Textdaten
<<< >>>
Autor: Gottfried Kinkel
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Meine Schuljahre
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 3, 6, 11, 13, S. 44–47, 97–100, 178–181, 209–211
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1873
Verlag: Verlag von Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
korrigiert
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal Korrektur gelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite


[44]
Von Gottfried Kinkel.
(Geschrieben Winter 1849–50 im Gefängniß zu Naugardt.)
I.

Seit in der Gartenlaube vom verflossenen Jahre der Anfang meiner Selbstbiographie, nämlich die Geschichte meiner Kindheit, erschienen ist, haben viele Stimmen, von Freunden wie von Fremden, mir gesagt, daß man sich des heitern Tones darin freut, den auch die Kerkerluft nicht herunterstimmen konnte. Das ermuthigt mich, mit einem zweiten Capitel hervorzutreten. Ohne jene mir octroyirte Muße hätte ich gewiß nie daran gedacht, mein Leben zu schreiben. Jetzt freut es mich doch, daß es damals soweit geschehen ist; denn es ist über mich bei lebendigem Leibe so viel dummes Zeug, halb als thatsächliche Erzählung, halb als Romanschwindel in die Welt hinausgeschrieben worden, daß ich nicht wünschen kann, als ein so grob geschnitzter und roh angemalter Oelgötze auf die Nachwelt zu kommen. Wohl berührt mich meine eigene Handschrift aus dem Gefängniß mit ihrer ausgeblaßten Tinte auch oft fremdartig, da so Mancher schon geschieden ist, von dem ich damals als einem Lebenden lustige Sachen erzählte, während wieder mein ältester Sohn, den ich 1849 als ein schwächliches Kind bezeichnete, heute kerngesund, ein kräftiger Mann und thätiger College, uns zum Sonntags-Roastbeef besucht. Allein wollte ich an jenen Aufzeichnungen etwas ändern, so möchten sie von dem Werthe, den die Leser ihnen beizulegen scheinen, ein Wesentliches verlieren; denn daß sie so, wie sie sind, eben im Gefängniß niedergeschrieben wurden, das giebt ihnen einen Charakter, den spätere Zusätze und Nachbesserungen nur beeinträchtigen könnten. Ich will mich daher auch gar nicht darüber entschuldigen, daß ich mit so strenger Wahrheit über Eltern, Verwandte, Lehrer geschrieben habe; denn Selbstbekenntnisse (und jede Selbstbiographie ist eine Confession) gewinnen einen Werth überhaupt nur durch unbestochene Wahrhaftigkeit.

Nachdem ich daher im ersten Capitel berichtet habe, wie meine reiche und phantasievolle Jugend am Fuße des Siebengebirges in dem schönen Oberkassel verfloß und wie ich mit neun Jahren für die lateinische Schule reif war, will ich jetzt getreu mit den Worten des in Naugardt niedergeschriebenen Originals, das hier vor mir liegt, den Lesern der Gartenlaube meine Schuljahre erzählen.


In der Aufnahmeprüfung für das Gymnasium in Bonn bestand ich recht gut und hätte, wie man meinem Vater sagte, in Tertia eintreten können. Da ich aber so sehr jung und es gerade Ostern war, setzte man mich erst für ein halbes Jahr in Quarta, wo ich immer noch einer der kleinsten Schüler blieb. Ich wohnte im Hause des Gerichtsvollziehers Bücheler, das sehr freundlich an dem lindenbepflanzten Münsterplatze liegt, und habe mich mit den Hausleuten so wohl vertragen, daß ich bis zum Bezuge der Universität mein Quartier nicht wechselte. Der Hausvater sowohl als seine Frau waren herzgute Leute, und bei meiner anschmiegsamen Natur wurde ich bald als das jüngste Kind im Hause betrachtet und behandelt. Ich lebte ganz in der Familie und speiste am Tische des Hauses; nach alter Bürgersitte [45] aß das Dienstmädchen in demselben Zimmer mit, aber an einem Seitentische. Es wohnte auch noch die Mutter des Hausherrn bei ihm, ein altes Mütterchen, das den ganzen Tag spann und voll von prächtigem Hexen- und Zauberglauben war, der uns junges Volk oft zum Necken der Alten reizte. Die Hausmutter hatte immer nur Söhne geboren, die alle vier noch in der Familie waren. Der älteste war Mediciner, und demselben Berufe bestimmte sich auch der jüngste, der eben zur Universität reiste; von den beiden mittleren studirte Einer die Rechtswissenschaft, der Andere bereitete sich für den Stand des Vaters vor. Dem Juristen war ich zur Aufsicht übergeben und bewohnte mit ihm Eine Stube; als er später seine Studien vollendet hatte, übernahm der Jüngste denselben Beruf bei mir. Es herrschte in diesem Hause gar nichts von schwärmender oder besonders gefühlvoller Ausdrucksweise, aber dafür eine allgemeine Herzlichkeit und dabei unter den jungen Männern eine oft neckische Fröhlichkeit, so daß ich von dem Geistesdruck des Pfarrhauses mich sofort erleichtert fühlte und recht glückliche Jahre dort zugebracht habe.

In der Classe ging es mir anfangs schlimm. Ich kam wie ein ganz fremder Vogel unter die wilde Schaar, und da ich klein und schwächlich war, gab ich den Spielball für Alle ab. Auch betrug ich mich höchst lächerlich. Wenn der Lehrer eintrat, sagte ich ihm guten Tag, und ging er weg, rief ich ihm Adieu nach; das schien mir die Ehrerbietung zu verlangen. Da ich nie mit anderen Buben im Spiele geschrieen und gejubelt hatte, sprach ich Alles in einem singenden, weinerlichen Tone hin, als wenn ich eine Litanei betete. Auch wußte ich mein dem Standpunkte der Classe weit überlegenes Wissen anfangs gar nicht geltend zu machen, weil die Methode eine ganz andere als die meines Vaters war. So verbrachte ich ein paar recht trübe Wochen auf den untersten Schulbänken und konnte gar nicht begreifen, daß, wenn ich’s mit aller Sorgfalt recht gut zu machen suchte, meine Mitschüler lachten, meine Lehrer aber den Kopf schüttelten. Bald jedoch kam ich in Schuß und ging noch denselben Herbst, eben erst zehn Jahre alt, mit einem glänzenden Zeugnisse in die Tertia über.

