Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft
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athen. Demagoge 5. Jh. v. Chr.
Band IX,1 (1914) S. 254258
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Hyperbolos, attischer Demagog; die gesamte Überlieferung über ihn ist knapp vereinigt bei Kirchner Prosop. att. II 329ff. nr. 13910. Der Name seines Vaters ist verschieden überliefert: Ἀντιφάνης bei Androtion frg. 48, Χρέμης bei Theopomp frg. 102 M. (= 97 Grenfell-Hunt), Schol. Aristoph. Pax 681 (beide Nachrichten versuchte Fritzsche a. Ο. 140ff. in nicht zu billigender Weise miteinander zu verbinden); derjenige seiner Mutter war Δοκώ, nach der überzeugenden Emendation von Schol. Aristoph. Nub. 552 (S. 435 D.) durch Bergk bei Fritzsche 133ff. and Comm. de rell. com. att. antiquae 312. 313, wahrscheinlich auch mit Kirchner 329 in Schol. Aristoph. Nub. 554 herzustellen. Er gehörte zu dem Demos Περιθοῖδαι (Plut. Alc. 13; Nic. 11). Wie anderen Demagogen, so wurde auch H. von der Komödie der Makel barbarischer und sklavischer Herkunft und damit barbarischer Sprechweise angeheftet (ξένος bei Platon frg. 166 K., vgl. frg. 168, Λυδός ebd. frg. 170, Φρύξ bei Polyzelos frg. 5 K., Σύρος Schol. Aristoph. Pax 692, vielleicht ist auch Leukon frg. 3 K. darauf zu beziehen, vgl. Bergk a. O. 106ff. P. Kretschmer Die griech. Vaseninschr. 74), was in einer Flugschrift des Andokides wiederholt wurde (ξένος καὶ βάρβαρος frg. 5 Bl. L.), welche nach Kirchhoffs überzeugender Auseinandersetzung in die Zeit zwischen 420 und 418 gehört (Herm. I 1ff., bes. 4ff., anders Müller-Strübing Aristophanes und die hist. Kritik 559 Anm.). Dieser auch von Neueren, wie Fritzsche und Bergk 312ff. geglaubte Vorwurf erscheint nicht bloß durch H.s Demotikon, sondern auch durch die Art widerlegt, wie seine Mutter in Aristoph. Thesmoph. 839ff. erwähnt wird (Müller-Strübing a. O. G. Gilbert Beiträge zur inneren Gesch. Athens im Zeitalter des peloponnes. Krieges 210). Nicht einmal die Tradition, daß er einer obskuren Familie entstammte (Aelian. var. hist. XII 43, wozu v. Wilamowitz Aristoteles und Athen I 130, 14; die hier zusammengebrachten Exempel sind auch sonst sehr fraglicher [255] Natur) kann als glaublich gelten, wenn man H.s Wohlhabenheit (vgl. das Folgende) berücksichtigt; daß sein Vater als Sklave in der Münze gearbeitet habe (Andoc. a. O.), steht in Zusammenhang mit der von den Parteifeinden erfundenen Fabel fremder Abkunft und verdient nicht die Umdeutung, welche Gilbert a. O. versuchte. Nicht viel mehr Gewicht ist darauf zu legen, daß Hermippos in den Ἀρτοπώλιδες (und vielleicht auch Eupolis im Marikas frg. 194) H.s Mutter als Brotverkäuferin einführte (dazu Fritzsche a. O. 134. Bergk 314f.). Sowohl die Tatsache, daß H. später Trierarch war, läßt einen Schluß auf die Vermögensverhältnisse seiner Familie zu, als auch, daß er Unterricht bei den Sophisten genoß (Aristoph. Nub. 876); darnach ist die übliche Behauptung der Komödie (vgl. Aristoph. Eq. 188ff.) zu beurteilen, er sei ein ganz ungebildeter Patron gewesen (Eupolis frg. 193 K, vgl. frg. 180). Allerdings gehörte er zu der Generation attischer Politiker, welche seit Perikles’ Tod aufkam und schon durch ihre Lebensstellung im Gegensatz zu den bisherigen ,strategischen‘ Familien stand; seinem bürgerlichen Berufe nach war er Lampenhändler (Kratinos frg. 196 K. Aristoph. Eq. 739. 1304 c. Schol. 1315; Nub. 1065 c. Schol.; Pax 681ff. c. Schol. 690-692). Natürlich wurde auch da die Beschuldigung betrügerischen Vorgehens im Geschäfte gegen ihn erhoben (Aristoph. Nub. 1065 und bes. das Schol.); dagegen Gilbert a. O. 210.

