführung des Systems der Kirchenhoheit in das der Trennung ist das Problem der Zukunft. Von seinem Inhalt und seinen Aussichten ist später besonders zu handeln. Es ist der einzige Konkurrent, welcher für die Zukunft Deutschlands in Betracht kommt.

Es scheiden für diese zunächst die beiden polarischen Einheitssysteme des Kirchenstaatstums und des Staatskirchentums aus. Sie gehören im ganzen einer unwiderruflichen Vergangenheit an. Beiden fehlen heute alle Voraussetzungen der Verwirklichung. Beide sind mit den Grundlagen des modernen Staates unvereinbar. Das eine vernichtet die Freiheit des Staats, das andere die der Kirche. Beide sind endgültig erledigt. Daran ändert auch nichts der Umstand, dass Rückfälle in beide Systeme sich ereignen, die Kirchenpolitik gelegentlich beunruhigen und vorübergehend sogar einen Einfluss auf Verwaltung oder Gesetzgebung ausüben konnten. Dies gilt zunächst in weitgehendem Masse von dem System des Kirchenstaatstums. Auch nachdem es seit dem 14. Jahrhundert sich nicht mehr im ganzen durchsetzen konnte, hat es doch zu bestehen nicht aufgehört. Es ist das offizielle System der römischen Kurie geblieben. Dies hat sich teils in zahllosen theoretischen Verwahrungen, teils in einzelnen praktischen Vorstössen offenbart. Unter jenen ist von bleibender Bedeutung die Erfindung der sogenannten Privilegientheorie zur Erklärung der rechtlichen Natur der Konkordate; hiernach sind diese päpstliche Indulte, in welchen die Kirche dem Staat gnadenweise gewisse Rechte konzediert. Unter den praktischen Vorstössen älterer Zeit behält monumentale Bedeutung die durch eine einzigartige Sammlung von Verwünschungsformeln ausgezeichnete Bulle Innocenz X Zelo Domus Dei vom 20. November 1648, durch welche der westfälische Friede für null und nichtig erklärt wurde. Als Zeugnisse aus neuerer Zeit sind erwähnenswert die Encyklika Respicientes ea omnia vom 1. November 1870, durch welche der göttlich begründete Anspruch auf den Besitz des Kirchenstaats verwahrt wird, die Enzyklika Quod nunquam vom 5. Februar 1875, in welcher Pius IX. den Anachronismus unternahm, die Preussischen Maigesetze für null und nichtig zu erklären, vor allem aber der Sylabbus errorum vom 8. Dezember 1864, in welchem u. a. jede vom päpstlichen System abweichende Gestaltung des Verhältnisses von Staat und Kirche als Zeitirrtum, Gewissens- und Kultusfreiheit als Wahnsinn verworfen wird. Auch das Vatikanische Konzil bedeutet einen Markstein in der geschichtlichen Reihe dieser prinzipiellen Verwahrungen. Durch die Constitutio Pastor aeternus ist allen früheren päpstlichen Aussprüchen ex cathedra über das Verhältnis von Staat und Kirche der Charakter der Unfehlbarkeit beigelegt und damit das Ganze der mittelalterlichen Hoheitsansprüche dem Quellenbestande des geltenden Rechts einverleibt. In aller Gedächtnis sind endlich die Vorstösse, welche in zahlreichen Dekreten Pius X gegen Modernismus und Parität unternommen hat. Allerdings steht diesen Zeugnissen gegenüber die Tatsache, dass das Papsttum selbst in vielen Fällen von den Forderungen der absoluten Kirchenherrschaft einiges nachgelassen hat. Die amtlich hierfür aufgestellte römische Formel lautet: „ratione temporum habita concedimus.“ Aber eben diese Formel schliesst die prinzipielle Verwahrung in sich ein. Diese prinzipielle Verwahrung wird sich in der einen oder anderen Form immer wiederholen. An der modernen Entwickelung des Verhältnisses von Staat und Kirche wird sie nichts mehr ändern. Zweifellos hat das System eine weltgeschichtliche Mission erfüllt, seinen Zeitaltern Grosses geleistet und eine Menge von Kulturwerten gesichert. Aber es ist unmöglich für Gegenwart und Zukunft. Der gute Glaube an die Authenticität der Rechtsquellen, auf die es sich stützen konnte, ist zerstört. Es fehlt ihm die Legitimation der freiwilligen Unterordnung der Staaten. Die Voraussetzung der rechtlichen Einheit der Kirche, welche allein seine Durchführung ermöglichte, ist entfallen. Mit der Aufgabe der Paritätspflege der Staaten ist es unvereinbar. Mit alledem hat sich sein Schicksal erfüllt und alle anachronistischen Rückfälle können nur dazu dienen, die unüberbrückbare Kluft von einst und jetzt um so greller zu beleuchten. Auch das andere Einheitssystem hat Rückfälle zu verzeichnen. Aber dieses moderne Staatskirchentum trägt andere Züge. Kein Staat hat sich den grundsätzlichen Anspruch der absoluten Herrschaft über die Kirche vorbehalten. Nur gelegentlich haben sich Staaten von verletzenden Übergriffen in die Kirchenfreiheit im Sinne des älteren Systems nicht freigehalten. Das ist, wo und wie es immer geschehe, Rückfall in das Staatskirchentum. Kleine Beispiele davon hat die Geschichte des Preussischen Kirchenkonflikts in den siebziger Jahren dargeboten. Missverständlich [95] und phrasenhaft wird diese Episode noch immer als „Kulturkampf“ weitergeführt. Nicht handelte es sich dabei um einen Kampf für oder gegen die Kultur, sondern um die nüchterne Aufgabe der Absteckung der rechtlichen Grenzen der Kirchenhoheit des Staates. Die Preussische Maigesetzgebung war die unerlässlich notwendige Ausführungsgesetzgebung zu Art. 15 der Verfassung. Ihr Verhängnis war nur, dass sie um zwei Jahrzehnte zu spät und in einer durch das Vatikanum verschuldeten ohnehin vorhandenen Spannung zwischen den Staaten und der katholischen Kirche erfolgte. Ihr Fehler war, dass sie bei musterhaft massvoller und gerechter Anlage im ganzen doch im einzelnen sich kleinlicher und verärgender Mittel, wie der Bestrafung des Messelesens, eines besonderen Staatsexamens für Theologen oder der Sperre der Staatsmittel gegen nicht staatstreue Pfarrer und Bischöfe, bediente. Das partielle Verwerfungsurteil übertrug sich zu Unrecht auf das ganze. Diese Fehler wurden aber durch die spätere Revisions- und Novellengesetzgebung mehr als wieder gut gemacht. Die katholische Kirche in Preussen hat am allerwenigsten Anlass, über Beeinträchtigung ihrer Freiheit Klage zu führen. Die Staaten andererseits denken nicht daran, ihre Verhältnisordnung zu den Kirchen auf das alte System der Überspannung der Staatsgewalt zurückzuschrauben und in Tätigkeitsgebiete überzugreifen, welche ihrem Wesen fremd sind. Auch im Verhältnis zur evangelischen Kirche ist das alte Staatskirchentum beseitigt und hat keine Aussicht, sich wieder zu beleben. Zwar besteht das landesherrliche Kirchenregiment fort. Aber es ist seines territorialistisch staatskirchlichen Charakters entkleidet, wird in Staaten mit katholischen Landesfürsten von besonderen evangelischen Kirchenregimentsbehörden ausgeübt und findet überall seine Grenze in der durch die neueren Kirchengemeinde- und Synodalordnungen den evangelischen Landeskirchen gewährten Autonomie und Selbstverwaltung.

