Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft
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griechischer Grammatiker, Verfasser eines Glossars zu Hippokrates
Band VI,1 (1907) S. 544548
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Erotianos, griechischer Grammatiker, Verfasser eines Glossars zu Hippokrates. Über seine Lebensverhältnisse ist nichts bekannt. Sein Buch war, wie wir aus der Vorrede und aus den Schlußworten ersehen, dem ἀρχιατρός Andromachos gewidmet. Andromachos war Leibarzt des Kaisers Nero. E. lebte und schrieb also in der zweiten Hälfte des 1. Jhdts. n. Chr. Das unter dem Titel Ἐρωτιανοῦ τῶν παρ’ Ἱπποκράτει λέξεων συναγωγή erhaltene Buch hat in den Hss. die Form eines Lexikons, in dem die einzelnen Glossen in alphabetischer Ordnung, jedoch nur mit Berücksichtigung des ersten Buchstabens, aufeinander folgen. Das ist jedoch nicht die ursprüngliche Gestalt, in der das Buch abgefaßt war. In der Vorrede bemerkt E., daß er im Gegensatz zu Epikles und Glaukias, deren Glossare κατὰ στοιχεῖον angelegt waren, seiner Sammlung die Reihenfolge der Hippokratischen Schriften zu Grunde gelegt habe und aus den einzelnen Schriften der Reihe nach die schwierigeren Ausdrücke erklären wolle. Weiter gibt er dann eine Einteilung der von ihm für echt gehaltenen Hippokratischen Schriften und ein Verzeichnis der zu den einzelnen Klassen gehörigen Schriften. Als erste Schrift der ersten Klasse (σημειωτικά) wird das Προγνωστικόν genannt und die Vorrede schließt mit den Worten: λοιπὸν ἀρξώμεθα ἀπὸ τοῦ προγνωστικοῦ Die überlieferte Fassung des Glossars rührt also von [545] einem späteren Bearbeiter her, der die Artikel alphabetisch nach den Lemmata ordnete und die so hergestellten Glossenreihen unter die einzelnen Buchstaben verteilte und schichtenweise aneinanderreihte. Spuren der ursprünglichen Anlage sind auch in der überlieferten Fassung noch vorhanden, da der Bearbeiter es unterließ, solche Spuren, wie die Hinweise auf den erklärten Text (z. B. νῦν oder ἐνθάδε), die jetzt unverständlich sind, oder Wiederholungen derselben Erklärung in dem Lexikon zu beseitigen. Dieses Sachverhältnis erkannte zuerst der gelehrte holländische Arzt Adrian Heringa, der in seinen Observationes criticae den Versuch machte, in dem Glossar die Artikel zu ermitteln, die sich auf das an erster Stelle von E. erklärte Προγνωστικόν beziehen, und die Reihenfolge zu rekonstruieren, in der sie von E. erklärt waren. Heringas Versuch, so den ursprünglichen E. wiederherzustellen, blieb für lange Zeit der einzige. Der neueste Herausgeber, Jos. Klein, nahm zwar die Resultate Heringas in seine Prolegomena auf, erklärte aber weitere Untersuchungen in dieser Richtung für zu schwierig. Inzwischen war ein weiteres Hilfsmittel für die Wiederherstellung bekannt geworden. Ch. Daremberg fand nämlich in zwei vatikanischen Hss. des Hippokrates (Vat. gr. 277 und Urbinas gr. 68) unter den Scholien eine Anzahl Glossen, die teils mit Artikeln der Συναγωγή des E. übereinstimmen, teils mit Sicherheit auf E. zurückgeführt werden können. In diesen Scholien ist also noch die ursprüngliche Fassung des Erotianischen Buches benutzt. Zugleich ergibt sich, daß uns die Συναγωγή nicht bloß in veränderter Gestalt, sondern auch unvollständig in den Hss. erhalten ist, was übrigens auch aus dem Lexikon selbst an vielen Stellen hervorgeht. Klein hat von diesem wichtigen Fund nicht den richtigen Gebrauch gemacht. In seiner Ausgabe stehen die beiden Rezensionen gesondert nebeneinander, er gibt zuerst die von Daremberg in seinen Notices et extraits des manuscrits médicaux (Paris 1853) publizierten Scholien, vermehrt um einige von Cobet gefundene und von Littré aus Pariser Hss. ausgezogene, im ganzen 81 Glossen, als Bruchstücke des ursprünglichen Werkes unter dem Titel Ἐκ τῶν Ἐρωτιανοῦ λέξεων und läßt dann die Συναγωγή folgen. Erst J. Ilberg hat in einer gediegenen Abhandlung gezeigt, wie die Sammlung in ihrer ursprünglichen Form ausgesehen hat und wie diese wiederherzustellen ist. Die Reihenfolge der Hippokratischen Schriften, an die sich E. gehalten hat, entspricht nicht genau dem Verzeichnis der Vorrede. Vielmehr folgt er der von der dogmatischen Schule der Medizin aufgestellten Einteilung der Schriften in drei Hauptklassen: 1. σημειωτικά. 