Lyssa (Λύσσα, Λύττα), die Wut. Bei Homer befällt sie im Kampfe wiederholt Hektor (Il. IX 239. 304f.), weshalb ihn Teukros κύνα λυσσητῆρα nennt (VIII 299); ebenso ergreift sie auf dem Schlachtfeld Apollon (XXI 540f.) Leibhaftig erschien sie in Aischylos Ξάντριαι (FTG p. 56 frg. 169), um die Bakchantinnen aufzustacheln (Phot. p. 326. Suid. s. ὀκτώπουν). Dies ahmt Euripides nach im H. F. 822f., wo sie neben Iris auftritt und den Helden mit Wahnsinn schlägt, so daß er Gattin und Kinder umbringt. Daher nennt unter den allegorischen Gestalten, die ἔκσκευα πρόσωπα des Dramas sind, Poll. IV 142 auch die L. Ferner bezeichnet der Dichter die Raserei Orests als Wirkung der L.: Or. 254. 326. 401. 793. 845; sie selbst und ihre Hunde werden zur Betörung der ohnehin schon verzückten Bakchen und der Agaue losgelassen (Bakch. 851. 977), damit sie den Gottesverächter Pentheus (s. u.) bestrafen. Sogar bis auf eine Genealogie erstreckt sich ihre Beschreibung; sie stammt von Nyx ab und aus dem Blute des Uranos (H.F. 822. 834. 844. 884. 899), das dieser bei seiner Entmannung durch Kronos hat lassen müssen (Hesiod. Theog. 154f. 173f. Apollod. bibl. I 2 W). Bisweilen bezeichnet L. den Liebeswahnsinn: unter den vielen Namen, die Sophokles der Kypris gibt, findet sich auch L. (FTG p. 329. frg. 855, 4); sogar Aphrodites eigene schwärmerische Liebe zu Adonis heißt so bei Theokr. III 47, und Plat. leg. VILI 839 A redet von λύσσα ἐρωτική. Doch mehr als bakchische Lust und Liebesraserei kennzeichnen den personifizierten Begriff L. die Wut des Wahnsinns, von dem Io umhergetrieben wird, und der grausige Drang zur Blutrache, der den Orest zum Muttermord anspornt (Aisch. Prom. 881. Choeph. 280 Kirchh.). So kommt L. in ihrem Wesen ganz nahe den Erinyen, ohne doch wirklich zu ihnen zu gehören; auch ihre Mutter ist sie nicht (gegen Höfer Myth. Lex. II 2213). Auf einer durch die Ähnlichkeit der Wesen bedingten Verwechslung beruht es, wenn Plutarch den Ausspruch des Herakleitos (Vorsokr. frg. 94 Dls), die Λύτται seien Helferinnen (ἐπίκουροι) der Dike (de Is. et Os. 48), ein andermal in der Fassung wiedergibt, die Erinyen seien es (de exil. 11). In bildlichen Darstellungen sind diese und L. manchmal schwer zu unterscheiden (s. u.). Nahe verwandt mit ihr sind auch die abstrakten, aber personifizierten Begriffe Mania und Oistros (s. d.), die bisweilen gleichfalls mit den Erinyen verschmelzen (Paus. VIII 34, 1. Quint. Smyrn. V 451f.; vgl. Dilthey Arch. Ztg. XXXI 1874, 88f. Rohde Rh. Mus. L. 16. 19). Oistros steht im Dienste der L. nach Nonn. paraphr. evang. Joh. θ 158: νῦν ἐδάηνεν ἐτήτυμον, ὅττι σε Λύσσης δαίμονος ἠερόφοιτος ἀλάστορος οἴστρος ἐλαύνει. Beiden Mächten wird hier also die Wirkung des Teufels (δαιμόνιον) zugeschrieben; s. Joh. evang. VIII 52. Bisweilen wirken drei sinnbetörende Dämonen zusammen; unterstützt von Mene (Selene) und Oistros, verwirrt L. in Dionysos’ Auftrage den Geist des Pentheus, so daß er sich mit seiner Mutter Agaue in Weiberkleidung nach dem Kithairon
