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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1

1. Der Grundsatz der Parität. Dieser viel missverstandene und missbrauchte Begriff ist im kirchenpolitischen, staatsrechtlichen und kirchenrechtlichen Sinn zu unterscheiden. Kirchenpolitisch bedeutet Parität die gesellschaftliche Gleichheit der Kirchen in dem Masse ihrer rechtlichen Selbständigkeit gegenüber dem Staat. Sie bedeutet nicht notwendig die Einerleiheit des Rechts, sondern richtig verstanden vielmehr nur die Gleichheit der rechtlichen Lebensbedingungen der verschieden gearteten Kirchen in ihrem Verhältnis zum Staat. Jeder das Ihre, nicht jeder das Gleiche. Abstrakte Schablonenhaftigkeit führt zur Imparität. Wahrhaft paritätische Gesetzgebung und Verwaltung muss die einzelnen Kirchen- und Religionsgesellschaften nach ihrer öffentlichen Bedeutung, nach ihren Machtmitteln, nach ihrer eigenen geschichtlichen und prinzipiellen Stellung zum Staat spezifisch differenzieren. Parität im staatsrechtlichen Begriff bedeutet die Gleichheit der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte ohne Rücksicht auf das religiöse Bekenntnis. Sie wurde für das Reichsgebiet schon durch das Norddeutsche Bundesgesetz vom 3. Juli 1869 garantiert. Sie entartet zur mechanischen Parität, wenn aus der Gleichheit der staatsbürgerlichen Rechte eine konfessionell gleichprozentuale Beteiligung an den Staatsämtern gefolgert wird. In der modernen Staatsordnung entscheidet über die Bekleidung von Staatsämtern grundsätzlich die Tüchtigkeit und nicht die Konfession. Parität im kirchenrechtlichen Begriff bedeutet die wechselseitige Unabhängigkeit der Kirchengesellschaften im Staat in ihrem Verhältnis untereinander. Die staatliche Aufgabe der Paritätspflege in diesem Sinn ist die Wahrung des Rechtsfriedens unter den Konfessionen. Die Ordnungen und Veranstaltungen für diesen Zweck beziehen sich insbesondere auf den Schutz des religionsgesellschaftlichen Tatbestandes durch Verbot der Proselytenmacherei und staatsgesetzliche Ordnungen über die religiöse Kindererziehung sowie auf die Integrität des Vermögens. An und für sich besteht für keine Religionsgesellschaft oder deren Angehörige eine rechtliche Verpflichtung zu vermögensrechtlichen Leistungen für Zwecke anderer Religionsgesellschaften. Solche können immer nur durch besondere Rechtstitel, wie Patronatrecht, dingliche Lasten, Simultangebrauch von Kirchen, Kirchhöfen u. a. begründet sein.

2. Der Grundsatz der Bekenntnisfreiheit. Ihre beiden rechtlichen Erscheinungsformen sind die individuelle Gewissensfreiheit und die gesellschaftliche Kultusfreiheit. Die vornehmsten Äusserungen der ersteren sind die Freiheit von Lehre und Wissenschaft, die freie Entschliessung der Erwachsenen über Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit zu einer Religionsgesellschaft, die Freiheit des Konfessionswechsels, die schon erwähnte Unabhängigkeit der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte vom religiösen Bekenntnis. Die selbstverständlichen Schranken der individuellen Gewissensfreiheit liegen im Gebiet der verfassungsmässigen Pflichten, deren Erfüllung sich Niemand unter Berufung auf Gewissensfreiheit entziehen kann. Die gesellschaftliche Kultusfreiheit hat die Anerkennung einer Religionsgesellschaft im Staate zur Voraussetzung. Diese Anerkennung wird durch die Ausübung des staatlichen Reformationsrechts gewährt und näher bestimmt. Das Reformationsrecht im gegenwärtigen Sinne begreift das Recht der Aufnahme neuer und das Recht der staatsrechtlichen Differenzierung der aufgenommenen Religionsgesellschaften. Als die juristischen Grundtypen der letzteren sind zu unterscheiden die Kirchen mit öffentlich-rechtlicher Korporationsqualität, Religionsgesellschaften mit privatrechtlicher Rechtsfähigkeit und religiöse Vereine. Die rechtliche Stellung von öffentlichen Korporationen haben die evangelischen (lutherischen, reformierten, unierten) und katholischen (römisch-, auch meist altkatholischen) Landeskirchen; die öffentlich rechtliche Korporationsqualität drückt sich aus in dem staatlich anerkannten Recht auf Ausübung einer obrigkeitlichen Gewalt über die Kirchenglieder, in der Ausstattung der Kirchen mit besonderen Privilegien und dementsprechend der Ausübung eines besonderen staatlichen Oberaufsichtsrechts. Zur Gruppe der Religionsgesellschaften mit privatrechtlicher Rechtsfähigkeit gehören allgemein die jüdischen Synagogengemeinden, und von christlichen Religionsgemeinschaften Herrnhuter, Altlutheraner, Mennoniten, Baptisten u. a. Die rechtliche Stellung dieser Gattung beruht zumeist auf besonderen Konzessionsurkunden, in denen das Mass ihrer Berechtigung näher festgestellt ist. Die Rechtsstellung der religiösen Vereine bemisst sich nach den öffentlich rechtlichen Vereinsgesetzen der Einzelstaaten, deren Bestimmungen über

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 97. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/117&oldid=- (Version vom 17.7.2021)