So wenig wie diese beiden geschlossenen Einheitssysteme können Staatschristentum oder Koordination als Verhältnisformen im ganzen noch weiter in Frage kommen. Der sittlich und religiös ansprechenden Idee vom christlichen Staat fehlt die tatsächliche Voraussetzung der Realisierbarkeit zunächst schon darin, dass es ein ausschliesslich christliches Volkstum im modernen Staate nicht mehr gibt. Um das System durchzuführen, müsste man im Namen des Christentums die Gewissensfreiheit wieder vernichten, müsste den Grundsatz der Unabhängigkeit der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte vom religiösen Bekenntnis zurückziehen. Es gibt ferner überhaupt kein für das Recht verwendbares interkonfessionelles Christentum. So bringen an die staatliche Ordnung des Schulwesens, des Eherechts, selbst des Strafrechts Katholizismus und Protestantismus verschiedene Auffassungen und Ansprüche heran. Aber angenommen endlich, es gäbe ein solches juristisch fassbares Christentum mit interkonfessionellem Inhalt, so müsste es doch erst ermittelt und in einer für die Gesetzgebung brauchbaren Weise formuliert werden. Diese Ermittelung und Formulierung wäre Aufgabe des Staats. Das System beruft also den Staat zum Gesetzgeber in Glaubenssachen. Das Staatschristentum würde unentrinnbar zum Staatskirchentum zurückführen. Der wirkliche Wahrheitsgehalt in der christlichen Staatsidee, die dem Volksleben diensame Berücksichtigung der Religion im öffentlichen Leben, kommt reiner und wirksamer im Rahmen des Systems der Kirchenhoheit durch diejenigen Massnahmen zur Geltung, welche man, wie sich noch weiter ergeben wird, unter dem Begriff der Advokatie des Staates zusammenfasst. Die christliche Staatsidee in ihrer Einheit und Gesamtheit wird wohl von keinem ernsthaft zu nehmenden Politiker der Gegenwart mehr verteidigt, in einzelnen Folgerungen ist sie das kirchenpolitische Ideal der konservativen Parteien geblieben. Andrerseits ist die Koordinationstheorie das ausgesprochene kirchenpolitische Programm der deutschen Zentrumspartei. Dies erklärt sich leicht. Der mittelalterliche Anspruch auf Unterordnung des Staates unter die Kirchenhierarchie war durch die Begründung des modernen Staates endgültig abgelehnt und ohne Reproduktion des kanonischen Rechts nicht mehr durchführbar. Die politische Vertretung des Katholizismus im neuen deutschen Reich konnte konstitutionellen Einfluss unmöglich durch ein System gewinnen, welches an allen Flächen und Kanten den geschichtlichen Tatsachen und den modernen Geiste widersprach. In dem Anspruch der rechtlichen Gleichordnung hat man den Ersatz für die verlorene Überordnung gesucht. Die geistigen Führer haben literarisch und parlamentarisch ihr kirchenpolitisches Programm alsbald nach den Grundgedanken und Zielen des Koordinationssystems abgesteckt. Keine einseitige Grenzregulierung [96] durch die Gesetzgebung des Staates, keine Staatskirchenhoheit, sondern, wie unter souveränen Mächten, Regulierung im Wege des Völkerrechts, durch Verträge und gesandtschaftlichen Verkehr. Auch der vielgenannte Toleranzantrag ruhte auf den Prinzipien der rechtlichen Gleichordnung. Das Koordinationssystem ist grundsätzlich zu verwerfen. Dabei sei abgesehen von der geschichtlichen Erfahrungstatsache, dass Konkordate niemals, ausser auf Kosten des Staats zu einem dauernden Friedensverhältnis geführt haben. Circumskriptionsbullen können aus Zweckmässigkeitsgründen zu billigen sein. Der Schaden oder Nutzen diplomatischen Verkehrs hängt lediglich von der Umsicht und Energie in Vertretung der Staatsinteressen ab; an sich ist er eine Anomalie im Völkerrecht. Das System ist aber aus tiefer gelegenem prinzipiellem Grunde zu verwerfen. Keiner Kirche kann der Anspruch zuerkannt werden, eine dem Staat aequal gesetzte Rechts- und Machtanstalt zu sein. Rechtliche Beherrschung kann den Kirchen nicht als Selbstzweck, sondern überall nur als Mittel zur Verwirklichung ihrer religiös transzendentalen Zwecke zuzugestehen sein. Die Grenzen dieser rechtlichen Beherrschung sind durch den Staat als den obersten Behüter der Rechtsordnung zu ziehen. Das Verhältnis von Staat und Kirchen ist allgemein durch Akte der Staatsgesetzgebung zu regeln. Für die katholische Kirche kann davon grundsätzlich keine Ausnahme zu machen sein. In ihrem Rechtsleben innerhalb des Staats ist sie nicht internationale Anstalt, sondern Landeskirche. Die Methode völkerrechtlicher Vertragsregulierung verletzt im Verhältnis zur evangelischen Kirche auch die Parität. Soweit also Bestandteile des Koordinationssystems noch in das geltende Recht hineinragen, ist ihre Beseitigung anzustreben.

Scheiden hiernach die vier genannten Verhältnisformen im ganzen aus, so bleibt gegenüber dem herrschenden System der Kirchenhoheit eine ernstliche Abrechnung nur mit der Forderung der Trennung von Kirche und Staat. Sie ist die Frage der Zukunft. Ihre Prüfung setzt aber eine mindestens summarische Orientierung über das Recht der Gegenwart voraus.

II. Geltendes Recht. Der grundlegende Begriff der Kirchenhoheit bildet den rechtlichen Gegensatz zu dem der Kirchengewalt. Kirchengewalt ist die das Innere des Kirchenwesens ordnende und daher ausschliesslich den Organen der Kirche selbst zustehende Macht. Kirchenhoheit dagegen ist der Inbegriff der dem Staate als solchem auf dem Grunde der allgemeinen Staatshoheit über alle Kirchen- und Religionsgesellschaften innerhalb des Staatsgebiets zukommenden Rechte. Waren aber schon, wie vorstehend nachgewiesen, die ersten Anfänge ihrer Entwickelung in der alten Reichszeit territorial auseinanderstrebend, so hat erst recht nach Auflösung des heiligen römischen Reichs deutscher Nation ihre Ausgestaltung im einzelnen sich in grosser landesrechtlicher Verschiedenheit vollzogen. Das deutsche Staatskirchenrecht war in der Rheinbundszeit wie in der Periode des deutschen Bundes ausschliesslich partikuläres Recht. Es trägt diesen Charakter weit überwiegend auch heute. Die Staatskirchengesetzgebung des neuen Reiches hat zwar mit vielen wichtigen Einzelbestimmungen, aber immer nur gelegentlich gemeinrechtlich ordnend in das Verhältnis von Staat und Kirche eingegriffen. Trotz dieser landesrechtlichen Dezentralisation sind jedoch die leitenden Rechtsgrundsätze einheitlich und gleich. Nach einer bereits an den Westfälischen Frieden anknüpfenden Entwickelung gliedert sich der Inhalt der Kirchenhoheit in das sog. Reformationsrecht, das Oberaufsichtsrecht und das Schutzrecht des Staats. Da es aber hier nicht auf eine erschöpfende lehrhafte Darstellung des geltenden Rechtszustandes abgesehen ist, sondern auf scharfe Herausarbeitung der ihm zugrunde liegenden allgemeinen und führenden Rechtsgedanken, so soll sich das Folgende nicht eng an dieses geschichtliche Schema halten, sondern in kurzen programmatischen Sätzen die Summe des geltenden Rechtes ziehen.

Das einheitlich nachweisbare und überall massgebende Grundprinzip des herrschenden Systems der Kirchenhoheit ist: Staat und Kirchen sind organisatorisch und funktionell insoweit von einander zu scheiden, als dies durch die Verschiedenartigkeit ihres Wesens bedingt ist; sie bleiben andererseits verbunden, soweit dies durch geschichtliche Notwendigkeiten oder durch berücksichtigungswerte Bedürfnisse von Staat und Kirche erfordert wird. Als entscheidende positiv rechtliche Niederschläge dieses Prinzips sind aus der bestehenden Staatskirchengesetzgebung zu entnehmen:

[97] 1. Der Grundsatz der Parität. Dieser viel missverstandene und missbrauchte Begriff ist im kirchenpolitischen, staatsrechtlichen und kirchenrechtlichen Sinn zu unterscheiden. Kirchenpolitisch bedeutet Parität die gesellschaftliche Gleichheit der Kirchen in dem Masse ihrer rechtlichen Selbständigkeit gegenüber dem Staat. Sie bedeutet nicht notwendig die Einerleiheit des Rechts, sondern richtig verstanden vielmehr nur die Gleichheit der rechtlichen Lebensbedingungen der verschieden gearteten Kirchen in ihrem Verhältnis zum Staat. Jeder das Ihre, nicht jeder das Gleiche. Abstrakte Schablonenhaftigkeit führt zur Imparität. Wahrhaft paritätische Gesetzgebung und Verwaltung muss die einzelnen Kirchen- und Religionsgesellschaften nach ihrer öffentlichen Bedeutung, nach ihren Machtmitteln, nach ihrer eigenen geschichtlichen und prinzipiellen Stellung zum Staat spezifisch differenzieren. Parität im staatsrechtlichen Begriff bedeutet die Gleichheit der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte ohne Rücksicht auf das religiöse Bekenntnis. Sie wurde für das Reichsgebiet schon durch das Norddeutsche Bundesgesetz vom 3. Juli 1869 garantiert. Sie entartet zur mechanischen Parität, wenn aus der Gleichheit der staatsbürgerlichen Rechte eine konfessionell gleichprozentuale Beteiligung an den Staatsämtern gefolgert wird. In der modernen Staatsordnung entscheidet über die Bekleidung von Staatsämtern grundsätzlich die Tüchtigkeit und nicht die Konfession. Parität im kirchenrechtlichen Begriff bedeutet die wechselseitige Unabhängigkeit der Kirchengesellschaften im Staat in ihrem Verhältnis untereinander. Die staatliche Aufgabe der Paritätspflege in diesem Sinn ist die Wahrung des Rechtsfriedens unter den Konfessionen. Die Ordnungen und Veranstaltungen für diesen Zweck beziehen sich insbesondere auf den Schutz des religionsgesellschaftlichen Tatbestandes durch Verbot der Proselytenmacherei und staatsgesetzliche Ordnungen über die religiöse Kindererziehung sowie auf die Integrität des Vermögens. An und für sich besteht für keine Religionsgesellschaft oder deren Angehörige eine rechtliche Verpflichtung zu vermögensrechtlichen Leistungen für Zwecke anderer Religionsgesellschaften. Solche können immer nur durch besondere Rechtstitel, wie Patronatrecht, dingliche Lasten, Simultangebrauch von Kirchen, Kirchhöfen u. a. begründet sein.