Da ich Sonnabend Nachmittag und Sonntag frei hatte, verwandte ich sie stets, um nach Oberkassel zu wandern, wo ich jetzt sehr gern verweilte. Es ist von Bonn eine gute Stunde Weges. Anfangs ließen meine Eltern mich abholen, allein das war auf die Dauer nicht durchzuführen, und so gewöhnte ich mich an einsames Marschiren. Sonntags Abends fuhr ich meist beim Dorfe über den Strom und ging dann am linken Ufer durch die Dämmerung nach Bonn zurück. Diese Wanderungen hielten mich rüstig und weckten in mir den körperlichen Muth, der mir bis dahin sehr gefehlt hatte. Von den andern Knaben erlernte ich das Einfangen und Aufspannen der Schmetterlinge und legte mir in Oberkassel eine Sammlung an, die bald höchst vollständig wurde; auch auf das Ziehen der Abend- und Nachtfalter aus Raupen verlegte ich mich mit Eifer und Glück. Später lernte ich mit Genehmigung der Eltern von dem gräflichen Jäger die Behandlung des Schießgewehres und stopfte die Vögel, die ich schoß, selber aus. Endlich bat ich meine Eltern, daß sie mich eine Art Handwerk lernen ließen, damit ich wie die alten Rabbiner nöthigenfalls auch so mein Brod verdienen konnte. Das bewilligten sie gerne, und ich nahm während einer Vacanz Unterricht bei einem Bonner Buchbinder in Papparbeit, worin ich es damals zu recht zierlichen Leistungen gebracht habe. Das Vaterhaus war mir jetzt der liebste Ort, denn ich hatte nun Freiheit in ihm, und mein Vater selbst behandelte mich immer achtungsvoller, wie ich im Lauf der Jahre an Kenntnissen ihm etwas näher kam. Besonders aber die Mutter, die mich nun auf einen so guten Weg geleitet sich, umfaßte mich mit tiefster Innigkeit, wenn ich so am heißen Sommertage in Staub und Schweiß durch das sandige Feld zu ihr gewandert kam und nun unter das kühle Dach eintrat. Auch meine Schwester war sehr freundlich gegen mich, seit ich durch Körperkraft und Wissen sie überwog und mehr und mehr in das Verhältniß eines ritterlichen Beschützers zu ihr trat. In den ziemlich lang dauernden Herbstferien half ich fortwährend, wie früher, an allen ländlichen Arbeiten mit, und schloß mit mehreren Bauersöhnen meines Dorfes viel herzlichere Freundschaften, als mit meinen städtisch erzogenen Mitschülern. Mein Wesen wurde in der größeren jetzt mir gestatteten Freiheit kecker und frischer, und zu Zeiten ließ ich mit meinen Spießgesellen in Dorf und Feld auch wohl einen tollen Streich los, was denn meistens vertuscht wurde, oder doch straflos blieb.

Mein Schulleben nahm einen geregelten Lauf; in Tertia saß ich ein Jahr, in jeder der beiden oberen Classen, wie es Brauch auf dieser Schule war, zwei Jahre. Schon in der Tertia besserte sich das Betragen der Mitschüler gegen mich: sie merkten wohl, daß ich durch Kenntnisse ersetzte, was mir noch an Körperstärke abging, und da ich ihnen folglich nützen konnte, bewarben sie sich um meine Freundschaft. Auch ich legte meinerseits die lächerlichen Seiten mehr und mehr ab. Am schwersten überwand meine lebhafte Natur eine gewisse körperliche Unruhe, welche den Lehrern stets zum Aerger gereichte. Ich war wie Quecksilber, und wenn ich beim Unterricht nicht ganz scharf Acht gab, mußte ich immer etwas zu spielen, zu schnitzeln oder zu blättern haben, so daß ich den Schein der größten Unaufmerksamkeit auf mich lud. Nun brauchte ich in Tertia zu Hause fast gar nicht für die Schule zu arbeiten, weil ich alles dort Vorkommende bereits früher einmal gelernt hatte, und doch ging ich wieder mit einer glänzenden Censur zur Secunda auf. Da sollte mir aber in dieser Classe ein Unfall begegnen, der mich arg beschämte. An bequemes Arbeiten einmal gewöhnt, spannte ich auch jetzt, wo doch ganz neue Lehrgegenstände eine scharfe Anstrengung erfordern, meinen Fleiß nicht entsprechend an, und zu meinem jähen Schreck erhielt ich zu Ostern das schlechte Zeugniß Nummer Drei. Mit dumpfer Verzweiflung trug ich das verhängnißvolle Blatt nach Oberkassel zu meinem strengen Vater; allein die Mutter stimmte ihn mild, weil allerdings mein starkes Wachsen damals keine allzugroßen Anstrengungen vertrug. Ich nahm mich den folgenden Sommer zusammen, und mein Herbstzeugniß war besser; aber wollte man meine unruhige Art bestrafen oder mir noch einen schärferen Sporn in die Flanken setzen – zum zweiten Mal stand am Kopfe des Blattes das schreckliche „Drei“. Diesmal hatte ich es nicht verdient und ging darum ruhiger als das vorige Mal nach Hause. Und Vater und Mutter glaubten mir und straften mich nicht. Das war weise; denn nun erwachte mein Ehrgefühl zu voller Stärke, und nach sechs Monaten brachte ich eine Nummer Eins in’s Vaterhaus zurück. Von da an bin ich aus den hohen Nummern gar nicht mehr herausgekommen. Solches Nachlassen in Fleiß und Arbeitskraft habe ich später als Lehrer sonderbarer Weise gerade bei sehr tüchtigen Schülern einmal in ihrer Gymnasiallaufbahn eintreten sehen und dabei gefunden, daß man in einem Falle der Art die Natur am besten ruhig gehen läßt, ohne durch moralische Reizmittel auf eine plötzliche Besserung zu wirken. Es hängt dies einfach mit der körperlichen Entwickelung des Knaben zusammen, auf welche die Natur beim Uebergang zum Jüngling alle ihre Kraft verwendet. Ist das vorüber, so wirft sie von selbst den Trieb des Fortschrittes wieder auf das Gebiet des Geistes hinüber.