Wann H. geboren wurde, ist ungewiß; die Behauptung, daß er sich bereits als νέος an dem öffentlichen Leben beteiligte, ist nicht sicher genug beglaubigt; es ist möglich, daß bei Kratin. frg. 262 K. und Eupol. frg. 238 K. statt παρελθὼν νέος τῷ βήματι zu lesen ist νέον, vgl. Müller-Strübing a. O. Die politische Laufbahn betrat er vor der Mitte der 20er Jahre des 5. Jhdts.; die früheste Anspielung auf ihn findet sich in Kratinos’ Ὧραι (frg. 262 K.), die wahrscheinlich in die Zeit von 428–426 gehören (J. Zelle De comoediarum gr. saeculo quinto a. Ch. n. actarum temporibus [Diss. Halle 1892] 17ff.), darauf folgend in Aristoph. Eq. 1362ff. und Eupolis’ Πόλεις (frg. 238 K., wahrscheinlich 424 aufgeführt, vgl. Zelle 35, nach Kaibel o. Bd. VI S. 1232 im J. 422). Seine Tätigkeit scheint er mit Prozessen gegen die politischen Gegner begonnen zu haben (Aristoph. Ach. 846ff. c. Schol.), was er auch später fortsetzte (Aristoph. Eq. 1358ff.; Nub. 876; Vesp. 1007); dazu Gilbert a. a. O. 212. Busolt Gr. Gesch. III 2, 1184. Er war ein enragierter Vertreter der Kriegspolitik (Aristoph. Pax 921. 1319) und wollte den Eroberungen eine Ausdehnung geben, wie sie die Athener erst später mit der sizilischen Expedition zu verwirklichen dachten; durch Aristoph. Eq. 1300ff. ist bezeugt, daß er eine große Flottenunternehmung gegen Karthago vorschlug. Ob er aber jemals Strateg war (so Schol. Aristoph. Ach. 846; Pax 1319) ist trotz Seeliger a. O. 745 (mit Anm. 11) zweifelhaft; wahrscheinlich ist er, worauf Aristophanes’ Wendung, Nub. 1065ff. schließen läßt, einmal bei der Bewerbung um die Strategie durchgefallen (Carcopino a. O. 260ff., der nur nicht dabei an das Frühjahr 424 denken durfte, vgl. das Folgende). [256] Im J. 424 wurde er zum Hieromnemon nach Delphi erlost, konnte aber dieses Amt nicht antreten (Aristoph. Nub. 623ff.), wohl wegen eines Formfehlers bei der Wahl, der nach dem Zusammenhang der eben zitierten Stelle, wie Busolt a. O. 1184, 4 bemerkt, mit der damals herrschenden Unordnung im Kalender zusammenhing; dazu auch Fritzsche a. O. 139ff. v. Wilamowitz a. O. II 53, 29. In die darauf folgenden Jahre wird seine Trierarchie fallen, die durch Eupolis (im Marikas) frg. 195 K. und Aristoph. Thesm. 837ff. bezeugt und auf welche wohl auch ein anderes Fragment des Eupolis (192 K.) zu beziehen ist (Bergk a. O. 354). Nach Kleons Tod erreichte er den Höhepunkt seines Einflusses, er war von da ab der anerkannte Führer der Volkspartei – als solcher Gegner des Nikias (Plat. frg. 181 K.) – und leitender Demagog (προστάτης τοῦ δήμου), vgl. Aristoph. Pax 681ff. 686ff. 690ff.; Ran. 570. Schol. Aristoph. Eq. 1304. Plut. Alc. 13. Dem entspricht, daß die Komödie um diese Zeit die heftigsten Angriffe gegen ihn richtete; abgesehen von dem eben angeführten Ausfall des Aristophanes brachte ihn Eupolis im Marikas (vgl. Aristoph. Nub. 553ff., aufgeführt an den Lenaeen 421, Zelle 11. Kaibel o. Bd. VI S. 1232, zu dem Drama Gilbert 212ff. und jetzt B. Keil Gött. gel. Nachr. 1912, 253ff), Leukon in den Phrateres (vgl. frg. 1 K., an den Dionysien 421, Zelle 11, zu dem Stück Bergk a. O. 106ff.) und Platon im H. (419 nach Zelle 43, eher 420 wegen der Anspielung auf die βουλεία, zu dieser Komödie Cobet Obs. crit. in Platonis com. reliquias 136ff. Meineke a. O. 188ff.) auf die Bühne. Diese Invectiven erstreckten sich auch auf H.s Mutter; sie war die Hauptperson in Hermippos Ἀρτοπώλιδες; (Fritzsche a. O. 134ff. Bergk 314ff.), die zwischen 422 und 418 fallen (nach Zelle a. O. 43 in das J. 420) – hier auch πόρνη) genannt (frg. 10 K.) –, und ebenso ließen es Eupolis im Marikas (vgl. Aristoph. Nub. 554 und frg. Eup. 194 K.) und später Aristophanes, Thesmoph. 839ff. nicht an Verunglimpfungen derselben fehlen. Vgl. im allgemeinen Fritzsche a. O. 127ff. und Bergk a. O. 308ff. In die Jahre nach 421 muß auch H.s Mitgliedschaft des Rates gehören, auf welche Platon im H. frg. 166. 167 K. anspielt (dazu Gilbert a. O. 81ff. Fritzsche 139); mit Rücksicht darauf, daß er in einem Volksbeschlusse aus 421/0 (IG I 46) als Antragsteller erscheint, hat v. Wilamowitz a. O. II 129, 11 seine βουλεία auf dieses Jahr bestimmt. Zu einem anderen Psephisma (IG I 49) beantragte H. ein Amendement.