2. Der Grundsatz der Bekenntnisfreiheit. Ihre beiden rechtlichen Erscheinungsformen sind die individuelle Gewissensfreiheit und die gesellschaftliche Kultusfreiheit. Die vornehmsten Äusserungen der ersteren sind die Freiheit von Lehre und Wissenschaft, die freie Entschliessung der Erwachsenen über Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit zu einer Religionsgesellschaft, die Freiheit des Konfessionswechsels, die schon erwähnte Unabhängigkeit der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte vom religiösen Bekenntnis. Die selbstverständlichen Schranken der individuellen Gewissensfreiheit liegen im Gebiet der verfassungsmässigen Pflichten, deren Erfüllung sich Niemand unter Berufung auf Gewissensfreiheit entziehen kann. Die gesellschaftliche Kultusfreiheit hat die Anerkennung einer Religionsgesellschaft im Staate zur Voraussetzung. Diese Anerkennung wird durch die Ausübung des staatlichen Reformationsrechts gewährt und näher bestimmt. Das Reformationsrecht im gegenwärtigen Sinne begreift das Recht der Aufnahme neuer und das Recht der staatsrechtlichen Differenzierung der aufgenommenen Religionsgesellschaften. Als die juristischen Grundtypen der letzteren sind zu unterscheiden die Kirchen mit öffentlich-rechtlicher Korporationsqualität, Religionsgesellschaften mit privatrechtlicher Rechtsfähigkeit und religiöse Vereine. Die rechtliche Stellung von öffentlichen Korporationen haben die evangelischen (lutherischen, reformierten, unierten) und katholischen (römisch-, auch meist altkatholischen) Landeskirchen; die öffentlich rechtliche Korporationsqualität drückt sich aus in dem staatlich anerkannten Recht auf Ausübung einer obrigkeitlichen Gewalt über die Kirchenglieder, in der Ausstattung der Kirchen mit besonderen Privilegien und dementsprechend der Ausübung eines besonderen staatlichen Oberaufsichtsrechts. Zur Gruppe der Religionsgesellschaften mit privatrechtlicher Rechtsfähigkeit gehören allgemein die jüdischen Synagogengemeinden, und von christlichen Religionsgemeinschaften Herrnhuter, Altlutheraner, Mennoniten, Baptisten u. a. Die rechtliche Stellung dieser Gattung beruht zumeist auf besonderen Konzessionsurkunden, in denen das Mass ihrer Berechtigung näher festgestellt ist. Die Rechtsstellung der religiösen Vereine bemisst sich nach den öffentlich rechtlichen Vereinsgesetzen der Einzelstaaten, deren Bestimmungen über [98] kirchliche und religiöse Vereine sowie über geistliche Orden und Kongregationen durch § 24 des deutschen Reichsvereinsgesetzes vom 19. April 1908 ausdrücklich aufrecht erhalten wurden. Religionsgesellschaften, welche Korporationsrechte noch nicht besitzen, können solche nach Art. 13 der Preussischen Verfassung nur im Wege der Gesetzgebung erlangen. Alle kraft des Reformationsrechts aufgenommenen Religionsgesellschaften geniessen Kultusfreiheit. In der Art ihrer Betätigung besteht freilich nach deutschem Recht immer noch eine bemerkenswerte Abstufung. In Preussen haben nach Art. 12 der Verfassung alle Religionsgesellschaften das Recht der freien öffentlichen Religionsübung. In Bayern dagegen besitzt eine Religionsgesellschaft, welche nicht ausdrücklich „als öffentliche aufgenommen“ ist, nur die freie Ausübung des „Privatgottesdienstes“, d. h. es sind ihr die Zeichen der Öffentlichkeit des Kultus, Kirchengebäude, Glocken u. a., versagt. Diese Beschränkung ist ein rückständiger Rest aus dem Staatskirchenrecht des Westfälischen Friedens. Die Beschränkungen der Kultusfreiheit, welche sich aus den Bedürfnissen der staatlichen Sicherheits- und Paritätspflege notwendig machen, werden unter Z. 4 zu erwähnen sein.

3. Der Grundsatzder materiellen Selbständigkeit der Kirchen- und Religionsgesellschaften in ihren inneren Angelegenheiten. Diese Selbständigkeit ist ein Fundamentalprinzip des Systems der Kirchenhoheit. Die Ordnung und Erhaltung des inneren Rechtslebens der Religionsgesellschaften ist das vorbehaltene Gebiet der Kirchengewalt. Nach dem Wesen der Sache gehört zu den rein inneren Angelegenheiten in erster Linie alles, was irgendwie Bestandteil von Lehre und Dogma ist. Jede Kirchen- und Religionsgesellschaft folgt hierin den Bedingungen ihrer eigenen geschichtlichen Entwickelung und ihrer Auffassung vom Wesen der menschlichen Freiheit im Verhältnis zu Gott. Insbesondere ist hiernach die volle Freiheit der kirchlichen Lehrgesetzgebung von staatlicher Beeinflussung in Anspruch zu nehmen. Dies gilt nicht nur im Verhältnis zur katholischen Lehrentwickelung durch die Dogmen der ökumenischen Konzilien und ex cathedra-Entscheidungen der Päpste, sondern auch im Verhältnis zur evangelischen Kirche; der hier auf die kirchliche Lehrgesetzgebung ausgeübte Einfluss des Landesherrn beruht nicht auf dem Titel der Kirchenhoheit des Staats, sondern auf dem geschichtlichen Grunde der landesherrlichen Kirchengewalt. Als Annex der Lehre gehören zu den rein inneren Kirchenangelegenheiten ferner Kultus, Liturgie und religiöser Unterricht. Endlich auch die Kirchenregierung in ihren spezifisch internen Funktionen. Die materiell kirchliche Selbständigkeit äussert sich in all diesen Beziehungen darin, dass der Staat keinerlei aktuelle Mitwirkung in Anspruch nimmt. Er ist im äussersten Falle darauf beschränkt, staatsgefährliche Einflüsse von Lehre und Kultus auf das bürgerliche Gebiet abzuwehren. Das notwendige Korrelat zu diesem Grundsatze ist andererseits der Grundsatz der rechtlichen Unterordnung der Kirchen- und Religionsgesellschaften unter den Staat in allen rein weltlichen Angelegenheiten. Hier verfügt der Staat allein, wie er allein auch darüber Bestimmung trifft, was zum Gebiete der rein weltlichen Angelegenheiten gehört. In dieser Grenzregulierung liegt der am tiefsten führende Wesensunterschied der Systeme der Kirchenhoheit und des Staatskirchentums. Dieses zog unterschiedslos alles Kirchliche und Religiöse in den Bereich der Staatskompetenz. Das System der Kirchenhoheit scheidet sorgfältig die dem Wesen des Staats grundsätzlich fremden Gebiete aus und reserviert für dessen Zuständigkeit nur das, was den ureigenen Zwecken und Aufgaben des Staates entspricht. Es unterscheidet sich darin in entgegengesetzter Richtung zugleich vom System des Kirchenstaatstums, welches unterschiedslos und grundsätzlich das gesamte bürgerliche und öffentliche Recht der kirchlichen Beherrschung unterzog. Das System der Kirchenhoheit schliesst die Herrschaft des kanonischen Rechts im Staatsleben aus.

