Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft
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der Fluß in Indien
Band VII,1 (1910) S. 703708
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3) Ktesias (Indika, bei Phot. bibl. LXXII p. 144ff. und Plin. XXXVII 39) nennt in Indien einen Strom Hypobaros; sein Name bedeute ,der Bringer alles Guten‘, ist also iranisch: hu-upabara. Am Hofe des persischen Großkönigs hat Ktesias die erste Kunde von dem heiligen Strom der Inder erhalten und den Hellenen vermittelt; denn zweifellos dürfte unter dem ,segensreichen‘ Strom der G. verstanden sein. Weiter heißt es, daß der Hypobaros im Norden Indiens entspringe, an einem waldreichen Gebirge entlang fließe und in den östlichen Ozean münde. Aus Ktesias stammt offenbar auch, was sich bei Aristoteles de inundatione Nili (Arist. Pseudepigraphus ed. Rose p. 635; die kleine Schrift ist sicher echt [704] Aristotelisch !) über einen großen Strom östlich vom Indus findet; er entspringt neben dem Indus auf dem Aletus mons und umfließt angeblich ,exterius rubrum mare‘. Auch hier ist zweifellos der G. gemeint. Als Alexander d. Gr. in Turkestan stand und sich zu seinem großen Feldzug nach Indien rüstete, hatte er eine bestimmte geographische Vorstellung nur vom Indus; jenseits des Stromes lag für ihn Indien und dann kam der Ozean (vgl. z. B. Curt. Ruf. VIII 5. 1, auch Plut. Alex.). Erst im Panğāb erfuhr er durch die dortigen Rağās vom G.: der heilige Strom war damit für die geographische Wissenschaft endgültig entdeckt. Zwischen Indus und G., so wurde Alexander berichtet, breite sich eine Wüste (heute Rağputana) in einer Ausdehnung von 11 oder 12 Tagreisen; der G. sei der größte aller indischen Ströme und habe eine Breite von 32 Stadien (Curt. IX 2, 1–3. Diodor. Sic. XVII 93, vgl. auch Plut. Alex. 62). Alexanders brennender Wunsch, die Grenzen seiner Herrschaft bis zu diesem Riesenstrom vorzurücken, wurde durch die Soldatenrevolten vereitelt. Es blieb vorläufig bei diesem mündlichen Bericht der Eingeborenen. Erst mehrere Jahrzehnte später, unter dem Diadochen Seleukos, erblickte das Auge eines Griechen und Abendländers zum erstenmal den heiligen Strom. Es war Megasthenes, der als Gesandter den Austausch von Freundschaftsbeweisen zwischen Seleukos und dem indischen Großkönig Ćandragupta vermittelte und seine Beobachtungen über Land und Leute in dem berühmten Buche τὰ Ἰνδικά niederlegte, das in der Folgezeit das Hauptwerk blieb und in einzelnen Angaben der Zwischenquellen noch im Mittelalter verwertet wurde (s. Indien): Eratosthenes zeichnete Indien, zum Teil wenigstens, nach Megasthenes’ Angaben; Poseidonios bevorzugte ihn noch mehr, Artemidor und Strabon stehen ganz auf seinen Schultern. So geht auch die Kenntnis der griechischen Erdkunde vom G. durchaus auf ihn zurück. Megasthenes lernte den Strom bei Patāliputra kennen, weiter nach Süden und ins Delta ist er nicht gekommen; seine Beobachtungen über den G. konnten bei einem flüchtigen Aufenthalt natürlich nur oberflächliche sein. So erklären sich aus dem Umstand, daß er offenbar während des Sommers zur Zeit der großen Überschwemmungen des G. in Patāliputra war, die stark übertriebenen Angaben der geographischen Literatur der Griechen über die Breite des Stroms: schon der Oberlauf soll noch vor Einmündung eines der großen Nebenflüsse 80 Stadien breit und 20 ὀργυιαί tief sein (Aelian. περὶ ζώων XII 41. Artemidor bei Mela III 68: decem milia p. patens. Plin. VI 65: ubi minimum VIII m. p. latitudine – wobei offenbar eine römische Meile = 10 Stadien gerechnet ist. Solin. 