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begibt: Nonn. Dion. XLVI 97f., vgl. XLIV 227. Gerade auf Darstellungen des Pentheusmythos glaubt man L. zu erkennen; freilich ist sie nirgends inschriftlich bezeugt; auch ist das einzige Epitheton μαρμαρωπός, mit blitzenden Augen (Eur. H. F. 884), kein ausreichendes Erkennungszeichen. Ein Vasenfragment aus Avellino zeigt über dem von Mainaden angegriffenen Pentheus (mit Inschrift) eine nur z. T. erhaltene erinysartige Gestalt mit kurzem Chiton, Jagdstiefeln und Schlangen um den Arm (Bull. Nap. IV tav. 2, 3). Ebenso wie diese wird eine Angreiferin im Jagdkostüm (vgl. Bruhn z. Eur. Bakch. 977) auf einer calenischen Trinkschale nach Aisch. Xantriai (s. o.) von Dilthey 80f. mit Taf. 7, 3 als L. gedeutet, wogegen sie Rapp (Myth. Lex. ΙΙI 1939) zu den Mainaden rechnet. Etwa denselben Typus vergegenwärtigt auf zwei Marmorreliefs mit Pentheus’ Zerreißung (Matz und Duhn Bildw. in Rom nr. 2266. 2267) eine erinysartige Gestalt in Jägertracht. Wesentlich anders und von den anwesenden Mainaden in ihren langen Gewändern kaum zu unterscheiden, auch wie jene fackeltragend stellt sich L. bei dem Strafgericht über Pentheus auf einer Bronzeplatte des Collegio Romano dar (Jahn Arch. Ztg. XXV Taf. 225. Myth. Lex. III 1942f. Ribbeck R. Tr. 575); Zweifel an der Richtigkeit der Erklärung sind freilich auch hier nicht ausgeschlossen. — Ferner begegnet L. auf Bildwerken mit dem Mythos von dem Thraker Lykurgos. Ein Sarkophagrelief der Villa Borghese (Matz u. Duhn nr. 2269) veranschaulicht den König bei der Tötung der Nymphe Ambrosia; zu der blutigen Tat reizen ihn in Anwesenheit mehrerer Gottheiten zwei Frauen an, von denen die rechts, welche das Haupt Lykurgs zur Betörung mit einem Stabe berührt, bald Dike (Milchhoefer Arch. Jahrb. VII 1893, 203), bald L. genannt wird; über Wiederholungen der Hauptszene vgl. Matz Arch. Ztg. XXVII Taf. 21, 2. 3. Bei der Tötung von Lykurgs Sohne ist L. vermutlich zugegen auf einem Relief des Sarkophags Mattei (Matz und Duhn nr. 2271). Doch weit deutlicher hebt sich auf zwei Vasenbildern (Denkm. d. alten Kunst II 38, 442 und Mon. d. Inst. V 23) als besondere Figur ein weibliches Wesen von der Umgebung ab, das, von einem Strahlenkreis umgeben, geflügelt herabschwebend gegen Lykurgos ihr Kentron richtet und ihn zu immer neuem Wüten antreibt, während er den Sohn schon umgebracht hat und nun auch gegen die Gattin den tödlichen Streich führt. Allgemein gilt diese anschauliche Verkörperung des Wahnsinns für L. (Dilthey 85. G. Körte Personifikationen psych. Affekte 21f. Rapp Myth. Lex. II 2197). Gegen eine als L. gedeutete erinysähnliche Gestalt im Jagdkostüm und mit wahnsinnerregender Schlange (Münchner Vase nr. 853) oder mit gebieterisch dem Lykurg entgegengehaltener Rechten (Mon. d. Inst. IV 16. Myth. Lex. II 2198) regen sich schon wieder Bedenken. Die Erklärung schwankt zwischen dem Pentheus- und dem Lykurgosmythos bei einem Relief, auf dem man L. zu erkennen glaubt (Matz und Duhn nr. 2839. Myth. Lex. II 2214, 5).
L. heißt auch die Tollwut des Hundes (und des Wolfes) und ein sie angeblich verursachender
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Wurm, vgl. Xen. anab. V 7, 26. Aristot. hist. an. VIII 142. Aelian. hist. an. VIII 9. IX 15. Plin. n. h. XXIX 98f.; s. o. Bd. VIII S. 2569f. Dies ist wichtig für die Ableitung des Wortes: *λύκjα, eigentlich die ,Wölfische‚' (Gruppe Gr. Myth. 806, 7; vgl. Curtius Etymol.⁵ 553), von der wolfsartigen Angriffslust des tollen Tieres; dagegen nach Bopp Gloss. und Benfey Wurzellex. II 5 gehört es zu skr. rush zürnen, vgl. Curtius 665f. Anders Boisacq Dict. étymol. 592. In der Nähe der arkadischen Ortschaft Κύναιθα, d. i. Hundsbrand, sprudelte unter einer Platane ein Quell Ἄλυσσος. Einem Trunk aus ihm schrieb man beim Biß eines tollen Hundes eine heilsame Wirkung zu (Paus. VIII 19, 2f.); vgl. Preller-Robert Griech. Myth. I⁴ 464. Baedeker Griechenl.⁵ 308.