Das Bonner Gymnasium galt für eins der besten in der Rheinprovinz und verdiente wohl auch den Ruf. In der Regel gedeihen in Universitätsstädten solche Anstalten nicht, weil die Schüler sich frühzeitig an die Studenten hängen und die hohle Form des burschikosen Wesens nachahmen. Dadurch verfällt die Zucht, und ohne diese tritt Verfaulung ein. Bei uns war das nicht möglich, weil der Oberlehrer der Prima, Gymnasialprofessor Schopen, hier mit eiserner Consequenz den Riegel vorschob. Dieser Mann, der später zum Universitätsprofessor und Director des Gymnasiums aufstieg, war ohne Zweifel der gelehrteste und spannendste unter allen Lehrern, die wir hatten, und sein besonders den letzten Schuljahren zugewendeter Unterricht wirkte das Meiste dazu, daß im Abgangsexamen nur höchst selten ein Schüler der Anstalt durchfiel oder auch nur ungenügend bestand. Allein dies wurde oft genug dadurch erreicht, daß man in dem Schüler allzustark das Gefühl der Abhängigkeit erhielt, und das ging störend auch auf den Bereich der geistigen Entwicklung über. Mir ist geschehen, daß ich eine Zurechtweisung erhielt, weil ich in einer Vacanz den Vellejus Paterculus gelesen hatte. Es verdient doch Lob, wenn ein Schüler, der in dem Herkömmlichen seine Schuldigkeit thut, nun aus freiem Entschluß auch einmal ein Studium unternimmt, das außer der gewöhnlichen Bahn liegt, und mich als künftigen Culturhistoriker hatte ja mein Trieb ganz richtig auf jenen sonderbaren Lobredner eines Tiberius geführt; allein anstatt des Lobes mußte ich aus Schopen’s [46] Munde die Worte hören: „Da hättest Du auch etwas Besseres lesen können!“

In ähnlicher Weise sind bei mir mehr als einmal Erweise geistiger Selbstständigkeit verurtheilt worden, und ich verschloß daher meine Privatarbeiten ganz vor den Blicken der Lehrer. Eine gleiche Strenge waltete in dem Verbot des Theaterbesuchs; auch durfte kein Schüler nach neun Uhr Abends auf der Gasse sich blicken lassen, worüber ich einmal in Folge eines sehr harmlosen Besuches bei einem mir bekannten Theologen einen heftigen Verdruß erlitt. Später hat diese Schärfe sich an der Anstalt gemildert; damals aber war die Freiheit zu knapp gemessen, um die Schüler geistig so kräftig auswachsen zu lassen, wie ihr Talent sie befähigte.

Die Lehrer dieser Schule waren zum Theil katholische Weltgeistliche, welche die französische Herrschaft durchlebt und sich der preußischen vererbt hatten. Priester dieser Periode waren nicht bigott, und von pfäffischen Einflüssen bestand zu meiner Zeit keine Spur. So hatte selbst mein späterer Schwiegervater Mockel, der abwechselnd den beiden untern Classen vorstand, in seiner Vaterstadt Cöln die ersten Weihen empfangen; allein glücklich für ihn und mich war er der Stola noch entwichen und hatte es vorgezogen, meine schöne Schwiegermutter zu heirathen. Bei ihm habe ich leider nur noch das halbe Jahr als Quartaner in den Naturwissenschaften Unterricht gehabt; er ist mir einer der liebsten Lehrer gewesen. Seine über alle Maßen freundliche Natur und die treue Mühe, mit der er jeden Lehrstoff dem Schüler faßlich zu machen suchte, eignete ihn besonders zum Lehrer jüngerer Knaben. Seine Mineralogie schrieb ich sorgfältig nach und arbeitete sie zu Hause reinlich aus; ja ich rastete nicht, bis ich auch seine früheren Vorträge über Pflanzenkunde mir abgeschrieben hatte. Auch er hatte mich wegen dieses seltenen Eifers besonders lieb, obwohl sicher sein Herz nie daran dachte, daß der kleine Knabe noch sein Tochtermann werden sollte. Fünfzig volle Jahre hat dieser unermüdliche Greis seinem Vaterlande gedient, und noch in solchem Alter traf ihn jedes Frühroth bei der Vorbereitung auf seine Lehrstunden. Im Herbst 1849 hat er unter großem Zudrang dreier Schülergenerationen sein Jubelfest gefeiert – ach, und er mußte dabei den Schmerz haben, daß sein liebster Schüler, den er an Sohnesstatt in sein Haus eingepflanzt, auf Leben und Tod gefangen saß!

Ein anderer Lehrer, der sehr fördernd auf mich gewirkt hat, war ebenfalls Geistlicher und wurde von uns nach seiner hervorstechendsten Eigenschaft „der dicke Domine“ genannt. Er stammte vom Eichsfelde, und mir ist nicht bekannt, was ihn in die Rheinprovinz verschlagen hat. Das Wesen dieses Mannes hatte eine gewisse träge Feierlichkeit; diese legte er auch dann nicht ab, wenn er einem unfolgsamen Schüler mit dem Haselstecken Hiebe überzog, deren stets drei waren, nicht mehr, nicht weniger: wir hießen das „die drei Göttlichen“. Sein Antlitz war vollmondartig und stets von weißem Gewölk des Puders umzogen; aus ihm schauten zwei kluge Augen, und ein halb faunischer, halb spöttischer Mund gab ihm das Aussehen eines behaglichen Mönchs. Er huldigte der josephinischen Richtung, war also strenger Monarchist und gab in der Weltgeschichte stets den Päpsten Unrecht. Die Freuden dieser Welt hat er, glaube ich, nicht verschmäht. Sonntags hielt er in dem benachbartem Dorfe Kessenich eine Messe und Predigt, nahm aber gleich sein Jagdgewehr mit, das während der heiligen Handlung in der Sacristei stehen blieb. Daß er den Wein liebte, konnte Niemand, der diese Falstaff-Natur ansah, verkennen, und die Frauen, über welche er sehr zu schelten pflegte, hat er praktisch doch genau studirt, wie gewisse nach seinem Tode bei ihm aufgefundene Papiere darthaten. Ueberhaupt ist er zuletzt auch in seiner Lehrkraft sehr gesunken; zu meiner Zeit aber stand er noch auf seiner Höhe, und man lernte außerordentlich viel bei ihm. Eigen war, daß er den Schülern jede Frage beantwortete, wenn sie auch mit dem Unterrichtsgegenstande nicht entfernt zusammenhing. Das hat seine zwei Seiten: mir scheint es bei weisem Maßhalten nützlich, denn was der Schüler fragt, das zieht ihn an, und hier ist er also doppelt zum Begreifen befähigt. Wir benutzten dies, um ihn manchmal durch Vorlegung einer Zeitungsfrage in politische Gespräche zu verwickeln, die er besonders liebte, oder gar Erzählungen aus seinem Leben und andere Schnurren hervorzulocken, die er unvergleichlich vortrug. Letzteres Talent verleugnete er auch auf der Kanzel nicht, namentlich wenn er bei den Bauern eine Festrede zu halten hatte. In der älteren deutschen Literatur war nämlich Ulrich Megerle, der als Abraham a Santa Clara berühmte Wiener, sein Liebling, und dessen barocken Kanzelwitz suchte er nachzuahmen. Auf diese Predigten legte er Werth, und einmal lud er uns Schüler förmlich zu einer Kirmeßpredigt in dem nahen Friesdorf ein. Ich ging wirklich Sonntag früh von Oberkassel aus hinüber. Er kam in seiner Predigt vom Hundertsten in’s Tausendste, besprach zum lauten Gelächter der Zuhörer die Klatschwuth der Bauerweiber und die Streitsucht der Männer, und gab zuletzt ebenso weise als ausführliche Regeln, wie man auf möglichst nachsichtige Weise einen Jeden behandeln solle, der während der Kirmeßtage im Weine des Guten zu viel thäte. Eine besonders geistliche Sittenlehre wird man das schwerlich nennen – möglich jedoch, daß er durch diese Predigt der Gemeinde Friesdorf ein paar blutige Köpfe erspart hat.