2. αἰτιολογικὰ καὶ φυσικά. 3) θεραπευτικά. In sorgfältiger Prüfung stellt Ilberg fest, wie innerhalb dieser Klassen die Schriften bei E. aufeinander folgten und welche Glossenreihen zu den einzelnen Schriften gehören. Als letzte Schrift der dritten Klasse war der Ὅρκος erläutert, wie aus einem Scholion hervorgeht, in dem die (im Lexikon selbst fehlende) Glosse γενέτῃσιν erklärt wird; auf die Erklärung folgen nämlich noch drei Sätze, die offenbar als die Schlußworte des ursprünglichen Werkes anzusehen sind. [546]

Das Glossar des E. gehört trotz der Umgestaltung und Verstümmelung, die es erfahren hat, zu den bedeutsamsten Resten der lexikographischen Literatur der Griechen. Es leistet nicht nur gute Dienste für die Erklärung der Hippokratischen Schriften im einzelnen, sondern ist auch von Wert für die Textkritik, da an vielen Stellen aus ihm wichtige Lesarten gewonnen werden, die wegen der von den Hippokrates–Hss. abweichenden Überlieferung Beachtung verdienen. Sodann aber gibt uns die Συναγωγή ein zwar unvollständiges, aber immerhin ganz interessantes Bild von der einstmals sehr reichen Erklärungsliteratur zu Hippokrates. Ein großer Teil der Glossen ist allerdings durch Schuld des Bearbeiters oder der Abschreiber stark verkürzt auf uns gekommen. An einigen aber, die etwas besser erhalten sind, können wir noch erkennen, wie ausführlich und reichhaltig die Sammlung ursprünglich gewesen sein muß. Es gibt darin Artikel, die an die besten Zeiten alexandrinischer Gelehrsamkeit erinnern und die eine Fülle von Zitaten und Belegen aufweisen, nicht nur aus den älteren Erklärungsschriften, sondern auch aus der klassischen Literatur, aus Homer, Hipponax, den drei großen Tragikern, den Komikern Aristophanes, Eupolis, Pherekrates, Menander, Philemon und anderen. In dem Artikel Ἅμβην z. B. werden die Erklärungen von nicht weniger als zwölf medizinischen Schriftstellern angeführt, alsdann wird auf zwei Grammatiker verwiesen. Aristophanes von Byzanz ἐν ταῖς Ἀττικαῖς λέξεσιν und Epitherses ἐν β’ τῶν λέξεων, und schließlich noch Aischylos und der Komiker Aristophanes zitiert. E. war nicht der erste, der eine solche Sammlung von Hippokratesglossen herausgegeben hat. Vor ihm hatten bereits, wie er selbst in der Vorrede erzählt, die Ärzte Bakcheios von Tanagra, Philinos, Epikles, Apollonios Ophis, Dioskorides Phakas, Herakleides von Tarent, Apollonios von Kition, Glaukias und Lysimachoatiker betreffende Stelle der Vorrede ist leider verderbt und lückenhaft). Alle die genannten Schriftsteller werden auch im Glossar selbst von E. zitiert. Die Frage, welche dieser Quellenschriften E. direkt benutzt hat, ist besonders auch wegen der schlechten Überlieferung des Glossars schwierig. Am häufigsten wird Bakcheios zitiert (64 mal), der ein großes Werk über λέξεις Ἱπποκράτους in drei συντάξεις verfaßt hat. Wiewohl bisweilen seinen Erklärungen widersprochen wird (mit οὐκ ὀρθῶς, οὐ νοήσας, ἀγνοήσας u. ä.), dürfen wir doch annehmen, daß E. dieses Werk, das auch später noch, wie wir aus Galens Vorrede zu seiner Sammlung Hippokratischer Glossen entnehmen können, bei den Ärzten in Ansehen stand, selbst benutzt und vielleicht als Hauptquelle seinem Buche zu Grunde gelegt hat. Außer Bakcheios werden von den älteren Vorgängern öfters zitiert und wurden wohl von ihm selbst eingesehen Epikles, Herakleides von Tarent und Glaukias, seltener Philinos und Apollonios von Kition. Daneben hat E. einige andere Schriften medizinischen und naturwissenschaftlichen [547] Inhalts zur Erklärung herangezogen, auch solche, die erst zu seiner Zeit oder kurz vorher verfaßt waren, wie die Bücher des Dioskorides von Anazarbos περὶ ὕλης ἰατρικῆς und des Sextius Niger περὶ ὕλης (Strecker 292ff.). Ob und inwieweit E. außer diesen von Ärzten herrührenden Schriften auch allgemein