4. Der Grundsatz der Staatsaufsicht in den gemischten Angelegenheiten. In diesem Anspruch liegt, wie vorgreifend schon hier bemerkt werden soll, einer der wesentlichen Gegensätze zu der Trennung von Kirche und Staat. Unter gemischten Angelegenheiten sind solche zu verstehen, welche an sich wohl zu den Funktionen der Kirchenregierung gehören, gleichwohl aber tatsächliche und darum unvermeidlich auch von der Rechtsordnung zu respektierende Beziehungen zum Staate, zur Gesellschaft, zur gesamten bürgerlichen Ordnung in sich tragen. Dadurch entsteht der Unterschied der sacra externa von der sacra interna. [99] Das Verhältnis gestaltet sich hier dann so, dass der Staat sich nicht bloss abwehrend gegen etwaige Übergriffe verhält, sondern sich eine sachlich begrenzte aktuelle Mitwirkung auf den Gebieten der Sacra externa sichert. Dieses staatliche Oberaufsichtsrecht äussert sich hiernach in den drei Grundformen der Staatstätigkeit überhaupt: rechtsschöpferisch, richtend und regierend. Rechtsschöpferisch in der Staatskirchengesetzgebung, welche die materielle Verhältnisordnung zwischen dem Staat und den einzelnen Kirchengesellschaften normiert; richtend darin, dass gegen Verletzung der gesetzlich geordneten Aufsicht die Rechtshülfe der staatlichen Zivil-, Verwaltungs- und Strafgerichtsbarkeit besteht; regierend durch fortlaufende administrative Aufsichtsübung über die zweckdienliche und ordnungsgemässe Ausführung des Staatskirchenrechts. Organe dieser administrativen Aufsichtsübung sind die staatlichen Verwaltungsbehörden in dem durch die Verwaltungsorganisation der Einzelstaaten geordneten Instanzenzug, an oberster Stelle die Kultusministerien. Das Sachgebiet der gemischten Angelegenheiten umfasst mindestens und notwendig gewisse Seiten und Bestandteile der Kirchenverfassung, des Kultus, der kirchlichen Straf- und Disziplinargewalt und des Kirchenvermögens. Die Kirchenverfassung ist an und für sich Bestandteil der rein internen Kirchenordnung. Für die katholische Kirche versteht sich dies geschichtlich von selbst; denn mit ihren unabhängig vom Staat, zum Teil bereits in den Jahrhunderten der Christenverfolgung ausgebildeten Verfassungselementen wurde sie schon ursprünglich im römischen Reich anerkannt und in ihrer Verfassungsbildung während anderthalb Jahrtausende niemals vom Staate beeinflusst. Die evangelischen Landeskirchen haben ihre Verfassungen zwar vielfach erst unter Mitwirkung der Staatsgesetzgebung erhalten, überall aber als einen in Gestalt der neuen Kirchengemeinde- und Synodalordnungen selbständig zugesicherten Besitz. Gleichwohl bestehen Berechtigungen und Bedürfnisse der Staatsaufsicht, sei es mit Rücksicht auf die Staatsleistungen für kirchliche Organe oder Anstalten, sei es mit Rücksicht auf die öffentliche Natur der Kirchenämter oder allgemeine Zwecke der Staatssicherheit. Unter dem einen oder anderen Gesichtspunkt betätigt sich die Staatsaufsicht im Gebiete der Kirchenverfassung durch gesetzlich bemessene Beteiligung (Einspruchs-Bestätigungsrechte) an der Besetzung der Kirchenämter, namentlich durch Mitwirkung an der Besetzung der Bischofsstühle und Ämter des evangelischen Kirchenregiments, ferner durch Einflussnahme auf die wissenschaftliche Vorbildung der Geistlichen und Kontrolle über die hierfür errichteten kirchlichen Anstalten, endlich durch die Vorbehalte staatlicher Zuständigkeit hinsichtlich der Zulassung und Tätigkeit von geistlichen Gesellschaften (Orden, Kongregationen). Auch der an sich interne Charakter des Kultus kann an sich gewisse Betätigungen der Staatsaufsicht nicht ausschliessen, insoferne die aktive Gottesverehrung die Formen äusserlicher Beziehungen zur gesellschaftlichen Öffentlichkeit trägt. Unter dem Gesichtspunkte des Rechtsfriedens und der Parität unterliegen daher Prozessionen und Verwandtes, religiöse Versammlungen unter freiem Himmel, kirchliche Begräbnisfeierlichkeiten der staatlichen Beaufsichtigung. Der schon erwähnte § 24 des deutschen Reichsvereinsgesetzes von 1908 hat ausdrücklich die Zuständigkeit des Landesrechtes auch „über religiöse Versammlungen, über kirchliche Prozessionen, Wallfahrten und Bittgänge, sowie über geistliche Orden und Kongregationen“ vorbehalten. Kirchendisziplin und Kirchenzucht unterliegen der Staatsaufsicht mit Rücksicht auf den Schutz der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Freiheit der Staatsangehörigen; namentlich hat sie sich hier durch bestimmte Beschränkungen in Ansehung der Strafmittel (Verbot von Lebens-, Leibes- und Freiheitsstrafen) und ihrer bürgerlichen Wirkungen (Exkommunikation), ferner hinsichtlich des Zweckes ihrer Anwendung (Nichtverhinderung von Ausübung staatsbürgerlicher Rechte) und endlich hinsichtlich der formellen Garantien eines gerechten Verfahrens (rechtliches Gehör, Freiheit der Verteidigung, Urteilsbegründung) zu betätigen. Die Staatsaufsicht über die kirchliche Vermögensverwaltung ist durch die bürgerlich rechtliche Natur des Objektes an sich bedingt und im besonderen durch das Staatsinteresse an der Erhaltung des Kirchenvermögens und die staatlichen Aufwendungen für Kirchenzwecke in den Kultusbudgets gerechtfertigt. Sie äussert sich namentlich in dem Vorbehalte der staatlichen Genehmigung zu wichtigeren Akten der kirchlichen Vermögensverwaltung und in Begrenzung der steuerlichen Mittel, mit welchen die Kirchenangehörigen für kirchliche Zwecke in Anspruch genommen werden dürfen. Die allgemeinen Mittel und Formen der administrativen Aufsichtsübung über die Kirchen und [100] Religionsgesellschaften sind dieselben, wie in allen Zweigen der Staatsverwaltung. Unter dem besonderen Gesichtspunkt der Kirchenhoheit hat sich als Mittel präventiver Staatsaufsicht aus Jahrhunderte alter Übung in mehreren deutschen Staaten das sog. Placet erhalten, d. h. der Vorbehalt staatlicher Genehmigung zur Verkündigung oder zum Vollzug kirchlicher Gesetze und Erlasse; so in Bayern, Sachsen, Württemberg, Baden, Hessen. In Preussen wurden die landrechtlichen Bestimmungen darüber durch die Verfassung von 1850 beseitigt. Grundsätzlich ist diese veraltete Massregel der Staatsaufsicht nicht zu billigen, weil sie von Eingriffen in die sacra interna sich nicht frei zu halten vermag und dem internationalen Charakter der katholischen Kirche gegenüber völlig wirkungslos ist. Gerechtfertigt und notwendig ist eine verwandte, in den Gang der evangelischen Kirchengesetzgebung eingeschobene Massregel. Von den Synoden beschlossene Kirchengesetze müssen vor der landesherrlichen Sanktion einer obersten Staatsbehörde zur Prüfung vorgelegt werden. Dies hat den Zweck, eine Pflichtenkollision des Landesherrn in seiner Doppeleigenschaft als Inhaber des Kirchenregiments und der Staatsgewalt zu verhindern. Ein praktisch wichtiges Repressivmittel der Staatsaufsicht ist endlich noch die Temporaliensperre, d. h. die Einbehaltung der aus staatlicher Quelle fliessenden Amtseinkünfte von Bischöfen oder Pfarrern, sei es bei Verweigerung des Staatsgehorsams im allgemeinen, sei es zur Erzwingung einer einzelnen gesetzlichen Massregel. Für die Zulässigkeit des Mittels ist die rechtliche Natur der zu sperrenden Amtseinkünfte entscheidend. Solche privatrechtlicher Natur können, wie in Bayern, nur auf Grund gesetzlicher Ermächtigung, solche öffentlich rechtlicher Natur im Verwaltungswege gesperrt werden. Letzteres ist, wie durch Richtersprüche anerkannt, die Rechtslage in Preussen für diejenigen Staatsleistungen an die katholische Kirche, welche auf der Circumskriptionsbulle De salute animarum von 1821 beruhen.