52, 7); an mäßig breiten Stellen soll der G. dann 100 Stadien messen (Strab. XVII 702. Arrian. Ind. IV 7. Plin. VI 65. Solin.); schließlich wird die größte Breite gar auf 400 Stadien angegeben, der Strom gleiche dort Seen von solcher Breite, daß es unmöglich sei, von dem einen das gegenüberliegende Ufer zu erkennen; die gleichzeitige Tiefe wird auf 60 ὀργυιαί geschätzt (Aelian. a. a. O. Arrian. Ind. a. a. O.). Alle diese verstreuten und nirgends im Zusammenhang mitgeteilten Angaben, in die sich teilweise auch Widersprüche eingeschlichen [705] haben, gehen doch im letzten Grunde auf Megasthenes zurück. Den normalen Wasserstand geben auch die ersten Alexander gemachten Mitteilungen der Eingeborenen noch zu groß an: 30 oder 32 Stadien Breite, am richtigsten ist die Zahl von 3 Stadien (Strab. XV 702. Diod. Sic. II 37, 2; außerdem an den ganz oben mitgeteilten Stellen); heute beträgt die Breite bei Benares 426 m, unterhalb von Patāliputra 1500 m. Die Tiefe mißt im Unterlauf heute nur 11/2 m und noch weniger, während der Trockenzeit. Seit Megasthenes galt den Griechen der G. als der größte Strom der Oikumene, größer als der Indus, die Donau, selbst der Nil (Strab. XV 702. 690. Arrian. Ind. IV 2). In Wirklichkeit ist die Lauflänge des Nil mit 6000 km mehr als doppelt so groß als die des G., und auch der Indus mit 3180 km länger als der G. (rund 2500 km). Megasthenes und Eratosthenes schätzten die G.-Länge von der Mündung bis Patāliputra auf 6000 Stadien (Strab. XV 689), Patrokles auf 5000 (Strab. a. a. O.; vgl. Plin. VI 63: 6371/2 römische Meilen). Eine bei Plinius erhaltene, wohl von Daïmachos herrührende Straßenvermessung längs des G. von seinem Austritt aus dem Gebirge in die Ebene bis zur Mündung rechnet 2437,5 römische Meilen (19 500 Stadien = rund 3650 km; nach etwas kleineren Zahlen rund 3435 km; vgl. übrigens Mc Crindle Ancient Ind. by Meg. 130–132). Der Wirklichkeit am nächsten kommt in der Ansetzung der Lauflänge die Ptolemaioskarte.

Die Quellen galten anfangs als unbekannt, wie die des Nil (Plin. VI 65. Solin. 52, 6). Dann werden sie auf Grund der Erkundungen des Megasthenes richtig im westlichen Himalaja festgestellt (Artemidor bei Strab. XV 719 und Mela III 68: in Haemode monte. Eratosthenes bei Strab. XV 690: auf dem indischen Kaukasus. Plinius VI 65: in Scythicis montibus). Der G. entspringe aus zahlreichen Quellen und bilde sofort einen großen Fluß, der in Schluchten, zwischen starrenden Felsen, mit rauschenden Wasserfällen aus dem Gebirge in die Ebene durchbreche (Plin. VI 65. Curt. VIII 9, 5ff. Mela III 68. Arrian. Ind. IV 3). Dieser Schilderung liegt die noch heute bei den Indern volkstümliche Meinung zu Grund, daß der eigentliche G.-Ursprung in der Gōmukhischlucht zu erkennen sei, in welcher der Strom die letzte Vorkette des Himalaja durchschneidet. In Wirklichkeit entsteht der G. aus mehreren Quellflüssen (namentlich der Bāghīratī und Alakananda) im Inneren der zentralen Himalajaketten und tritt schon als ansehnlicher Fluß in jene Schlucht ein (vgl. auch Thornton bei Mc Crindle Ancient India by Megasth. 64 Anm.). Nach seinem Eintritt in die große indische Tiefebene biegt der G. aus der südlichen in rein östliche Richtung um. Das hatte Megasthenes richtig erkannt und den Grund dafür in dem entgegenstehenden Nordrand des Dekhanplateaus gesehen (Strab. XV 690. 719. Curt. VIII 9, 5). Da er den Unterlauf nicht aus eigener Anschauung kannte, blieb ihm verborgen, daß der G. noch einmal in einem rechten Winkel nach Süden umbiegt und in dieser Richtung in den südlichen Ozean ausläuft. So entstand der namentlich durch Eratosthenes' Autorität eingebürgerte Irrtum der griechischen Geographie, dem noch Artemidor und [706] Strabon huldigen (Strab. XV 690. 