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je und je bestanden hat, also auch ferner bestehen wird. Wohl nur in weitgespanntem Bogen. Aber immerhin, sie besteht. Es waltet auch hier ein universalgeschichtliches Entwickelungsprinzip. Gelingt es, dieses zu fassen, dann ist es auch möglich, auf der Gesamtentwickelungslinie den Punkt annähernd zu fixieren, auf welchem sich gegenwärtig die Dinge befinden. Erst dann kann auch mit einiger Sicherheit von den Zielen und Erwartungen der Zukunft zu reden sein.

Wir stellen das kurze Ergebnis voran. Das erwähnte universalgeschichtliche Entwickelungsprinzip ist ein stetiger Gang von anfänglich engster Vereinigung beider Gemeinschaften zu immer mehr sich durchsetzender Unterscheidung. Es versinnbildlicht sich dem geistigen Auge durch die Vorstellung zweier Kreise, welche zuerst sich decken, sich weiterhin schneiden, sodann an der Peripherie berühren, um endlich ganz auseinander zu streben. Die Berührung an der Peripherie bezeichnet ungefähr den Beharrungspunkt der Gegenwart. Der gesamtgeschichtliche Entwickelungsgang offenbart hiernach zwei Grundverhältnisformen von Staat und Kirche: ihre Einheit und folgeweise Verbindung, ihre Unterscheidung und folgeweise Lösung. Dort gehen Zwecke, Funktionen, Organe beider Gemeinschaften in einander auf oder über. Hier gehen sie teilweise oder ganz auseinander. Innerhalb beider Grundtypen haben sich die konkreten Gestaltungen und Übergangsformen der Einheit wie Verschiedenheit gebildet. In grosser Mannigfaltigkeit zwar, aber doch in gewissen charakteristischen Merkmalen übereinstimmend. Ihre abgeschlossenen, geschichtlichen Resultate bezeichnet die Reflexion als kirchenpolitische Systeme. Es sind drei solcher Systeme, welche sich auf der Linie, je der Einheit und je der Verschiedenheit von Staat und Kirche entwickelt haben. Ihre technische Bezeichnung bleibt vorbehalten.

Mit diesen Feststellungen ist der Grundriss dieses Entwurfs gezeichnet. Es sind zunächst die entscheidenden universalgeschichtlichen Tatsachen in ihrem inneren und äusseren Zusammenhang zu ordnen und kritisch zurechtzustellen (I). Demnächst wird der wesentliche Rechtsinhalt des in Deutschlnad herrschenden kirchenpolitischen Systems zu fixieren sein (II). Endlich möge die Auseinandersetzung mit den Fragen und Sorgen der Zukunft den Gedankengang schliessen (III).

I. Geschichtliches. Unter Verhältnis von Staat und Kirche verstehen wir Rechtsverhältnis, also den Inbegriff von rechtlich geordneten Beziehungen zwischen beiden. Die Geschichte eines Verhältnisses in diesem Sinne konnte erst unter Konstantin und Licinius im Jahre 313 christlicher Zeitrechnung beginnen. Bis dahin waren die Christen entweder als angebliche jüdische Sekte übersehen, oder als Schwärmer mitleidig geduldet oder als Hochverräter blutig verfolgt. Die Begründung eines Rechtsverhältnisses setzte staatlich anerkannte Rechtsfähigkeit der Kirche im römischen Reich voraus. Diese Anerkennung wurde erstmalig im Mailänder Toleranzedikt aus dem genannten Jahre gewährt. Ein wunderbarer Anfang der Geschichte des Verhältnisses von Staat und Kirche. Toleranz nicht etwa bloss für die Christen, sondern Freiheit und Gleichheit für Alle, für Christen, Heiden und Juden. Vollkommene Gewissens- und Kultusfreiheit. Das Mailänder Toleranzedikt, von Ranke eine der vornehmsten Urkunden der Weltgeschichte genannt, könnte in jeder modernen Verfassungsurkunde stehen. Es proklamierte den paritätischen Staat. Ohne Vermessenheit darf man der Phantasie die Frage vorlegen, was wohl geworden wäre, wenn sich auf dieser Grundlage das Verhältnis von Staat und Kirche weiter entwickelt hätte? Viel Spaltung, viele Zwingherrschaft, viel Blut wäre vielleicht vermieden worden. Aber es kam anders. Noch vor dem Schluss des 4. Jahrhunderts war der Freibrief von 313 wieder zerrissen. Im Jahre 380 wurde von Theodosius die christliche Religion zur ausschliesslichen und allein berechtigten Staatsreligion erklärt, die Kirche zur Staatskirche, man darf nicht sagen erhoben, sondern erniedrigt. Gewiss glaubte der grosse Kaiser damit dem Christentum und der Kirche den besten Dienst erwiesen zu haben. Er hat ihr den schlechtesten getan. Er hat ihr innerstes Wesen, die Freiheit auf dem Wege zu Gott, verleugnet und verkehrt. In Namen Christi begann nun der Vernichtungskampf der Gesetzgebung und des Schwertes gegen Heiden und Ketzer. Römischer Staat und christliche Kirche sind eins geworden. Der Staat hat die falsch verstandene Aufgabe des Christentums zu der seinigen gemacht und führt sie mit seinen Machtmitteln durch. Diese am Ende des 4. Jahrhunderts begründete Einheit hat auf nicht weniger als vierzehn Jahrhunderte hinaus das massgebende Prinzip für die Verhältnisbildung von Staat und Kirche abgegeben. Freilich im Gewand sehr verschiedenartiger

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 88. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/108&oldid=- (Version vom 16.7.2021)