Dieser Mann trug uns in Tertia die Geschichte vor, die er bis gegen den Schluß des Mittelalters herabführte. Er hatte darüber ein Heft ausgearbeitet, das wir abschreiben und einlernen mußten, nachdem er uns zuvor zu jedem Abschnitte mündliche Erläuterungen gegeben hatte. Das Fach überschaute er mit gesundem Menschenverstande und hielt streng darauf, daß wir Alles klar auffaßten und scharf im Gedächtniß behielten. In diesen Lehrstunden habe ich die dauerhafte Grundlage meiner gegenwärtigen Fachstudien gelegt und die Geschichte zuerst sehr lieb bekommen. Auch der Virgil, den er in Secunda vortrug, ging uns gut ein und machte uns Freude. Dagegen war seine deutsche Literaturgeschichte in Prima ohne alle Vorstudien und ganz zusammenhanglos, und seine Stilübungen brachten uns auch nicht weiter. Zu Allem, was Schwung forderte, war Domine denn doch zu schwerfällig.

Die Mathematik und Physik trug in den beiden obern Classen ein Lehrer vor, der Bedeutendes in seinen Studien leistete und den Titel eines Gymnasialprofessors führte. Er hieß Ließen und war allgemein hochgeachtet, wegen seines freundlichen Eifers auch geliebt. Es ist oben schon gesagt, daß ich Mathematik niemals lernen konnte; ich erwähne seiner aus einem andern Grunde, weil er uns nämlich Stoff eines Heldengedichtes geworden ist. Er hatte beim Unterricht gewisse stehende Formeln angenommen und pflegte, wenn sein Kopf etwa mit einer schwierigen Rechnung beschäftigt war, seltsame Sprachfehler zu machen, wie ich ihn denn selbst einmal „die Tochter des Mutters“ habe sagen hören. Nun hatten die Fähigen unter uns eine leidenschaftliche Vorliebe für den Homer gefaßt, welchen der Oberlehrer Lucas in Secunda und Prima auf lebendige, oft joviale Weise erklärte und veranschaulichte. Kein Schriftsteller des Alterthums reizt so zur Nachahmung, keiner ist auch zur Parodie so geeignet. Die feierliche Wiederkehr derselben Verse, die Wiederholung der so erhabenen und oft doch so wunderlichen Beiwörter, die naturfrischen Gleichnisse, endlich die naive Art, wie die Helden aus den einfachsten Gefühlen und kindlichsten Antrieben heraus handeln – alles das kann dem modernen Geschmack durch die kleinste Uebertreibung lächerlich gemacht werden. Wirklich hat ja schon das Alterthum in dem Frosch- und Mäusekrieg eine allerliebste Travestie geliefert. Solch einen Plan entwarf auch unser Uebermuth. In stelzbeinigen Hexametern, die den Ton und selbst den oft barocken Silbenfall der Vossischen Uebersetzung nachäfften, wurde im ersten Gesang der Helmesiade (denn so hieß das Werk von Liessens Vornamen Wilhelm) eine mathematische Lehrstunde geschildert, in welcher außer dem Professor und seinen unvermeidlichen Redensarten alle Classenschüler in ihren schlechtesten Eigenschaften Parade machten. Um aber auch eine homerische Schlachtscene anbringen zu können, wurde im zweiten Gesang der friedsamste aller Sterblichen in einen heftigen Streit verwickelt, in welchen sodann gleich Göttern und Helden alle übrigen Lehrer nach und nach handelnd und leidend hineintraten. Dieses Schlachtgetümmel war jedenfalls der Glanzpunkt dessen, was von dem Ganzen fertig geworden ist: es bildete, wie der Zorn Achill’s in der Ilias, den Knoten für das fernere Geschick des Helden. Allein in den folgenden Gesängen stockte das Werk: denn auch darin sollte Homer nachgeahmt werden, daß dem nachfolgenden Sängergeschlecht die Fortsetzung überlassen bliebe. Und so geschah es auch; die Schüler des nächsten Jahres haben bruchstückweise an unserem Gesange [47] fortgesponnen – nur leider hat uns Allen zuletzt der Pisistratus gefehlt, der das Vorhandene in ein geschlossenes Werk gesammelt hätte, und so dürfte wohl von den zahlreichen, damals gemachten Abschriften jetzt keine mehr dem Loose entgangen sein, das auch die meisten Nachahmer des großen Ioniers betroffen hat. Im Uebrigen war der ganze Spaß darum so harmlos, weil er durch seine hirntollen Uebertreibungen den Gedanken an eine Verleumdung oder ein Pasquill nicht im Entferntesten aufkommen ließ, auch der Verehrung nicht den mindesten Eintrag that, welche wir fortwährend dem greisen Professor zollten. Und deshalb darf ich getrost, ohne den Schein der Undankbarkeit auf mich zu laden, zu vielen dieser Verse mich bekennen, an denen übrigens wohl sechs bis acht von uns Antheil hatten. Die meisten hat Hermann Velten geschrieben, der jetzt praktischer Arzt zu Aachen ist und damals in höherem Grade als wir Alle ein poetisches Talent entfaltete, das er später nicht fleißig genug gepflegt hat.

[97]
II.

Mein Verhältniß zu den vorgenannten und zu allen übrigen Lehrern, deren ich heute noch mit Dank und Liebe mich erinnere, ist stets ein klares gewesen, und sie Alle haben später, da ich als College in ihren Kreis eintrat, ihren ehemaligen Schüler mit Herzlichkeit zum Genossen aufgenommen. Das Gesetz habe ich immer geachtet, und ihr Wille war mir an Gesetzes Statt. Selbst auf die Gefahr hin, von einem oder dem andern Mitschüler darum gehaßt oder verachtet zu werden, habe ich den Lehrern stets auf ihre Fragen die reine Wahrheit entgegengebracht und darf wohl sagen, daß sie nicht viele Schüler gehabt haben, die ihnen ergebener und gehorsamer gewesen sind als ich.