Dadurch daß sich Alkibiades auf Seite der Volkspartei schlug, erstand für H. ein gefahrlicher Rivale in der Leitung des Staates, der durch sein glänzendes Auftreten, die Popularität, welche er sich zu erwerben wußte, und durch seine Geschicklichheit im diplomatischen Intriguenspiel geeignet war, ihn in den Hintergrund zu drängen. H. wartete daher auf eine günstige Gelegenheit, ihn zu beseitigen; er hielt sie für gekommen, als durch die Schlacht von Mantinea (Hochsommer 418) Alkibiades’ auf die Vereinigung der peloponnesischen Mittelstädten gegen Sparta gerichtete Politik eine entschiedene Niederlage erlitten hatte. Zu Anfang 417 beantragte er die [257] Vornahme des Ostrakismos; wenn die Entscheidung gegen Alkibiades ausfiel, so war er diesen los, falls aber Nikias ostrakisiert wurde, der bedeutendste Vertreter der Friedensbestrebungen aus dem Wege geräumt. Allein Alkibiades und Nikias durchschauten seine Absicht und vereinigten sich zu dem Kompromiß, daß die Stimmen ihrer Anhänger gegen H. abgegeben wurden, und so ward dieser des Landes verwiesen (Frühjahr 417); es war das letztemal, daß die Athener den Ostrakismos anwandten, wenn er auch nicht durch ein Gesetz abgeschafft wurde (Aristot. Ἀθ. πολ. 43, 5). Über den Ostrakismos des H. ist viel geschrieben worden; zu verweisen ist besonders auf Zurborg Herm. XII 198ff. Gilbert a. O. 231ff. Seeliger Jahrb. f. Phil. CXV 1877, 839ff. (der einen radikalen Standpunkt einnimmt und Plutarch ganz verwirft), und dagegen wieder Zurborg Herm. XIII 141ff.; Jahrb. f. Phil. CXV 834ff., Beloch Att Politik seit Perikles 55ff. 339ff., zuletzt Carcopino a. O. 221ff. Die Hauptquellen über dessen Hergang sind, abgesehen von der kurzen Erwähnung der Tatsache bei dem Komiker Platon frg. 187 K. Thuk. VIII 73, 3. Androt. frg. 48. Philoch. frg. 79 b, die nicht zu einander stimmenden Berichte Plutarchs im Arist. 7; Alcib. 13; Nic. 11. Der Zeitpunkt ist sicher gestellt durch Theop. frg. 103 M. (= 98 G.-H.), wie zuerst Cobet a. O. 143ff. sah und Seeliger a. O. 739ff. und Beloch a. O. 339ff. bekräftigten. Während Plutarch Arist. 7 die Sache so darstellt, daß es sich um die Entscheidung zwischen Nikias und Alkibiades gehandelt habe, erwähnt er daneben Nic. 11 die auf Theophrast zurückgehende Überlieferung, daß nicht Nikias, sondern Phaiax Alkibiades gegenüberstand, und vereinigt er Alc. 13 die früher getrennten Versionen dahin, daß die drei Genannten bei der Ostrakophorie in Frage kamen, was ganz unmöglich ist. Eine eingehende Kritik seiner Berichte kann hier unterlassen werden, da, wie die neuesten Darstellungen von Beloch (Att. Pol. 55ff.; Griech. Gesch. I¹ 566ff.). Ed. Meyer (Gesch. d. Alt IV 590ff.) und Busolt (Gr. Gesch. III 2, 1258ff.) zeigen, sich eine übereinstimmende und jedenfalls richtige Auffassung des Vorgangs gebildet hat, der ich oben folgte (vgl. auch die umfassende Erörterung Carcopinos a. O.). Nicht ganz klar ist die Rolle, welche dabei angeblich Phaiax gespielt hat. Busolt meint nach Volquardsens Vorgang, daß Phaiax Führer einer oligarchischen Gruppe war und Alkibiades ihn dafür gewann, deren Stimmen gegen H. abzugeben, während Carcopino (a. O. 246ff.) in Weiterbildung eines bereits von Zurborg ausgesprochenen Gedankens in Phaiax einen Strohmann des Nikias sieht, der dessen Sache gegen Alkibiades führte. Ich halte es für am besten, Phaiax bei der Rekonstruktion dieser geschichtlichen Episode ganz aus dem Spiele zu lassen, umsomehr als mir Carcopino (a. O. 236ff.) erwiesen zu haben scheint, daß die Version, er sei an dem Ostrakismos beteiligt gewesen, ihre Entstehung der fälschlich dem Andokides zugeschriebenen, in dem ersten Viertel des 4. Jhdts. entstandenen Rede gegen Alkibiades verdankt, welche nach Plut Alc. 13 Phaiax in den Mund gelegt wurde.