5. Der Grundsatz der Advokatie d. h. des Schutzes und der Förderung des Kirchenwesens durch den Staat. In Gesetzgebung und Verwaltung will das System der Kirchenhoheit die Würdigung der in den Kirchen gelegenen ethisch-religiösen Kräfte, ihre Bedeutung für Staatsleben und Volkswohl zum Ausdruck bringen. Trotz der rechtlichen Unterordnung in sacris externis setzt durch Betätigung der Advokatie der Staat die grossen historischen Kirchen zu sich in ein Verhältnis ethischer Gleichordnung. Eben und nur an dieser Stelle findet im Rahmen des Systems der Kirchenhoheit der Wahrheitsgehalt der christlichen Staatsidee seine befriedigende Verwirklichung. Die positiv-rechtlichen Äusserungen der Advokatie verteilen sich auf verschiedene Gebiete der Beziehungen von Staat und Kirche. Sie betreffen das Verhältnis der Kirchenverfassung zur staatlichen Rechtsordnung, die Gewährung äusserlicher Staatshülfe an die Kirchengesellschaften, die Berücksichtigung des Kirchenwesens im öffentlichen Leben und den besonderen strafrechtlichen Schutz der Kirchen. Die Verfassung der Kirchen als öffentlicher Korporationen bildet einen Bestandteil des öffentlichen Rechts im Staat. Daher sind die Kirchenämter öffentliche Ämter, die Organe der kirchlichen Selbstverwaltung Behörden, die Kirchendiener Träger gewisser staatlich anerkannter geistlicher Standesrechte, welche, soweit sie auf der Reichsgesetzgebung beruhen, sich v. a. auf Erleichterungen hinsichtlich der Militärpflicht und auf gewisse Begünstigungen im Gebiet der Rechtspflege (Befreiungen, Beichtgeheimnis) beziehen. Die Gewährung äusserlicher Staatshülfe tritt zunächst in Form der Dotation der Kirchen aus Staatsmitteln auf. Diese Leistungen sind entweder fortdauernde, d. h. in den Staatshaushaltsetats regelmässig wiederkehrende, so die Positionen für evangelische Kirchenregimentsbehörden, für Bischöfe und Domkapitel, für Pfarrgeistliche, Besoldungen und Pensionen, oder sie sind einmalige ausserordentliche Staatszuschüsse, wie solche gelegentlich für Kirchenbauten und andere kirchliche Zwecke bewilligt werden. Das konkrete Mass der Zuwendungen kann immer nur aus den unter Mitwirkung der Volksvertretungen in Gesetzesform festgestellten Kultusbudgets der einzelnen Staaten entnommen werden. Die Staatshülfe tritt aber weiter auch noch in der Form des brachium saeculare auf, d.h. in der Gewährung des staatlichen Verwaltungszwangs für kirchliche Zwecke. Die Bulle Unam sanctan forderte die Führung des weltlichen Schwertes ad nutum sacerdotis als Pflicht des Staats. Im System der Kirchenhoheit ist das brachium saeculare ein auf dem Grunde der ethischen Wertschätzung der Kirche freiwillig dargebotener Schutz des Staates. Der Staat begrenzt [101] daher nach eigenem Ermessen das Gebiet, für welches er seine Zwangsgewalt zur Verfügung stellt und unterwirft im Einzelfall die kirchliche Massregel, welcher der bürgerliche Rechtsschutz zuteil werden soll, seiner Vorprüfung und Anerkennung. Hauptanwendungsfälle des brachium saeculare nach geltendem Recht sind der staatliche Vollzug kirchlicher Disziplinarerkenntnisse und die Beitreibung kirchlicher Steuern mittelst des staatlichen Verwaltungszwanges. In beiden Fällen ist Voraussetzung, dass die kirchlichen Urteile und Hebelisten für staatlich vollstreckbar erklärt worden sind. Die Berücksichtigung des Kirchenwesens im öffentlichen Leben äussert sich teils in staatlicher Unterstützung der religiösen Wirksamkeit der Kirche, teils in organischer Beteiligung der Kirchen an gewissen Aufgaben der Staatspflege. In ersterer Richtung stehen obenan die staatlichen Ordnungen über kirchliche Sonn- und Festtagsfeier, welche der Würde des Kultus oder dem individuellen Schutze der Sonntagsruhe dienen. In der zweiten Richtung sind bemerkenswert die ständigen gottesdienstlichen Einrichtungen in gewissen Anstalten der staatlichen Wohlfahrts- und Sicherheitspflege (Strafanstalten) und in der Organisation des Militärkirchenwesens, namentlich aber die weitgehende Beteiligung der Kirche auf dem Gebiete des staatlichen Unterrichtswesens aller Grade, beginnend mit der Einrichtung der theologischen Fakultäten an den Universitäten und sich durch die Mittelschulen fortsetzend bis zur Ordnung des religiösen Unterrichts in den Volksschulen. Freilich ist gerade hiermit ein Gebiet schwieriger Ausgleiche zwischen den Ansprüchen von Kirche und Staat bezeichnet. Endlich bilden den Gegenstand des kraft der Advokatie gewährten besonderen strafrechtlichen Schutzes der Religionsfriede, die Ehre der Kirchen, die Ordnung der Kultusübung und die Sicherheit kirchlichen Vermögens nach näherer Massgabe der §§ 166 ff., 243, 304 ff. des Strafgesetzbuchs für das Deutsche Reich.

III. Die Frage der Zukunft. Sie ist der geltenden Verhältnisordnung gegenüber die Forderung der Trennung von Staat und Kirche. Welche rechtlichen Merkmale hat dieses System? Wie steht es um seinen universalgeschichtlichen Tatbestand? Welches sind die Bedingungen seiner Verwirklichung für die Staaten des Deutschen Reichs?

Die Begriffsermittelung ist notwendig die erste Aufgabe. Sie hat sich vor allem klar zu halten, dass diese Trennung niemals eine absolute Zusammenhangslosigkeit bedeuten kann. Aus zwei Gründen nicht. Einmal nicht, weil Staat und Kirchen aus denselben Menschen bestehen und die Einheit der Persönlichkeit notwendig verbindend auf die Mitgliedschaft hier und dort zurückwirkt. Sodann nicht, weil alle menschlichen Organisationen an irgend einem Punkte notwendig von dem höheren Organismus, dessen Glieder sie sind, rechtlich bestimmend ergriffen werden, also auch die Kirchen vom Staat. Es kann sich also für die Begriffsbestimmung nur um die Ermittelung des Mindestmasses der an sich unvermeidlichen Rechtsbeziehungen zwischen dem Staate einerseits und Kirchengliedern oder Kirchengesellschaften andererseits handeln. Im Verhältnis zu den einzelnen Kirchengliedern ergibt sich als Grundprinzip der Trennung von Staat und Kirche die Lösung jeder rechtsnotwendigen oder gar zwangsweisen Verbindung des Individuums mit dem Kirchenwesen. Religion ist Privatsache. Daher einerseits Unabhängigkeit der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte vom religiösen Bekenntnis, andererseits Gewissensfreiheit bis in die äussersten Grenzen, insbesondere bis zum Wegfall einer Nötigung zur Eidespflicht und der Notwendigkeit einer religiösen Erziehung. Verstaatlichung ferner aller derjenigen Gebiete, auf denen möglicherweise Verbindlichkeiten religiösen Inhalts geltend zu machen wären: Schul-, Ehe-, Begräbniswesen. Selbstverständlich endlich staatliche Beurkundung des Personenstandes, aber keine bürgerliche Ordnung über Konfessionswechsel oder Austritt aus der Kirche, weil Kirchenangehörigkeit nicht rechtlich in der Staatsordnung reflektiert. Im Verhältnis zu den Kirchengesellschaften ergibt sich als grundlegendes Trennungsmerkmal der Wegfall des geschichtlichen Sonderbegriffs der „Kirchen“. Sie gehen im Gattungsbegriff von „Gesellschaften mit religiöser Zweckbestimmung“ unter. Es gibt keine Staatskirchen mit dem Privilegium der öffentlichen Korporationsqualität. In die einzelnen Folgerungen aufgelöst: keine öffentlich rechtliche Natur der Kirchenverfassung, der kirchlichen Behörden, Beamten, Anstalten; keine Staatshilfe, weder einen Kultusetat noch die Hülfe eines staatlichen Verwaltungszwangs; keinen rechtlich anerkannten Einfluss des Kultus im öffentlichen [102] und gewerblichen Leben; keinen besonderen Strafschutz; keine organische Beteiligung der Kirchen an Aufgaben oder Institutionen der Staatspflege, wie Heereswesen, Schulwesen aller Ordnungen, Strafvollzug. Für solche Einbusse an öffentlichem Recht gewinnen andererseits die Religionsgesellschaften den Wegfall der Kirchenhoheit des Staats nach Seiten des Reformationsrechts und des Oberaufsichtsrechts. Ein Reformationsrecht braucht es nicht mehr zu geben, weil jede staatsrechtliche Differenzierung der Religionsgesellschaften in Wegfall gekommen ist und alle in die Kategorie der Vereine oder Anstalten gehören. Das Oberaufsichtsrecht wird nach seiner gesetzgeberischen wie nach seiner administrativen Seite entfallen. Eine spezifische Staatskirchengesetzgebung hat kein Betätigungsgebiet mehr, weil es gemischte, d. h. Angelegenheiten mit konkurrierenden Anteilen von Staats- und Kirchengewalt nicht mehr gibt; eine Sache ist entweder rein weltlicher oder rein kirchlicher Art, niemals Gegenstand geteilter Kompetenz. Es kann folgerichtig auch kein administratives Jus inspiciendi cavendi auf den Grenzgebieten des kirchlichen Ämterwesens, der Straf- und Disziplinargewalt der Kirchen und des kirchlichen Vermögensrechts bestehen. Die Freikirche hat völlige Selbständigkeit der inneren Verwaltung in Anspruch zu nehmen; ihr Kirchenrecht existiert auch ohne staatliche Anerkennung als autonomes Recht. So tritt alles in allem unter dem Trennungssystem an Stelle der Kirchenhoheit eine Vereins- und Kultuspolizei. Hier offenbart sich die notwendige und bleibende Verbindung mit dem Staat. Nach Vereinsrecht bestimmen sich Voraussetzungen und Mass der Rechtsfähigkeit: juristische Persönlichkeit, Erwerbsfähigkeit, polizeiliche Überwachung, Schranken der Kultusübung in der Öffentlichkeit. Dies die wesentlichen Züge einer folgerichtig durchgeführten Trennung von Staat und Kirche.