An dieser Stelle will ich eines überaus barbarischen Gebrauches gedenken, welcher unter den Bonner Gymnasiasten seit grauer Vorzeit sich fortgepflanzt hatte; denn da er in unserm Geschlechte ausstarb, bin ich ihm doch seine Leichenrede schuldig. Auf den höhern Schulen giebt es zwischen sämmtlichen Classen keine so tief einschneidende Kluft, als zwischen Tertia und Secunda. Bis in jene Classe wird der Junge als Lümmel betrachtet und behandelt; der Secundaner aber hat Ehrgeiz und Selbstgefühl. Man redete ihn wenigstens zu meiner Zeit noch mit Sie an; Knabenspielereien hörten auf, weil Einer sie dem Andern als unpassend verwies; in den häuslichen Studien wurde eine größere Freiheit verstattet. Wie nun auf den Universitäten die Füchse gehänselt werden, so war es in Bonn auch Gymnasiastensitte, die Pforte zu den obern Classen den Eintretenden etwas mit Dornen zu verzäunen. In jedem Schulsaal steht ein Schrank mit mehreren Gefächern, zu dem ein besonders braver Schüler den Schlüssel anvertraut erhält; er dient zum Aufbewahren von Karten, Kreide, Schwämmen und andern Schulutensilien. Hin und wieder sperrte man auch Maikäfer hinein, die dann aus einer kleinen Oeffnung hervorkrochen und durch ihr Gesumse in langweiligen Lehrstunden uns ein wenig aufmunterten. Nun war es unverbrüchlicher Grundsatz, daß jeder neu eingetretene Untersecundaner einmal oben auf diesem Schranke sitzen müsse; das war gleichsam das Maurerzeichen seiner Aufnahme in die Classe. Hätten wir bei unserm Aufsteigen aus der Tertia gutwillig diesem Gebrauche uns unterworfen, so würde er vielleicht sofort verschollen sein, allein wir setzten unsererseits eine Ehre darin, demselben so lange wie möglich uns zu entziehen, und der galt unter Allen für den tapfersten Helden, der zuletzt auf den Schrank hinauf mußte. Denn einmal kam es an Jeden: die Obersecunda hätte sich eher Mann für Mann in den Carcer sperren lassen, als dies einem von uns geschenkt. In der Regel wurde das Opfer voraus bestimmt. Waren die Lehrstunden zu Ende, so drängten sich ein paar Obersecundaner an den Bezeichneten heran und hinderten ihn, hinter dem Lehrer her zu entschlüpfen; alsdann faßten ihn zwanzig Fäuste und hebelten ihn oft mit wunderbarer Behendigkeit auf den neun Fuß hohen Kasten herauf. Auch mir war mein Tag bestimmt; beim Ausgang sah ich ein paar Geierkrallen nach mir sich öffnen; entsetzt rückwärts blickend sprang ich in die Thür und stürzte auf den Professor Schopen, der noch nicht heraus war, aber durch diesen Prellstoß einen Schritt weit auf den Gang geworfen wurde. Erstaunt sah er sich um, da er gerade von mir keine solche Ungezogenheit erwartete, aber ein Blick auf mein erschrecktes Gesicht und auf meine Verfolger belehrten ihn, daß ich nicht die erste Ursache gewesen war, und mit Lachen amnestirte er mich. Für diesmal entschlüpfte ich unter seinem Schutz, aber bald darauf erreichte auch mich das Geschick, und fast mit Lebensgefahr sprang ich von der Höhe des Schrankes wieder herunter. Nun waren aber ein paar äußerst starke Burschen bei unserer Partei, mit denen die Gegner so schnell nicht fertig wurden. Einen Sträubenden so hoch in die Luft zu heben, war immer eine Aufgabe, die Schweiß und oft noch mehr kostete; denn wenn der Gefangene oben erst festsaß und seine Peiniger nicht blitzschnell zurücksprangen, so konnte er mit seinen Absätzen höchst ungemüthlich auf ihre Hirnkasten und Nasenbeine einwirken. Jene noch nicht bezwungenen Helden stellten uns nun vor, daß die Obersecunda nur deshalb unfehlbar ihren Zweck erreiche, weil sie stets zusammenhalte, während bei uns der Einzelne sich immer aufzusparen suche. So kam auch zwischen uns ein Schutzbündniß zu Stande. War der Kampf nun bisher eine Art Carlistenkrieg gewesen, wo der einzelne Reisende festgehalten und zur Auszahlung eines Lösegeldes gezwungen wird, so boten wir uns jetzt eine offene Schlacht auf dem Blachfelde, und diese hub auch wirklich eines Morgens um elf Uhr im Schulsaale an. Der Streit war lang und grimmig. Es fehlte auch an Zuschauern nicht, denn die ganze Prima trat zu uns ein und sah wie Achill’s Myrmidonen in thatloser Bewunderung diesem homerischen Schlachtgewühle zu. In der That trennte erst Blut die Kämpfenden. Doch hätten wir am folgenden Morgen das Werk neu angehoben; allein einer der Primaner verrieth uns. Der Classenlehrer stellte eine sehr scharfe Untersuchung an, und die theils vollzogenen, theils angedrohten Strafen waren so streng, daß selbst der vom Alterthume geweihete Brauch gegen sie nichts mehr vermochte. Damit war denn die Kette der Ueberlieferung einmal zerrissen. Es gab nun Untersecundaner, die nicht auf dem Schranke gesessen hatten, und als wir im folgenden Jahre Pfleger der Sitte hätten werden sollen, da gaben wir sie freiwillig [98] auf. Von jenem denkwürdigen Tage an ist im Jesuitengebäude zu Bonn der Staub im ungestörten Besitze des Secundaschrankes geblieben, und kein Gymnasiastenrock hat ihn je wieder weggefegt.

Eine schöne Sitte bestand an unserer Schule; es waren die sogenannten Excursionen, für welche man regelmäßig einen oder zwei helle Sommertage bestimmte. In der Regel wurden dazu je zwei Classenlehrer vereinigt. In Begleitung mehrerer Classenlehrer ging es hinaus in’s schöne Rheinland, auf’s Siebengebirge, in das stille Waldthal von Heisterbach oder durch die vordere Eiffel in das felsendüstere Thal der Ahr. Hier schlossen sich im Wandern die innigsten Schulfreundschaften, und auch die Lehrer, die an diesen Tagen vertraulich mit uns plauderten, umfaßten wir mit doppelter Herzlichkeit. Allerdings gab es für jene dabei immer einige Verantwortlichkeit und zuweilen auch Verdruß; ein paar Jungen verliefen sich und waren nicht wiederzufinden, oder es blieb eine Gesellschaft loser Vögel in irgend einer Schenke kleben und kam mit einem Spitz zur Colonne zurück, oder der erhitzte Schwarm fiel unaufhaltsam über kaltes Brunnenwasser her. Aus solchen und ähnlichen Gründen, denke ich, ist später dieser Brauch in Vergessenheit gerathen; ich selbst aber habe ihn als Schüler noch mehrmals zu meinem höchsten Vergnügen mitgemacht. Besonders eine zweitägige Fahrt nach Altenahr, wo wir die Nacht auf einem gemeinsamen Strohlager campirten und in der Finsterniß die verrücktesten Eulenspiegeleien aufstellten, hat sich tief in meine Erinnerung gegraben; an sie schloß sich nämlich ein erster Versuch zu einem längern Gedichte, wovon ich hernach erzählen will.