H. begab sich nach Samos, wo er den Rest [258] seines Lebens verbrachte; im Sommer (Juni) 411 wurde er dort von den oligarchischen Verschwörern getötet (Thuk. VIII 78, 8), sein Leichnam in einem Sacke in das Meer versenkt (Theop. frg. 108 M. = 98 G.-H.). Die Charakteristik des H. ist in der antiken Überlieferung einstimmig höchst ungünstig: er wird sowohl von Thukydides a. O., als auch von Aristophanes (Eq. 1304; Nub. 1066; Pax 684) als elender und schlechter Kerl bezeichnet, welcher Auffassung auch Androtion frg. 48, Philochoros frg. 79 b und Plut. Nic. 11; Alc. 13 folgten. Zur richtigen Beurteilung derselben ist nicht zu vergessen, daß ihre Vertreter ausnahmslos im Lager der politischen Gegner des H. standen. Trotz der schon berührten Ausfälle der Komödie, zu welchen noch Leukon frg. 1 K. kommt, wird man an seiner moralischen Integrität nicht zweifeln dürfen (vgl. Carcopino 259); politisch war er allerdings ein fanatischer Anhänger der radikalen Demokratie und skrupelloser Demagog. Aber gerade die erbitterten Angriffe seiner Gegner sind das beste Zeugnis dafür, daß er, wie neuerdings mit Recht betont wurde (Seeliger a. O. 745. Beloch Att. Pol. 50. Busolt Gr. Gesch. III 2, 1185), durchaus nicht so unbedeutend war, wie man früher annahm und wie zuletzt wieder Carcopino a. O. 260ff. dartun wollte.

Literatur: außer den Darstellungen in den Geschichtswerken sind besonders zu nennen F. V. Fritzsche in den Acta societatis graecae I 127ff. (,De matre Hyperboli‘). Meineke Hist crit. comic. graecorum 188ff. Gilbert a. O. 209ff. und J. Carcopino in den Mélanges d’histoire ancienne (Bibliothèque de la Faculté des Lettres XXV 1909) 221ff.

Nachträge und Berichtigungen

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Zu S. 254 Art. Hyperbolos ist nachzutragen:

Die Ansicht von Bignone (Atti della R. Accademia di Torino XLVIII 1912/3, 92ff.), daß frg. I v der Demen des Eupolis (wozu A. Koerte Herm. XLVII 298ff.) auf H. zu beziehen sei, halte ich mit Rücksicht darauf, daß diese Komödie wahrscheinlich in das J. 412 gehört, für problematisch.

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Hyperbolos

[1]) Athen. Demagoge in der 2. H. des 5. Jh. v. Chr. (L) IX 1160.

1) S IV, s. [2]).