Vergleicht man diesen Rechtsbegriff mit dem Bilde der geschichtlichen Realitäten, so ist das Resultat, dass eigentliche Trennung in keinem einzigen christlichen Kulturstaate der Welt besteht und dass, soweit relative Trennung durchgeführt ist, die Bedingungen ihrer Art- und Massbestimmung nirgends allgemeiner Natur oder Gültigkeit gewesen, sondern allem aus der Eigenart konkreter Staats- und Kirchenwesen zu erklären sind. Überall ist Stellung und Lösung des Problems im engsten und strengsten Sinne geschichtlich bedingt. So ergibt der universalgeschichtliche Tatbestand eine Mannigfaltigkeit der Rechtserscheinungen, welche jedem einheitlichen Typ widerstrebt. Italien, Holland und Irland werden an und für sich irrtümlich zu den Trennungsstaaten gezählt. Überall sind hier, wie schliesslich in allen Staaten des Deutschen Reiches auch, nur vereinzelte Folgerungen des Trennungsgedankens gezogen. Rein konfessionell bedingt sind die Trennungssysteme in den Staaten Mittel- und Südamerikas, in Mexiko, Brasilien, Ecuador, Kuba; bald ist sie Stütze für die Freiheit der katholischen Kirche, bald Schutz für Staat und Volk gegen die katholische Kirchenhierarchie. Umgekehrt hat sie praktische Bedeutung überwiegend für den Protestantismus in Genf und Basel. Auch die Staatsform ist unter den Entwickelungsbedingungen des Systems hervorragend beteiligt. Als einzige Monarchie Belgien. Gerade Belgien aber versagt vollständig für jeden vorbildlichen Vergleich. Seine Verfassung von 1831 hat zwar die Kirche völlig von der Staatsaufsicht freigegeben, aber alle Verpflichtungen des Staats gegenüber der Kirche aufrecht erhalten. Nach wie vor besteht das staatliche Kultusbudget, welches dem Staat die Zahlung aller Gehälter für die Kirchendiener auferlegt. Diese Darstellung einer Trennung von Staat und Kirche hat man zutreffend als „die freie Kirche im unfreien Staat“ charakterisiert. Ausser Belgien haben nur Republiken, darunter mehrere eben aus Anlass des Überganges zur republikanischen Staatsform, die Trennung eingeführt. Derselbe Vorgang scheint sich jetzt in Portugal zu wiederholen. Die beiden an die Spitze gestellten Erfahrungstatsachen, die schlechthin historische Bedingtheit des Systems auf der einen, die durchweg fehlende Konsequenz in seiner Durchführung auf der anderen Seite, treten charakteristisch insbesondere auch in denjenigen beiden Staaten auf, welche als die Musterbeispiele für die Klassizität des Systems vorgeführt zu werden pflegen, in Nordamerika und Frankreich. Die Unionsverfassung Nordamerikas von 1787 spricht nirgends von einer Trennung. Die Zusatzakte von 1791 enthält nur die beiden kurzen Verbotsnormen: „Keinerlei Religionsbekenntnis darf als Qualifikation zur Erlangung eines Staatsamts gefordert werden“ und „der Kongress darf durch kein Gesetz eine Religionsgesellschaft etablieren oder die freie Religionsausübung behindern.“ Alles übrige ist [103] Sache der einzelnen Staaten geblieben, welche ihren staatskirchenrechtlichen Besitzstand durchaus auf dem Boden und im Geiste ihrer geschichtlichen Eigenart behalten und weitergebildet haben. Weder durch jene Normen der Unionsverfassung noch durch die Sonderentwickelung der Einzelstaaten wurde verhindert, dass enge Beziehungen zwischen Staat und Religion bis in die Gegenwart bestehen. Die Sitzungen des Bundeskongresses und vieler Einzelkongresse werden mit Gebet eröffnet. Der Präsident und die Regierungen der Einzelstaaten haben das Recht zur Anordnung von Dank- und Busstagen. Es besteht ein strafrechtlicher Schutz der Religion, auch gegen Gotteslästerung. Die bürgerliche Sonntagsheiligung ist allgemein, vereinzelt puritanisch. In den staatlichen Organisationen des Heeres, der Marine und des Strafvollzugs ist Vorsorge für Religionspflege getroffen. Die Ehe kann gültig in kirchlicher Form geschlossen werden. Die meisten Verfassungen bringen in irgend einer Wendung Notwendigkeit und Wert der Religion zum Ausdruck. Es wird sogar über ein angebliches Gewohnheitsrecht geklagt, dass trotz der Unionsverfassung ein Katholik nicht Präsident der Union werden könne. Aber die Berührungen gehen noch weiter. Das staatliche Oberaufsichtsrecht betätigt sich in strengen Amortisationsgesetzen und vereinzelt in Beschränkungen bei Veräusserung des Grundeigentums. Besonders charakteristisch endlich tritt die grundsätzliche Unmöglichkeit einer völligen Trennung von Staat und Kirche dann hervor, wenn zwischen einem Geistlichen und seiner Gemeinde oder unter Gemeindegliedern selbst ein Streit über Lehre und Dogma entsteht. Man sollte meinen, dass das Trennungssystem gerade an diesem Punkte jedes staatliche Entscheidungsrecht fern hielte. Das Gegenteil ist der Fall. Nur verlegt sich der Streit aus dem Gebiete der Verwaltung in das der Gerichtsbarkeit. Er spielt sich in den Formen bürgerlichen Rechtsstreits ab. Spaltet sich die Gemeinde in eine strengere und freiere Richtung, so bleibt nach ständiger Judikatur diejenige im Eigentum des Kirchenvermögens, welche die alte Lehre beibehalten hat. Darüber entscheiden die Gerichte. Es ist der innerlichste Punkt, an welchem auch bei Trennung eine Verbindung von Staat und Kirche nicht auszuschalten ist. Dass die Lehrstreitigkeit hier nur als Präjudizialpunkt für Vermögensansprüche auftritt, ändert die Form der Instanz, nicht das Wesen der Sache. Trennung kann niemals Zusammenhanglosigkeit von Staat und Kirche sein. Das ist sie auch entfernt nicht in Frankreich. Man kann das Ergebnis dahin zusammenfassen: Der französische Staat hat im Gesetz vom 9. Dezember 1905 zwar sich von der Kirche, nicht aber die Kirche von sich getrennt. Das Erstere tritt charakteristisch v. a. in zwei Momenten hervor. Einmal in der Zurückziehung aller „vom Staate herstammenden Güter,“ „vom Staate herstammend“ nämlich deshalb, weil schon einmal durch das Revolutionsgesetz vom 2. November 1789 alles katholische Kirchengut „zur Verfügung der Nation“ gestellt worden war. Sodann, unterschiedlich von Nordamerika, in der völligen Loslösung der Religion aus dem Rechtsleben des Staats. Eingeleitet seit langem durch die Entfernung alles Religiösen aus der Schule, aus den Beziehungen des Staates zum Sonntag, aus den Parlamenten und Gerichtssälen steigert sie sich im Trennungsgesetz, wiederum nach einem gesetzlichen Vorbild von 1795 zum Verbot aller religiösen Abzeichen oder Sinnbilder an öffentlichen Bauwerken oder Orten, wo immer es auch sei, ausgenommen Kultusorte. Die andere Eigenart der französischen Trennungsmethode äussert sich in den Vorbehalten eines Masses von Staatsaufsicht, wie es mit den Prinzipien des Systems nicht mehr vereinbarlich ist. Dies tritt schon in dem Fortbestand des Vereinsgesetzes von 1901 mit seinem beschränkenden Sonderrecht für die geistlichen Orden hervor. Es setzt sich fort in einer Reihe von Bestimmungen des Trennungsgesetzes selbst. So dient in ihm die als Pflicht statuierte Öffentlichkeit des Kultus zur polizeilichen Kontrolle und wirkt als eine Art staatlicher Zwangsversicherung für den Fortbestand des Volkskirchentums. Auf der gleichen Linie liegen die rechtlichen Beschränkungen der Kultusvereine. Zwar hat sich gegenüber dem passiven Widerstand der katholischen Kirche die Novellengesetzgebung von 1907 dazu gedrängt gesehen, einiges von der Strenge des ursprünglichen Rechts nachzulassen. Aber der grundsätzliche Anspruch der Staatsaufsicht ist davon nicht berührt. Die neuen Einnahmequellen der Kultusvereine sind gesetzlich auf freiwillige Beiträge, Kollekten und Gebühren beschränkt. Durch Schenkung oder Testament können sie nichts erwerben. Erlaubt ist die Bildung bescheidener Reservefonds, ausgeschlossen die Ansammlung von Vermögen. Die ganze Finanzverwaltung ist der Kontrolle staatlicher Rechnungskammern unterstellt. So ist die Trennung in Frankreich eine wesentlich einseitige. Sie war ein durch schwere Spannungen hervorgerufener [104] politischer Akt mit dem ausgesprochenen Zweck, den Einfluss des Katholizismus im Staatsleben zu brechen. Ob sie auf ihrem eigenen Wurzelboden sich werde halten können, ist zweifelhaft, nach den geschichtlichen Erfahrungen über den Wechsel der kirchenpolitischen Systeme in Frankreich nicht wahrschemlich. Gewiss ist nur, dass sie in irgend welchem Sinn ein Vorbild für den Gang der Kirchenpolitik in Deutschland nicht abgeben kann.