Ich verdanke also meinen Lehrern an dieser Schule sehr Vieles; allein ich will auch nicht leugnen, daß unser Gymnasium an denselben Fehlern litt, die alle gelehrten Schulen Deutschlands an sich haben. Diese Fehler sind nicht so sehr Schuld der Lehrer wie des Systems, das so lange von Staatswegen befolgt worden ist. Am auffallendsten war mir, als ich später tiefer in die Wissenschaft eindrang, der Schlendrian, womit namentlich die älteren Lehrer auf Wegen uns fortstolpern ließen, die längst von der Forschung als unbrauchbar verschüttet waren. Grimm’s deutsche Grammatik war doch schon zehn Jahre erschienen, als unsere sämmtlichen Deutschlehrer in sie noch keinen Blick gethan hatten. Zu den schönsten und charakterfrischesten Eigenschaften unserer Sprache gehört die starke Flexion so vieler Zeitwörter; unserm Director aber, der in Secunda Deutsch gab, war sie ein Dorn im Auge, und er meinte, es sei richtiger, „ich haute“ als „ich hieb“ zu sagen, weil letzteres ja eine Unregelmäßigkeit sei! So schrieb und druckte er auch überall „Zeichnenclasse“ und „Zeichnenunterricht“, obwohl er freilich nicht „Schreibenstube“, sondern „Schreibstube“ sagte. Statt dem Unterricht eine vernünftige Grammatik zu Grunde zu legen, quälte man uns ein Jahr lang mit der allerlangweiligsten Satzlehre.

Von deutscher Literatur haben wir vollends keine Ahnung bekommen. Das Nibelungenlied war damals schon seit fünfzig Jahren wieder auf der Welt; wir lasen auf der Schule den ganzen Homer und den halben Virgil durch, aber von dem ebenbürtigen Epos, das unseres Volkes Stolz ist, haben wir dort auch nicht ein einziges Mal nur den Namen aussprechen hören. Das ist freilich stark, allein ob es jetzt auf vielen höheren Schulen besser steht? Ich denke nicht, denn das Uebel sitzt zu tief in der Universitätsbildung unserer Philologen. Die deutsche Sprache und Literatur ist das Stiefkind unserer examinirenden Professoren, und da sie selber davon nichts verstehen, fordern sie von künftigen Jugendlehrern in diesem Fache keine Gründlichkeit. Der Student aber, wenigstens der vom gewöhnlichen Schlage, hört und lernt nur die Fächer, in denen er geprüft wird, und kommt so als ein Gelehrter in den alten Sprachen, als ein Barbar in seiner Muttersprache an die Jugend heran, die er bilden soll. Das Lehrercollegium theilt den deutschen Unterricht wie eine unbequeme Last unter sich und schlägt mit Stilübungen, Declination und Durchmachen einer der ungründlichsten Grammatiken die dafür bestimmten Stunden todt. Daß gar der Schüler in die lebende Literatur eingeführt, daß sein Sinn auf das Gediegene und Haltbare derselben gerichtet würde, davon ist vollends keine Rede und auch hier gehen die Universitäten mit erbärmlichem Beispiel vorauf. Unser ganzer Schulunterricht hinkt hinter dem Leben her. Wer wagt denn noch mit ernsthafter Miene Ramler’s oder Gleim’s politische Gedichte mit Herwegh, Freiligrath oder auch nur mit Geibel zu vergleichen? Wer leugnet, daß ein Capitel in Heine’s Wintermärchen sämmtliche Bände von Rabener’s Satiren in die Höhe schnellt? Oder wird nicht Alles, was Geßner gelaicht hat, von dem einen Bodensee-Idyll Mörike’s in farbloses Gallert umgesetzt? Und doch stehen Ramler, Rabener und Geßner unwandelbar in den gebräuxten Collegienheften unserer Universitätsprofessoren, deren letzte Pagina die Namen der Gebrüder Schlegel trägt. So geht es freilich unsern Gelehrten in allen andern Artikeln auch, und dies ist schuld daran, daß das Leben der Gebildeten und des Volkes längst über unser Universitätsniveau hinausgewachsen ist. Wenn man ästhetische und literarische Rohheit aufsuchen will, braucht man in Bonn keine Laterne anzuzünden.

Ueberhaupt mangelte in unserm Unterricht das Verständniß des Schönen und Künstlerischen vollständig. Niemals hat man uns in der Geschichte auf die Fortschritte der Dichtung oder der bildenden Künste aufmerksam gemacht, nie ein modernes Gedicht mit uns gelesen oder eine der tiefern Tragödien Goethe’s erläutert. Das Geringste, was man doch wohl auch von einem gebildeten Frauenzimmer verlangt, ist Kenntniß der Dichtungsarten; uns, die künftigen Gelehrten, hat Niemand darin unterrichtet, was ein Sonett sei, und doch ist dies für Jedermann wichtiger, als horazische Versmaße, wie wir mußten, nachrechnen zu können. Von Kenntniß der eigentlich deutschen Metrik war natürlich niemals die Rede.

Gewiß die gründlichste Seite unserer Schulbildung war die Einführung in’s classische Alterthum. Allein, daß uns dasselbe heimisch und theuer geworden wäre, daran fehlte doch noch viel. Die Sprachkenntnisse galten zu sehr als Hauptsache, der tiefe Lebensgehalt des Alterthums wurde uns nicht enthüllt. Es durfte freilich nicht sein; denn über das Alterthum kann man keinem Jüngling die Augen öffnen, ohne ihm zugleich die Wurzel jener unvergleichlichen Geistesgröße in der republikanischen Staatsform aufzudecken – und welcher Lehrer hätte das vor der Julirevolution gewagt? Weil aber das uns fehlte, verstanden wir auch die antiken Sitten nicht und nahmen an all jenem Geisterkampf keinen Antheil vom Herzen aus; ja selbst die Schriftsteller der Kaiserzeit ließen uns kalt. Den Höhepunkt hellenischer Kunstpoesie erstiegen wir niemals, denn nicht eine einzige jener unsterblichen Tragödien des Aeschylus oder Sophokles haben wir auf der Schule vorgenommen. Die Oden des Horaz lasen wir gerne; aber die Satiren, in denen er gerade so überaus fein und eigenthümlich ist, waren uns zum Ekel. Cicero’s Reden, die ich jetzt mit Erstaunen studire, galten uns damals nur als ein Magazin für schöne Phrasen, mit denen wir unsere lateinischen Aufsätze aufstutzten. Hätte man uns aber ein farbenklares Bild davon gegeben, wie die römische Republik daran unterging, daß sie den reformirenden Socialismus in den Gracchen erstickte, dann später die Verzweiflung des Proletariats in Catilina, Spartacus und den Seeräubern krampfhaft sich zu Tode zuckte, wie Clodius sterben mußte, weil er den Riesengedanken einer gesetzlichen Sclavenemancipation in tollkühner Seele trug – dann hätten wir auch in Cicero den antiken Thiers begriffen und seine catilinarischen Reden oder die Vertheidigung von des Clodius Meuchelmörder Milo mit Verachtung und zornfunkelndem Auge gelesen!

