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und sich widersprechender kirchenpolitischer Systeme, aber im Wesen gleich. Denn mit jener reichsgesetzlich proklamierten Einheit von 380 war offenbar die Möglichkeit einer doppelten Entwickelung in die Weltgeschichte gelegt. Der Staat konnte sich die Kirche, die Kirche sich den Staat eingliedern. Einheit in beiden Fällen. Im einen Fall dargestellt durch die Herrschaft des Staates über die Kirche, im andern verwirklicht durch die Herrschaft der Kirche über den Staat. Die Geschichte hat beide Folgerungen gezogen, nachdem schon im Jahre 395 die Teilung des römischen Reichs in die östliche, morgenländische mit der Hauptstadt Byzanz und in die westliche abendländische Hälfte mit der Hauptstadt Rom vollzogen war.

Die Kaiser von Byzanz verengerten den Einheitsgedanken zur absoluten Herrschaft des Staates über die Kirche. Seinen klassischen Ausdruck fand dieses Verhältnis in der Gesetzgebung Justinians, vor allem im Cod. Just., lib. I, tit. 1–13. Kein kirchliches Rechtsverhältnis, von Dogma und Kultus fortschreitend bis zu Disziplin und Kirchenvermögen, welches nicht hier von der omnipotenten Gesetzgebungsgewalt der Kaiser geregelt worden wäre. Sie beherrscht das Kirchenwesen nach all seinen inneren und äusseren Beziehungen. Der Byzantinismus ist der weltgeschichtliche Typ für die bedingungslose Unterordnung unter den Willen des Staats geworden. Von den weiteren Schicksalen der Entwickelung im Morgenland ist hier abzusehen und nur das Resultat zu fixieren. Die Einheit von Staat und Kirche im Sinne der absoluten Staatsherrschaft ist für alle aus dem Orient hervorgegangenen Kirchenkörper bis in die Gegenwart hinein die massgebende Verhältnisform geblieben. So verschieden auch unter den wechselvollen Einflüssen der politischen Geschichte die Schicksale jener Kirchen und ihrer zahlreichen Denominationen sich gestaltet haben, nirgends hat sich eine grundsätzliche Scheidung des politischen und religiösen Elements, der staatlichen und kirchlichen Organisation vollzogen, weder im Verhältnis des Staats zur griechisch-orthodoxen Kirche des russischen Reichs, noch im Königreich Griechenland oder in den Balkanstaaten. Auch die abendländisch mittelalterliche Geschichte hat ähnliche Perioden absoluter Staatsherrschaft über die Kirche durchlaufen und ebenso ist der Protestantismus in den beiden ersten Jahrhunderten seines Bestehens kaum mehr als ein Departement der Staatsverwaltung gewesen. Aber überall war dieses Verhältnis im Abendland nur Übergangsform, die Lebenskreise der Kirchen haben sich schliesslich mit relativer Selbständigkeit im Staate bewegt. Die orientalischen Kirchen dagegen haben die ursprüngliche Ausstattung des Byzantinismus in allen wesentlichen Zügen beibehalten.

Anders die Entwickelung im Abendland. Hier lösten sich in Jahrhunderte langem Wechsel die beiden Formen des Einheitsgedankens ab.

Durch eine merkwürdige Gruppierung der Gedanken gebenden Personen und entscheidenden geschichtlichen Tatsachen hat sich hier in grossem Stile der Einheitsgedanke zunächst im Sinne der absoluten Herrschaft der Kirche über die Staaten abgeschlossen. Allerdings erst nach endlosen Reibungen und Schwankungen, nach heftigem Ringen der christianisierten germanischen Staaten, nach Überwindung der Gegenkraft mächtiger Träger des Staatsgedankens, fränkischer und deutscher Könige. Aber vom Höhenstandpunkt retrospektiver Betrachtung erscheinen alle diese Kämpfe mit der päpstlichen Gewalt nur als wechselvolles Schlachtenspiel in dem unaufhaltsamen Siegeszuge Roms. Die urkundliche Deckung für die kirchliche Weltherrschaft war schon im 9. Jahrhundert durch die gefälschten Dekretalen Pseudoisidors beschafft. Die hierin verbrieften Rechte wurden durch die führenden Päpste, beginnend mit Gregor VII. und endigend mit Bonifaz VIII. in Taten umgesetzt. Am Ende des 11. Jahrhunderts ist die absolute Kirchenherrschaft etabliert und sie weiss sich bis zu dem Anfang des 14. zu behaupten. Ihre höchste quellenmässige Offenbarung hat sie in geschlossener und zwingend folgerichtiger Gedankenreihe vor allem in dem grossen kanonischen Rechtsbuch des Mittelalters, dem Corpus juris canonici gefunden. Viele Hunderte von Dekretalen zeugen von dem hier bis ins feine und kleine durchgebildeten System der weltumspannenden päpstlichen Suprematie. Die monumentalste Einzelurkunde dieses Rechtsbuches ist die Bulle Unam Sanctam von 1302, doppelt interessant als Zeugnis vom Höhepunkt und zugleich vom Wendepunkt der päpstlichen Allgewalt. Die Summe des ganzen aber ist diese. Die Kirche der die ganze Menschheit umfassende göttliche Universalstaat. Das Haupt der Kirche also auch das Haupt der Welt. Die Gottgegebene Gewalt des Papstes ist priesterliche und königliche zugleich. Er hat die beiden

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 89. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/109&oldid=- (Version vom 16.7.2021)