Für die deutsche Frage bedarf es zunächst der Wiederanknüpfung an den geltenden Rechtszustand. Nach ihm besteht bereits so vollkommen als irgendwo eine Trennung insoweit, als solche durch die Verschiedenartigkeit des Wesens von Staat und Kirche gefordert wird: Trennung im Verhältnis zu den Kirchengliedern durch Gewissensfreiheit, Unabhängigkeit der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte vom religiösen Bekenntnis, Verstaatlichung von Personenstand und Ehe; Trennung im Verhältnis zu den Kirchengesellschaften durch Kultusfreiheit und Selbständigkeit der Kirchen quoad sacra interna, wie in Lehre und Kultus, so in den Freigebieten der Autonomie. Eine zweifache Verbindung andererseits unterhält das System der Kirchenhoheit durch Staatsaufsicht und Advokatie auf den früher bezeichneten Gebieten der Sacra externa. Wird das Problem für Deutschland gestellt, so gilt es also, auch diese beiden Beziehungen in ihrer Gesamtheit zu lösen. Soll verzichtet werden auf die gesetzliche und administrative Staatsaufsicht über das kirchliche Ämterwesen, die kirchliche Straf- und Disziplinargewalt, die kirchliche Vermögensverwaltung, die religiösen Vereine und Genossenschaften? Werden religiöse Kindererziehung, Konfessionswechsel, Austritt aus der Kirche der freien Konkurrenz der Religionsgesellschaften ohne bürgerlich rechtliche Ordnung zu überlassen sein? Ist andererseits die Anerkennung der historischen Kirchen als öffentlicher Korporationen zurückzuziehen, also das Kultusbudget zu streichen, die Religion als Privatsache zu behandeln und in allen ihren Einwirkungen auf das öffentliche Leben, in Sonntagsruhe, Gewerbebetrieb, Sozialpolitik, Militärkirchenwesen, Gefängniswesen usw. zu tilgen? ist jeder spezifische Staatsschutz preiszugeben? Ist der Zusammenhang von Staatsschule bis zur grundsätzlichen Beseitigung des Religionsunterrichts und Aufhebung der theologischen Fakultäten zu lösen? Das und im einzelnen noch vieles andere sind die konkreten Fragen und Entschliessungen für die Staaten des deutschen Reichs. Die Stellungnahme zu dem Problem wird stets eine individuelle und subjektive sein. Folgende Momente sind nach meinem Urteil aus den Gesichtspunkten des Rechts und der Politik beachtenswert und entscheidend.

Zunächst die Problemstellung selbst. Man will Trennung von Staat und Kirche in Deutschland „einführen“. Kann man das? Die „Einführung“ wäre der erstmalige Versuch, das System auf ein paritätisches Staatswesen grössten Stils, das religiös und kirchlich komplizierteste der Welt, originär zu übertragen, ein Staatswesen, dessen Verhältnis zur evangelischen Kirche sich seit Jahrhunderten auf dem Boden des Landeskirchentums festgestellt, dessen Verhältnis zur katholischen Kirche unter schweren Erschütterungen sich regional ausserordentlich verschieden planmässig und vorsichtig zu dem gegenwärtigen modus vivendi entwickelt hat. In diesen organisch gewordenen Zustand der Dinge kann man nicht ein kirchenpolitisches System, und wäre es noch so preiswürdig vom Standpunkte der Theorie, mechanisch hineintragen. Das Verhältnis von Staat und Kirche entsteht, es wird aus inneren und geschichtlichen Lebensbedingungen heraus, aus vorhandenen Notwendigkeiten. Es lässt sich nicht künstlich machen. Wird es künstlich durch eine zufällig im Besitz der Macht befindliche Mehrheit „eingeführt“, so kann es, weil nicht der adäquate Ausdruck des Volksbewusstseins, Dauerbestand nicht haben. In Nordamerika ist es geworden, seit und mit der Staatenbegründung wurde jeder intime Assimilationsprozess von Staat und Kirche verhindert. In Frankreich wurde die Sache aus politischen Gründen gemacht. Dort wird das System von der allgemeinen religiösen Überzeugung getragen, hier muss es durch Polizeimacht aufrechterhalten werden. Die richtige Fragestellung ist also nicht die, ob das System „einzuführen“ sei, sondern, ob für Deutschland seine Gegenwartsbedingungen vorhanden sind.

Damit eröffnet sich ein zweiter Fragenkreis der Überlegung. Sind auf dem gegebenen geschichtlichen Boden die inneren geschichtlichen Bedingungen für Deutschland erfüllt? Wer die Dinge real und unbefangen besieht, muss bedenklich sein, die Frage zu bejahen. Zunächst schon im Hinblick darauf, ob es hier möglich sein werde, die grossen historischen Kirchen durch Rechtssatz, [105] also künstlich zu Privatvereinen, d. h. zu einem Gebilde zu machen, das sie nach Wesen und geschichtlichem Bestande nicht sind. Das historisch gewordene Kirchentum in Deutschland trägt nach seiner Verknüpfung mit dem Volkstum noch immer an sich selbst einen schlechthin öffentlichen Charakter. Wie sollte es sich in den Zwang einer Rechtsform fügen, welches seinem Geiste schlechthin widerstrebt! Dieser lehnt es ab, die Kirchen mit wirtschaftlichen Gesellschaften, mit wissenschaftlichen, wohltätigen oder politischen Vereinen juristisch zu identifizieren. Die Lehre von der Religion als Privatsache hat ihre volle Geltung und Berechtigung im Gebiet der individuellen Gewissensfreiheit, sie ist aber für Deutschland keine allgemein gültige Lebenswahrheit im Verhältnis der Religion zur Gesamtheit von Staat und Volk. Damit in folgerichtigem Zusammenhang steht das weitere Bedenken, ob die deutschen Staaten ohne schwere politische und kulturelle Gefährdung die Einbusse an Kirchenhoheit, an Oberaufsichtsrechten zu ertragen vermöchten, welche mit einem korrekt und ehrlich durchgeführten System der Trennung unvermeidlich verbunden ist. Schwere Kämpfe und nachteilige Folgen würden sich nicht nur für die Wahrung der vitalsten Staatsinteressen selbst, sondern insbesondere auch im Gebiet der Paritätspflege ergeben. Denn die Mittel unkontrollierbarer Vereinstätigkeit gestatten eine Kraftentwickelung nach beiden Seiten, sowohl eine unberechenbare Einflussnahme auf die Staatsleitung, als die Ausnutzung der Macht des Stärkeren gegen das Recht des Schwächeren. Es erheben sich endlich grundsätzliche Bedenken gegen die völlige Ausschaltung der Kirche von gewissen Aufgaben der Staatspflege. Es ist insbesondere kein Zweifel, dass mit der absoluten Trennung der Kirche vom staatlichen Schulwesen sich eine der Quellen unserer gesamten eigenartigen deutschen Kultur schliessen würde. Das Gemeinwohl fordert die Erhaltung der theologischen Fakultäten beiderlei Konfession. Der Staat hat ein Lebensinteresse daran, den deutschen katholischen Klerus in der nationalen Kulturgemeinschaft der Universitäten erzogen und erhalten zu wissen, ein noch grösseres daran, den ungeheuren Ertrag der von den evangelisch theologischen Fakultäten geleisteten und zu leistenden Arbeit im überlieferten und bewährten Zusammenhang der allgemeinen Geisteswissenschaften zu erhalten.