Nun aber hat erst eigene Erfahrung mich die Alten lieben gelehrt. Den Horaz verstand ich zum ersten Mal in seinem Tibur selbst

„an der Albuner hallender Grotte“ –

den Ovid in seinen Liebesgedichten, als ich ebenfalls in leidenschaftlos-behaglicher Liebe ausruhte, den Virgil aber, den ernsten, geduldigen Tröster bei jugendlichem Tode, als ich im Kerker vom Zorn meiner Sieger die tödtliche Kugel erwartete, die mich auf der Höhe meiner Kraft fällen sollte.

Sind wir Jünglinge aber dafür desto bewußter in die moderne Welt eingeführt worden? Ach, in dieser war ich vollständig blind, als ich die Universität bezog! Denn um in ihr heimisch zu werden, bedarf es der modernen Geschichte, welche die Grundlage jeder vernünftigen Politik sein muß. Diese aber war und ist vom Schulunterricht streng ausgeschlossen. Die Schule führt den Jüngling nur bis zum dreißigjährigen Kriege, also an die Schwelle der eigentlich unser zu nennenden Welt. Von da erheben sich die großen Revolutionen modernen Charakters: die englische, die amerikanische, die französische und die beginnende [99] Weltrevolution von 1848 – ein den Schulcollegien nicht beliebtes Thema. Wie der Rhein im Sande, so verläuft die Gymnasialgeschichte in der Mark Brandenburg: ihr breiter Strom mündet in die enge Geschichte Preußens aus.

In der That wird damit auch der nächste Zweck erreicht; die Julirevolution, welche in mein letztes Schuljahr fiel, hat mich vollständig unberührt gelassen, und von der politischen Weltlage hatte ich gar kein Gefühl. Freilich fehlt dafür später, wenn nun doch das moderne Weltmeer mit seinem sonnenwarmen Wellenschlag den Eisberg überspült, alle und jede Widerstandskraft, und aus den zahmen Gymnasiasten von 1831 ist mehr als Einer zum rothen Republikaner von 1849 geworden.

Es ist freilich wahr: wenn die Schule, auch die beste, allein uns erzöge, so blieben wir allzumal Tröpfe. Das Leben und unser eigen Herz nehmen uns glücklicherweise stets von Neuem in die Privatstunde und üben im Silentium uns auf ein besseres, als das Schulpensum ein. So ging es auch mir: neben der arbeitsamen Schulwelt blühte mir eine anmuthige Innenwelt in einem kleinen Kreise guter und herzlicher Menschen auf.

Ich habe bereits erzählt, daß der jüngste Sohn des Büchelerschen Hauses, in welchem ich Wohnung und Kost hatte, bald nach meinem Eintritt in’s Gymnasium die Universität bezog. Seiner Aufsicht wurde ich nunmehr übergeben und bewohnte mit ihm zwei artige Mansardstuben, aus denen man weit über den Münsterplatz und in benachbarte Gärten blickte. Joseph Bücheler ist einer der besten und treuesten Menschen, die ich je gekannt habe: ein Charakter von ungetrübter Biederkeit, an dem niemals ein falscher und bösartiger Zug hervortrat. Er selbst war keine lebhaft erregbare Natur, und eben die Charakterverschiedenheit bewirkte, daß wir beide uns so sehr lieb gewannen. Mein Talent erkannte er an und erzeigte mir die Ehre, mich nicht wie ein Kind, was ich doch am Ende noch war, sondern wie einen Gleichaltrigen zu behandeln, was ich ihm denn mit grenzenloser Anhänglichkeit und gefälligster Folgsamkeit vergalt. Zwischen uns hat daher wohl nie eine verkümmerte oder verbitterte Stimmung bestanden, dergleichen doch sonst unvermeidlich zu sein pflegt, wo der Erzieher nur wenige Jahre vor dem Zögling voraus hat. Joseph war Mediciner. Von allen Studenten sind die Mediciner am fleißigsten, die Juristen am faulsten: denn Jene führt ihr Fach auf den Gebieten der Naturwissenschaft, der Anatomie und Physiologie unmittelbar an’s Praktische, an’s Sammeln, Untersuchen und Selbstsehen, während den Juristen bei dem gänzlichen Mangel an Redeübungen ihr Recht ein blos gelehrter und trockener Stoff bleibt, den sie erst spät im wirklichen Gerichtsgebrauch flüssig machen können. Auch mein Freund entwickelte sofort eine rüstige Thätigkeit. Eine Pflanzensammlung wurde angelegt, Schädel und Beinknochen wurden mit Prügelgefahr aus dem Beinhäuschen zu Dottendorf entwendet und ein anatomischer Atlas angeschafft, wo man Venen und Arterien durch blaue und rothe Färbung bezeichnete. In allen diesen Dingen half ich mit, denn ein jeder Enthusiasmus, auch der wissenschaftliche, entzündet den Knaben. In’s Leben der Natur und des menschlichen Körpers that ich hier eigentlich die ersten Blicke. Ich dictirte meinem Freunde Abends, wenn etwa ein versäumtes Colleg nachzuschreiben war: eine Semiotik, die zu hören er nicht Gelegenheit hatte, habe ich ihm so fast ganz aus dem Hefte eines Bekannten in die Feder gegeben, und manches ist dann von diesem medicinischen Dilettiren bei mir hangen geblieben. Auch wo ihm in seinem Fache oder beim Lateinschreiben ein sprachlicher Scrupel aufstieß, konnte ich zuweilen helfen, da ich in die Sprachen tiefer als er eingedrungen bin. Dafür nahm er sich nun treulich meiner Erziehung an, schliff eine Masse von Vorurtheilen weg, die meine klösterlich abgesperrte Jugend mir angebildet hatte, und that mein Auge für die wirkliche Welt auf. Ich war ja auf gutem Wege, ein beschränkter, eigensinniger und kränklicher Gelehrter zu werden, mein Gesicht und meine Brust durch Ueberarbeitung zu verderben und der Schwindsucht rettungslos zu verfallen, wenn ich in der Treibhaushitze, wie zu Oberkassel, fortgeschanzt hätte. Davon hat Bücheler durch eine einzige Zurechtweisung mich befreit. Wie er an allem Volksthümlichen seinen Spaß hatte, sagte er eines Tages für sich den rheinischen Kinderreim auf:

Schneck, Schneck, komm eraus,
Et setz ene Deev an dingem Haus,
Dä süff dir all die Melch aus!

