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Diverse: Handbuch der Politik – Band 1

schliesst: die Trennung von Staat und Kirche. Die Überführung des Systems der Kirchenhoheit in das der Trennung ist das Problem der Zukunft. Von seinem Inhalt und seinen Aussichten ist später besonders zu handeln. Es ist der einzige Konkurrent, welcher für die Zukunft Deutschlands in Betracht kommt.

Es scheiden für diese zunächst die beiden polarischen Einheitssysteme des Kirchenstaatstums und des Staatskirchentums aus. Sie gehören im ganzen einer unwiderruflichen Vergangenheit an. Beiden fehlen heute alle Voraussetzungen der Verwirklichung. Beide sind mit den Grundlagen des modernen Staates unvereinbar. Das eine vernichtet die Freiheit des Staats, das andere die der Kirche. Beide sind endgültig erledigt. Daran ändert auch nichts der Umstand, dass Rückfälle in beide Systeme sich ereignen, die Kirchenpolitik gelegentlich beunruhigen und vorübergehend sogar einen Einfluss auf Verwaltung oder Gesetzgebung ausüben konnten. Dies gilt zunächst in weitgehendem Masse von dem System des Kirchenstaatstums. Auch nachdem es seit dem 14. Jahrhundert sich nicht mehr im ganzen durchsetzen konnte, hat es doch zu bestehen nicht aufgehört. Es ist das offizielle System der römischen Kurie geblieben. Dies hat sich teils in zahllosen theoretischen Verwahrungen, teils in einzelnen praktischen Vorstössen offenbart. Unter jenen ist von bleibender Bedeutung die Erfindung der sogenannten Privilegientheorie zur Erklärung der rechtlichen Natur der Konkordate; hiernach sind diese päpstliche Indulte, in welchen die Kirche dem Staat gnadenweise gewisse Rechte konzediert. Unter den praktischen Vorstössen älterer Zeit behält monumentale Bedeutung die durch eine einzigartige Sammlung von Verwünschungsformeln ausgezeichnete Bulle Innocenz X Zelo Domus Dei vom 20. November 1648, durch welche der westfälische Friede für null und nichtig erklärt wurde. Als Zeugnisse aus neuerer Zeit sind erwähnenswert die Encyklika Respicientes ea omnia vom 1. November 1870, durch welche der göttlich begründete Anspruch auf den Besitz des Kirchenstaats verwahrt wird, die Enzyklika Quod nunquam vom 5. Februar 1875, in welcher Pius IX. den Anachronismus unternahm, die Preussischen Maigesetze für null und nichtig zu erklären, vor allem aber der Sylabbus errorum vom 8. Dezember 1864, in welchem u. a. jede vom päpstlichen System abweichende Gestaltung des Verhältnisses von Staat und Kirche als Zeitirrtum, Gewissens- und Kultusfreiheit als Wahnsinn verworfen wird. Auch das Vatikanische Konzil bedeutet einen Markstein in der geschichtlichen Reihe dieser prinzipiellen Verwahrungen. Durch die Constitutio Pastor aeternus ist allen früheren päpstlichen Aussprüchen ex cathedra über das Verhältnis von Staat und Kirche der Charakter der Unfehlbarkeit beigelegt und damit das Ganze der mittelalterlichen Hoheitsansprüche dem Quellenbestande des geltenden Rechts einverleibt. In aller Gedächtnis sind endlich die Vorstösse, welche in zahlreichen Dekreten Pius X gegen Modernismus und Parität unternommen hat. Allerdings steht diesen Zeugnissen gegenüber die Tatsache, dass das Papsttum selbst in vielen Fällen von den Forderungen der absoluten Kirchenherrschaft einiges nachgelassen hat. Die amtlich hierfür aufgestellte römische Formel lautet: „ratione temporum habita concedimus.“ Aber eben diese Formel schliesst die prinzipielle Verwahrung in sich ein. Diese prinzipielle Verwahrung wird sich in der einen oder anderen Form immer wiederholen. An der modernen Entwickelung des Verhältnisses von Staat und Kirche wird sie nichts mehr ändern. Zweifellos hat das System eine weltgeschichtliche Mission erfüllt, seinen Zeitaltern Grosses geleistet und eine Menge von Kulturwerten gesichert. Aber es ist unmöglich für Gegenwart und Zukunft. Der gute Glaube an die Authenticität der Rechtsquellen, auf die es sich stützen konnte, ist zerstört. Es fehlt ihm die Legitimation der freiwilligen Unterordnung der Staaten. Die Voraussetzung der rechtlichen Einheit der Kirche, welche allein seine Durchführung ermöglichte, ist entfallen. Mit der Aufgabe der Paritätspflege der Staaten ist es unvereinbar. Mit alledem hat sich sein Schicksal erfüllt und alle anachronistischen Rückfälle können nur dazu dienen, die unüberbrückbare Kluft von einst und jetzt um so greller zu beleuchten. Auch das andere Einheitssystem hat Rückfälle zu verzeichnen. Aber dieses moderne Staatskirchentum trägt andere Züge. Kein Staat hat sich den grundsätzlichen Anspruch der absoluten Herrschaft über die Kirche vorbehalten. Nur gelegentlich haben sich Staaten von verletzenden Übergriffen in die Kirchenfreiheit im Sinne des älteren Systems nicht freigehalten. Das ist, wo und wie es immer geschehe, Rückfall in das Staatskirchentum. Kleine Beispiele davon hat die Geschichte des Preussischen Kirchenkonflikts in den siebziger Jahren dargeboten. Missverständlich

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 1. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 94. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_1.pdf/114&oldid=- (Version vom 17.7.2021)