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christlichen Charakter zu schaffen und zu bewahren habe. Dieser christliche Staat sollte sich auf ein Christentum stützen, welches nicht der Inbegriff bestimmter dogmatischer Unterscheidungslehren wäre, sondern vielmehr eine Abstraktion aus den allen christlichen Bekenntnissen gemeinsamen Fundamentalwahrheiten. Ein bemerkenswerter positivrechtlicher Niederschlag dieser Bewegung ist der noch in Geltung stehende Art. 14 der Preussischen Verfassung: „Die christliche Religion wird bei denjenigen Einrichtungen des Staats, welche mit der Religionsübung im Zusammenhange stehen, unbeschadet der im Art. 12 gewährleisteten Religionsfreiheit, zum Grunde gelegt.“

Die zweite Vorstellungsreihe, welche parallel mit dem System der Kirchenhoheit in die Praxis eintrat, gleich diesem bereits auf der Linie der Unterscheidung von Staat und Kirche stehend, war von katholischer Seite eingeführt : der Anspruch der rechtlichen Gleichordnung von Staat und Kirche, das Koordinationssystem. Beide sind koordinierte souveräne Gemeinschaften, wie der Staat, so auch die katholische Kirche souverän auf ihrem ganzen aus eigener Vollmacht abgesteckten Rechtsgebiet. Daher kann ihr der Staat keine Grenzlinie im Staat durch seine Gesetzgebung ziehen. Er kann keine Kirchenhoheit in Anspruch nehmen, keine Staatsaufsicht über die Kirche ausüben. Solche ist an und für sich eine Verletzung der Kirchenfreiheit. Soweit eine Grenzregulierung überhaupt notwendig wird, soll sie, wie auch sonst unter den Souveränen des Völkerrechts, durch Vertragsschluss geschehen. Konkordate sind der sprechende Ausdruck des Systems. Ausserhalb der vertragsmässig abgegrenzten Kompetenzen richtet die Kirche ihre Rechtsordnung im Staate aus eigener Machtvollkommenheit auf und muss die Freiheit in Anspruch nehmen, sie mit ihren eigenen Machtmitteln durchzusetzen. Praktisch ist das System fast nur in eben denjenigen Fällen und Beziehungen geworden, in welchen die Verhältnisordnung zwischen den Staaten und der katholischen Kirche irgendwie durch vertragsmässige Festsetzungen geregelt wurde. Von prinzipiell mehr zurücktretender Bedeutung sind die Circumskriptionsbullen, d. h. auf Vereinbarung beruhende einseitig erlassene kirchliche und staatliche Verordnungen über die geographisch kirchliche Einteilung des Staatsgebiets und die für katholische Kirchenzwecke aufzuwendenden Staatsmittel. Der Abschluss von Konkordaten, d. i. prinzipiellen Grenzregulierungen in völkerrechtlich bindenden Verträgen gelang Rom in Frankreich 1801, in Bayern 1817, in Österreich 1855. Das französische Konkordat ist für Frankreich selbst durch die neueste Rechtsentwickelung beseitigt, für Elsass-Lothringen noch teilweise in Kraft. In voller Geltung steht das bayerische mit den durch die Verfassung und das Religionsedikt von 1818 für seiner Anwendbarkeit gegebenen Einschränkungen. Das Österreichische wurde auf Grund des Vatikanums 1870 gekündigt und durch die spätere Staatsgesetzgebung ausser Wirksamkeit gesetzt. Der von Rom eifrig betriebene Abschluss eines Konkordats mit Preussen scheiterte an der Abneigung Friedrich Wilhelm III., über unveräusserliche Majestätsrechte mit dem Papst zu paktieren; es kam nur zur Vereinbarung der Circumskriptionsbulle De salute animarum von 1821. Circumskriptionsbullen kamen ebenfalls zustande für das Königreich Hannover und die Staaten der oberrheinischen Kirchenprovinz. Als ein weiteres praktisches Residuum des Koordinationssystems kann auch noch die Unterhaltung gesandtschaftlicher Beziehungen mit dem päpstlichen Stuhl zu bezeichnen sein, wie solche für das deutsche Reich zwar eingestellt, von Preussen aber wieder aufgenommen worden ist. Aus der Zahl der wissenschaftlichen Verfechter des Systems seien die bekannten Namen Görres, Ketteler und Reichensperger hervorgehoben.

Beide Zwischensysteme konnten in die Entwickelung des Systems der Kirchenhoheit wohl Hemmungen und Anomalien hineintragen, aber seine grundsätzliche Verwirklichung in der Gesetzgebung der deutschen Staaten nicht mehr ausschliessen. Es stellt den objektiven Niederschlag des geschichtlich gewordenen Rechtsbewusstseins über das zeitige Normalverhältnis von Staat und Kirche dar. Zugleich bezeichnet es auf der universalgeschichtlichen Entwickelungslinie den ungefähren Ruhepunkt, auf welchem gegenwärtig das Verhältnis von Staat und Kirche in Deutschland sich befindet.

Den Ruhepunkt, nicht den Beharrungszustand. Einen solchen kann es in diesem schlechthin geschichtlich bedingten Verhältnis nicht geben. Schon jetzt beginnt die Entwickelung über diesen Punkt hinauszudrängen. Die Kirchenhoheit hat ihren Bestand gegen ein anderes kirchenpolitisches System zu behaupten, welches den Kreis der Verhältnisformen von Staat und Kirche überhaupt

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 93. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/113&oldid=- (Version vom 17.7.2021)