719), daß der G. in östlicher Richtung in den östlichen Ozean münde. Auch das Delta blieb jenen völlig unbekannt, der Strom sollte nur eine Mündung haben (Strab. a. a. O.). Diese schweren kartographischen Fehler finden wir zuerst bei Mela (III 68) verbessert: der G. läuft mit sieben Mündungen ins Südmeer aus. Die Verbesserung der Richtung des Unterlaufs bringt auch Dionys. perieg. v. 1134 und 1146ff. – deutlich nach derselben Quelle, die nur Poseidonios sein kann (vgl. auch Curt. VIII 9, 5: wenn der G. hier ins Erythräische Meer mündet, so setzt das ebenfalls die kartographische Verbesserung des Poseidonios voraus). Dagegen scheint Melas Notiz über das Delta ganz neu zu sein und der unter Kaiser Claudius nach Rom gelangten Gesandtschaft des Königs von Ceylon verdankt zu werden; Plinius VI 81–89 bringt sie allerdings nicht. Der anonyme Periplus des Erythräischen Meeres § 63 (aus der zweiten Hälfte des 1. Jhdts. n. Chr.) kennt zwar die südliche Richtung des Unterlaufs, aber kein Delta. Die Karte des Ptolemaios endlich (VII 1, 18. 30) zeichnet auch das Delta, aber nur mit fünf Armen, also nach neuen, von Mela unabhängigen Nachrichten (vgl. auch Markian. Herakl. Periplus d. äuß. Meeres I 37). Noch heute ist es indessen nicht leicht, die wirkliche Zahl der G.-Mündungen festzustellen, es sind neben vierzehn großen Flüssen zahlreiche kleinere Kanäle, die ihren Lauf fortwährend verändern. Bemerkt sei, daß Megasthenes, ohne irgend welche Kenntnis des Deltas zu haben, doch von seinen riesigen Inseln gesprochen hatte (Plin. VI 67 nennt nach Megasthenes die G.-Insel Modogalinga; nach Aelian. περὶ ζώων XII 41 hatte Megasthenes die Inseln an Größe mit Lesbos und Korsika verglichen; tatsächlich übertrifft das G.-Delta an Flächeninhalt noch die Insel Sizilien). Im übrigen weist die kartographische Darstellung des Ober- und Mittellaufes des G. durch Ptolemaios einen ziemlichen Rückschritt insofern auf, als die Hauptrichtung bis zu der südlichen Umbiegung des Unterlaufes im ganzen nach Südosten orientiert ist. Von den Nebenflüssen verzeichnet Ptolemaios nur sechs, davon bloß drei mit Namen, obwohl der griechischen Erdkunde seit Megasthenes die große Zahl und die ebenbürtige Mächtigkeit der Nebenflüsse wohl bekannt war (Megasth. bei Plin. VI 65 gab ihre Summe auf neunzehn an; Arrian Ind. IV 3–12 führt siebenzehn namentlich auf; vgl. über sie Mc Crindle Ancient Ind. by Meg. 187–190). Der riesige Zwillingsbruder des G., der Brahmaputra, ist der griechischen Erdkunde dagegen immer unbekannt geblieben.

Von den regelmäßigen Überschwemmungen des G. im Sommer hatte sie richtige Vorstellungen und verglich den Strom mit dem Nil (s. namentlich Arrian. Ind. VI 5f. Strab. XV 690–693. Peripl. maris Erythr. 63. Plin. VI 65). Die ganze hindostanische Tiefebene war von einem Netz von Kanälen bedeckt, die während der Trockenzeit vom G. her Wasser führten und dem Lande eine außerordentliche Fruchtbarkeit verliehen (Philostrat. vit. Apollon. III 5). Der Verkehr auf dem G. muß auch im Altertum enorm gewesen sein, die Schiffe gingen mindestens bis Patāliputra hinauf (Strab. XV 689). Unter der Fauna [707] des Flusses fielen den Hellenen besonders die Krokodile und Delphine auf, daneben Riesenschildkröten (Aelian. περὶ ζώων XXI. 41. Artemidor bei Strab. XV 719. Curt. VIII 9, 9); unter den Krokodilen unterscheidet Aelian zwei Arten, – eine sehr feine Beobachtung, da tatsächlich eine bestimmte Art nur im obersten G. in der Nähe seines Austritts in die Ebene vorkommt, die andere, das langschwänzige Krokodil, dagegen sich nur im untern Teil des Stromes aufhält.

Nur Strabon XV 718 erwähnt kurz, daß der G. bei den Indern göttliche Verehrung genieße (als die Ganga); die ungewöhnliche Heiligkeit des G., die auch im Altertum sicher unzählige Pilger anlockte, die reinigende und sühnende Kraft, die dem Flußwasser in der brahmanischen Religion zugeschrieben wird, scheint den Griechen nicht recht bekannt geworden zu sein.