grammatische Literatur benutzt hat, ist schwer zu entscheiden. Daß vieles bei E. auf grammatische Schriften zurückgeht, beweisen die zahlreichen Zitate aus den klassischen Autoren. Auch die häufigen Hinweise auf attische λέξεις und attischen Sprachgebrauch lassen eine grammatische Quelle vermuten. Einige Grammatiker werden auch ausdrücklich zitiert: Eratosthenes, Aristophanes von Byzanz, Kallistratos, Apollodor, Artemidor, Diodor, Eirenaios, Epitherses. Am meisten begegnet der Name des Aristophanes von Byzanz; er wird siebenmal ausdrücklich angeführt, ist aber nachweislich noch an einigen anderen Stellen benutzt. E. hat aber schwerlich die λέξεις des Aristophanes selbst in Händen gehabt. Wahrscheinlich stammen alle diese Stellen bei E. (nicht aus dem Lexikon des Pamphilos, wie L. Cohn früher annahm Jahrb. f. Philol. Suppl. XII 326, sondern) aus dem Werke des Bakcheios, da wir durch Galen (Gloss. Hippocr. Prooem. p. 404 Franz) wissen, daß Bakcheios die Belege, die er aus anderen Autoren beibringt, von Aristophanes erhalten hat (Ἀριστάρχου bei Galen ist von Klein richtig in Ἀριστοφάνους verbessert). Unter den Grammatikern, die in ihren Schriften den Hippokrates nicht unberücksichtigt gelassen haben, wird in E.s Vorrede auch Didymos genannt. Ohne Grund haben M. Schmidt (Didym. 24) und J. Klein aus dieser Stelle geschlossen, daß Didymos λέξεις Ἱπποκράτους verfaßt hat. Klein wollte sogar nachweisen, daß Didymos als die Hauptquelle des E. anzusehen sei, in der alle früheren Schriften verwertet waren. Danach müßte also gewissermaßen Didymos bereits das geleistet haben, was E. sich vornahm, eine durchaus verfehlte Ansicht (vgl. dagegen L. Cohn a. a. Ο. 325f. Strecker 263ff.). Im Glossar selbst wird Didymos nicht erwähnt; dennoch ist es nicht unmöglich, daß einige Stellen, besonders solche, in denen Komikerzitate vorkommen, auf Didymos zurückgehen. Unwahrscheinlich ist aber, daß E. selbst z. B. die λέξις κωμική in erheblichem Maße benutzt haben sollte. Wenn Klein auf die häufige Übereinstimmung des Hesychios mit E. hinweist und diese daraus erklären will, daß Pamphilos und E. als gemeinsame Quelle Didymos benutzt haben, so ist auch dies ein Irrtum. Die Übereinstimmung rührt daher, daß Hesychs (d. h. Diogenians) Quelle für einen Teil seiner medizinischen Glossen E. selbst war (Strecker 268ff.).

E.s Buch erlangte später solches Ansehen, daß es alle früheren Werke dieser Art in den Schatten stellte, so daß sie untergingen. Zuerst wurde E. von Diogenian benutzt, der nach dem Zeugnis des Hesychios in dem Briefe an Eulogios auch die bei den Ärzten vorkommenden λέξεις in sein Lexikon aufgenommen hat. Ein großer Teil der bei Hesychios vorkommenden Hippokratesglossen ist, wie bereits bemerkt, aus E. entlehnt; bisweilen sind bei ihm in einer Glosse die Erklärungen des E. mit anderswoher entlehnten, z. B. [548] aus dem Homerlexikon des Apollonios, zusammengeschweißt. Aus dem Lexikon des Diogenian sind einige E.–Glossen auch in das Lexikon des Photios und in das Etymologicum Magnum (zitiert s. ἄμπωτις p. 87, 4) übergegangen. Galen erwähnt in seiner Sammlung Hippokratischer Glossen E. nur einmal, er hat ihn aber auch sonst benutzt; bisweilen berühren sie sich nur so, daß Benutzung derselben Quelle, z. B. Bakcheios, anzunehmen ist (J. Ilberg Comment. Ribbeck. 346ff.).

Die Hss. der Συναγωγή sind alle sehr jung; eine Hs. (Vat. gr. 277) stammt aus dem 14. Jhdt., alle anderen aus dem 16. Jhdt. Ausgaben: H. Stephanus (in seinem Dictionarium medicum) Paris. 1564. H. Mercurialis Venetiis 1588. Anutius Foësius in seiner Oeconomia Hippocratis, Francof. 1588, und in seiner Hippokratesausgabe, Genevae 1657. J. G. F. Franz Lipsiae 1780. Erotiani Vocum Hippocr. conlectio rec. Jos. Klein Lipsiae 1865. Literatur: Adrian Heringa Observationes criticae, Leeuwarden 1749. K. Strecker Zu Erotian, Hermes XXVI (1891) 262–307. Joh. Ilberg Das Hippokratesglossar des Erotianos und seine ursprüngliche Gestalt, Abhdl. d. philol. hist. Cl. d. Sächs. Gesellsch. d. Wissensch. XIV (1893) 101–147.

[Cohn. ]