Aber halte man von diesen prinzipiellen Bedenklichkeiten so viel oder wenig, als man wolle. Es öffnet sich noch ein dritter Fragenkreis. In ihm treten diejenigen Erwägungen auf, welche die tatsächliche Durchführbarkeit des Systems in der Gegenwart betreffen. Hier müssten insbesondere drei Hindernisse von denen beseitigt werden, welche die Trennung von Staat und Kirche in Deutschland „einführen“ wollen. Das erste liegt im bundesstaatlichen Verhältnis von Reich und Einzelstaaten. Unser Staatskirchenrecht ist seit Entstehung der Landeshoheit in seinem wesentlichen Bestande partikuläres Recht. Diesen Charakter hat es reichsverfassungsmässig noch jetzt. Das Eingreifen der Reichsgesetzgebung war und ist überall nur ein gelegentliches und mittelbares. Eine unmittelbare Reichskompetenz in Religionssachen gibt es nicht. Die Versuche, eine solche zu begründen, sind ausnahmslos gescheitert und mussten scheitern. Eine reichsgesetzliche Durchführung der Trennung von Staat und Kirche würde die grundsätzliche, die totale und radikale Beseitigung des Landeskirchenrechts bedingen. Sie wäre dann nicht mehr der Ausdruck eines verfassungsmässig bestehenden Bundesstaatsverhältnisses, sondern das Anzeichen seiner Auflösung und des Überganges zum Einheitsstaat. Aus dieser geschichtlichen Gebundenheit kann das Problem der Trennung von Staat und Kirche in Deutschland im Zusammenhange mit der Entwickelung des bundesstaatlichen Verhältnisses selbst nicht auszulösen sein. Schon darum ist jede Vergleichung mit Frankreich ausgeschlossen. Dort hatte es die Staatsgesetzgebung nur mit Aufräumung eines auf einheitlichen Rechtsquellen beruhenden Staatskirchenrechts zu tun. Hiernach hätte also in Deutschland das Trennungsgeschäft vom Landesrecht zu geschehen. Hier aber steht überall ein weiteres, durch die Staatsgesetzgebung nicht willkürlich und nicht zwangsweise zu beseitigendes Hindernis im Wege: die Tatsache des landesherrlichen Kirchenregiments über die evangelischen Landeskirchen. Von dem freien Verzichte darauf würde die Durchführbarkeit des Systems schlechthin abhängig sein. Ein solcher Verzicht der deutschen Landesherrn ist nicht zu erwarten. Man beurteile das nicht falsch. Es ist nach Abstreifung des alten territorialistischen Charakters in keinem Sinne mehr eine Machtfrage. Das landesherrliche Kirchenregiment ist nicht bloss ein Inbegriff von Rechten; es steht nicht weniger unter dem Gesichtspunkt einer durch den Gang der deutschen Geschichte auferlegten und dem Protestantismus gegenüber [106] übernommenen schweren Pflicht und Verantwortlichkeit. Jedenfalls ist das Eintreten dieser Voraussetzung etwas so unbestimmbares, dass es nicht als zuverlässiger Faktor in die kirchenpolitische Berechnung einer absehbaren Zukunft eingestellt werden kann. Aber auch wenn dieses Hindernis beseitigt wäre, bliebe noch ein letztes und schwerstes: die dann unvermeidliche Vermögensauseinandersetzung zwischen den Staaten und Kirchen. Auch hier ist unsere Lage handgreiflich verschieden von der des französischen Staats. In Frankreich war durch Gesetz vom 2. Nov. 1789 das konfiszierte katholische Kirchengut für Staatseigentum erklärt. Ohne Übernahme weiterer Verbindlichkeiten wurde der Kirche ein Gebrauchsrecht daran eingeräumt. So konnte das Trennungsgesetz von 1905 „die vom Staat herstammenden Güter“ an diesen zurückfallen lassen und sogar den Schein der Grossmut erwecken, wenn der französische Staat den neu sich bildenden Kultusvereinen gewisse Vermögensbestandteile in widerruflicher Weise überliess. Bei den Säkularisationen des deutschen Kirchenguts i. J. 1803 wurde von allen beteiligten Staaten durch § 35 des Reichsdeputationshauptschlusses eine öffentlich rechtliche Verpflichtung übernommen, die Kirchen dauernd zu dotieren. Diese Verpflichtung wird sukzessive durch die ordentlichen oder ausserordentlichen Staatsleistungen nach Massgabe der Kultusbudgets erfüllt. Ob der Wert des hierdurch Geleisteten den Wert der Säkularisationen schon jetzt erreiche oder übersteige, ist für die bindende Kraft der Verpflichtung selbst ohne Belang. Theoretisch stünde natürlich nichts im Weg, diese Verpflichtung durch einmalige Ablösung zu beseitigen. Tatsächlich wäre eine solche unausführbar. Die Unmöglichkeit der Leistung wird die deutschen Staaten kraft geschichtlicher Notwendigkeit zwingen, bei dem bisherigen System zu bleiben. Solange aber ein Kultusbudget besteht, sind Staat und Kirche nicht getrennt. Das eben ist der Widersinn des Systems und die Quelle der staatlichen Unfreiheit in Belgien, dass das Oberaufsichtsrecht des Staates zurückgezogen, seine Zahlungsverbindlichkeit aber geblieben ist.

Solange diese Hindernisse staatsrechtlicher, kirchenrechtlicher und vermögensrechtlicher Art nicht überstiegen werden können, ist die Möglichkeit einer Trennung von Staat und Kirche in Deutschland nicht abzusehen. Dass sie in irgend einem Zeitpunkt auch hier sich durchsetzen werde, scheint nach dem universalgeschichtlichen Entwickelungsprinzip des Verhältnisses von Staat und Kirche überhaupt gewiss. Der Streit des Tages kann nur darum gehen, ob es richtiger sei, durch vorgreifliche Akte der Gesetzgebung, welche nicht ohne Verletzung wohlerworbener Eechte möglich sind, jenen Prozess künstlich zu beschleunigen, oder seinen Ablauf der Vernunft und Stetigkeit organischer Entwickelung anheimzugeben. Ich trete für das letztere ein. Damit ist schon unzweifelhaft konzediert, dass das herrschende System der Kirchenhoheit selbst noch der weiteren Entwickelung fähig und bedürftig ist. Diese Entwickelung auf der Linie der Gerechtigkeit und Freiheit zu steigern, insbesondere die noch vorhandenen Rückstände auf den Gebieten der Gewissensfreiheit und Paritätspflege zu beseitigen, kann allein die Erfolg verheissende Aufgabe der Gegenwart und nächsten Zukunft sein. Allzusehr hat man sich daran gewöhnt, das Verhältnis von Staat und Kirche unter dem Gesichtswinkel der brennenden Tagesfragen zu betrachten. So entsteht der Eindruck, als ob alles nur von der Willkür der leitenden Personen und der zufälligen Fügung der Umstände abhänge. Darin liegen vielfach die Quellen der Unruhe, der Verbitterung, der leidenschaftlichen Kampfesweise. Es würde zum Frieden dienen und die Stetigkeit der Entwickelung fördern, wenn man sich gegenwärtig halten wollte, dass auch hier eine gewisse natürliche Gesetzmässigkeit, eine geschichtliche Teleologie herrscht, die nicht willkürlich und gewalttätig ohne Schaden für die Sache durchbrochen werden kann. Solches zu begreifen und zu betätigen, ist die Weisheit der Kirchenpolitik. Mit diesem Ergebnis ist die Untersuchung in ihrem Ausgangspunkt bestätigt.