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Cujus regio ejus religio. So konnte sich der paritätische Staatsgedanke noch nicht festsetzen, höchstens gab er mehr oder weniger weitgehende Duldung gegen Andersgläubige. Im ganzen blieb die Einheit von Staat und Konfessionskirche. Die protestantische wurde in den Territorien ihres Bekenntnisses Staatsanstalt. Schon am Ende des 16. Jahrhunderts war im wesentlichen überall gleich die protestantische Kirchengewalt mit der Staatsgewalt verbunden, die Kirche kein vom Staat unterschiedener Lebenskreis. Der Staat herrscht über die Kirche. Alles dies gegen den Geist der Reformation und gegen die Absicht der sächsischen Reformation, namentlich Luthers. „Man soll geistliches und weltliches Regiment sondern, soweit als Himmel und Erde sind.“ „Euer Kurfürstlichen Gnaden ist geistlich zu regieren nicht befohlen.“ „Die Obrigkeit hat nichts ins Evangelium hineinzureden.“ Aber diese grundsätzlichen Verwahrungen vermochten den Gang der Tatsachen nicht aufzuhalten. Indem Luther, unter Beziehung auf Kaiser Constantins Verhalten gegen die Irrlehre der Arianer, von der weltlichen Obrigkeit den Schutz für den Bestand der reinen Lehre forderte und Melanchthon ihr das Wächteramt über beide Gesetzestafeln vindizierte, war der Grund zu derjenigen Tatsachenreihe gelegt, welche den Territorialismus begründete. Die Vermittelung geschah durch die Begründung des landesherrlichen Kirchenregiments. Es war die in der Natur der Sache gelegene Konsequenz, dass die Staatsgewalt, ihrem innersten Wesen folgend, die ihr anvertraute Kirchengewalt nun auch nach ihrer eigenen Weise, mit ihren weltlichen Mitteln, und in staatlichem Geiste handhabte. Daher das protestantische Staatskirchentum. Dieses hinwiederum erzeugte eine Parallele in dem kirchlichen Staatsabsolutismus der katholischen Staaten, der Anwendung desselben Beherrschungsprinzips auf die katholischen Landeskirchen im 17. und 18. Jahrhundert. Charakteristische Typen dieser Erscheinungsform des Staatskirchentums bieten vor anderen Frankreich, Bayern und Österreich. In Frankreich mit seinem Höhepunkt unter Ludwig XIV, in Bayern unter den Kurfürsten Maximilian I und Maximilian Josef, in Österreich unter Josef II. Überall bei erstaunlicher Mannigfaltigkeit der rechtlichen Ausbildung derselbe Grundgedanke und derselbe Erfolg: alles Kirchliche ist der Staatsidee untergeordnet. Das damals in Bayern inaugurierte System hat ein Historiker treffend als „kirchliches Polizeiregiment“ charakterisiert. Das ganze Gebiet der kirchlichen Gesetzgebung unter der Kontrolle des Staats, unter einem unerbittlichen mit Anwendung von Strafe und Temporaliensperre durchgesetzten Placet des Landesherrn, die gesamte innerkirchliche Verwaltung der Bischöfe und Pfarrer unter der landesfürstlichen Mitregierung. Das kirchliche Leben der Einzelnen staatlich strenge überwacht, jede Regung nicht katholischen Bekenntnisses unerbittlich unterdrückt. Die Landesherrn, persönlich streng gläubige Katholiken, hatten sich selbst in den Dienst der Kirche gestellt und suchten mit landesväterlicher Strenge die Organe der Kirche bei ihren kirchlichen Pflichten zu erhalten. Ihr Regiment hatte nicht eine die Freiheit der Kirche beschränkende Absicht, wohl aber fiel ihnen die Wohlfahrtspflege von Staat und Kirche in eine Berufsaufgabe zusammen.

Im 19. Jahrhundert löst sich auch das Staatskirchentum. Einzelne Staaten waren der Zeit vorangeeilt. So namentlich Brandenburg-Preussen schon seit dem grossen Kurfürsten. Der durch den Westfälischen Frieden von 1648 für das ältere deutsche Reich geschaffene Rechtszustand gab den Städten und Fürsten durchaus die Freiheit, mit dem überlieferten System der Einheit von Staat und Kirche zu brechen. Zwar bezog sich die in ihm gewährte Parität (exacta mutuaque aequalitas) nur auf die Reichsunmittelbaren, die Reichsstände selbst. Zugleich aber gab er diesen das Jus reformandi exercitium religionis in ihren Territorien. Sie gewannen damit das Recht des Religionsbannes, der Duldung und der Aufnahme der drei christlichen Reichskonfessionen. Je nachdem sie von diesem Reformationsrecht Gebrauch machten, konnten sie, wie in Österreich und Bayern, den alten Konfessionsstaat erhalten, oder, wie in Brandenburg-Preussen, die Gleichberechtigung der Konfessionen schon jetzt durchführen. Beide, die engherzigen und die weitherzigen konnten sich für ihre Religionspolitik gleichmässig auf das Grundgesetz des Reiches berufen. Den grundsätzlichen Bruch mit dem System der Vergangenheit brachte in grossem Stil und vorbildlich zuerst das Preussische Allgemeine Landrecht von 1794. Sein staatskirchenrechtlicher Teil, II. Tit. 11, atmet den Geist Friedrichs des Grossen. Gewissens- und Kultusfreiheit sind anerkannt. Die Staatsherrschaft ist zur Staatsaufsicht gemildert. Die Religionsgesellschaft ist in ihrer gemeindlichen Gliederung als ein nach Zweck und Verfassung vom Staate unterscheidbarer

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 91. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/111&oldid=- (Version vom 17.7.2021)