Ich hatte das nie gehört und lachte über die albernen Verse hell auf. Da sagte er: „Junge, jetzt siehst Du, was Du für ein Kerl bist. Latein kann er, Griechisch kann er, Hebräisch kann er, aber ‚Schneck, Schneck‘, das kennt er nicht. Nun bist Du doch wohl tausend Mal an Kindern vorbeigegangen, die eine Schnecke wollten aus ihrem Hause kriechen sehen und das Liedchen singen, und hast nie darauf gehört. Junge, tue Deine Ohren offen! Thue Deine Augen offen und beobachte, statt daß Du ewig in Dich hineinträumst!“ Diese polternd und halb ärgerlich ausgestoßenen Worte wirkten auf mich wie ein luftreinigendes Gewitter: nicht mein Vater, nicht meine Mutter, keine Lehrer noch Bücher haben so rasch und praktisch mir eine neue Lebensrichtung gegeben, als Joseph Bücheler mir mit der großen Lehre gab: Beobachte! Von diesem Augenblick an sprang ich aus dem Schwärmer in den Forscher, aus dem gedankenlos Studirenden in den Dichter herüber. Beobachten wurde mir jetzt die höchste Lebenskunst, die ich an Menschen, an der Natur, an mir selber unablässig übte – und ich glaube auch in diesem Hauptstudium des Dichters gute Fortschritte gemacht zu haben. Erst von diesem Tage an lebte mir die Welt, erschlossen sich mir die Pforten der Kunst. Das Kleinste, an dem ich sonst in kindischem Wissensdünkel vornehm vorbei ging, wurde mir wichtig; mit den äußeren Sinnen ging mir gleichzeitig das Herz auf zur Mitempfindung mit Allem, was da lebt und webt, und aus Farbe, Linie und Ton sprudelten mir frische Quellen des Genusses. Diesen Sinn der Beobachtung im Kinde zu wecken, das ist mir von jener Stunde an als die oberste Pflicht des Erziehers erschienen: die meisten Unglücklichen sind deshalb unglücklich, weil in ihnen dieses Vermögen nicht zum Leben gekommen ist.

Blicke ich in meine Bildungsgeschichte zurück, so finde ich, daß ich weit mehr durch Frauen als durch Männer gefördert worden bin. Sie waren es, die den Trieb und Ehrgeiz geistigen Fortschrittes in mir wach riefen, mich von jeder Rohheit oder maßlosen Leidenschaft reinigten und das Unbestimmte meiner Gedanken und Gefühle zu festen Ueberzeugungen und Entschlüssen ausprägten. Auch sind die Frauen die Musen meiner Dichtung gewesen: ich habe kaum ein Lied geschrieben, das ich nicht zunächst einer Freundin bestimmte. Und so waren auch mir die Frauen stets hold und haben klug und wohlwollend meine Erziehung vollendet.

Meine erste Freundin sollte ich gleichfalls Joseph Bücheler verdanken. Unfern dem Hause des Gerichtsvollziehers, auf dem mit dem sonderbaren Namen Butterweck bezeichneten Hügel, bewohnte ein alter Hauptmann ein kleines und bescheidenes Quartier. Er lebte, und gewiß oft mit Sorgen, von seiner Pension und von Portraits berühmter Zeitgenossen, die er in Steindruck herausgab. Ihm führte die Wirthschaft eine junge Verwandte, Fräulein Karoline von R., die aus Lothringen stammte, aber ihrem Blut und Wesen nach durchaus eine Französin war. Ein dunkler Teint mit leuchtenden braunen Augen, eine anmuthig leichte Gestalt mit dem feinsten, schwebendsten Fuße, vor Allem aber eine südliche Lebendigkeit der Bewegung und Sprache gaben ihr etwas Fremdartiges, das sie im Vergleich mit deutschen Mädchen über alle Maßen anziehend machte; es fehlte, glaub’ ich, auch der überaus gefährliche Reiz des feinsten Schnurrbärtchens nicht, der den Töchtern der Garonne und des Ebro einen doppelt lockenden Mund giebt. Am hinreißendsten war sie beim Federballspiel, das sie leidenschaftlich liebte, eine Uebung, wie gemacht dazu, ihren schlanken und wunderbar behenden Bau im reizendsten Linienspiel und ihr lebhaftes Auge im fröhlichsten Feuer des Aufmerkens zu zeigen.

Durch die Hauswirthin des Hauptmanns waren die Bücheler’schen Söhne mit diesem und seiner Nichte bekannt geworden, und grade der Jüngste konnte sein Herz nicht retten. Ich glaube, daß er schon als Gymnasiast das Fräulein geliebt hat, und so ereignete sich hier der in der Herzensgeschichte unserer Tage seltene Fall, daß ein junger Mann seine Liebe zu einer Dame, die noch dazu älter war als er, durch Gymnasium, Universität und Examen bis in die Praxis hindurchgetragen, also nach wenigstens achtjähriger Treue in eine glückliche Ehe umgewandelt hat, denn glücklich waren meine beiden Freunde, als ich sie vor vielen Jahren in Düsseldorf besuchte, wo Bücheler jetzt als praktischer Arzt in stiller, edler Thätigkeit für das Wohl der Armuth lebt. Ein älterer Jüngling hätte in diesen Bund [100] als Zeuge nicht mit eintreten dürfen: ich als erst heranreifender Knabe konnte es. Die Liebenden verschwiegen natürlich ihr Verhältniß streng. Ich selbst platzte wohl einmal mit der Frage heraus: „Nicht wahr, Joseph, Du hast das Fräulein lieb?“ Als er mir aber auswich, da wußte ich genug, und von da an that ich keine lästige Frage mehr und drängte mich auch niemals ungerufen in eine stille Liebesstunde hinein. Dies Zartgefühl bei meinen noch jungen Jahren und meinem sonst ungeschlachten Wesen gewann mir des Fräuleins Gemüth, und sie nahm sich meiner gütig und herzlich an.

Mit jener neckenden Freundlichkeit, die alle Unterweisung so eindringlich macht, lehrte sie mich meinem rasch aufgeschossenen schlottrigen Körper etwas Haltung geben, gewöhnte mir platte und unzierliche Ausdrücke ab und verwickelte mich in Gespräche [Ξ] und Disputationen, die mich zwangen, ihren klugen Augen und Gründen meinen besten Scharfsinn entgegenzusetzen. Bei ihr, die fromm, aber nicht bigott war, lernte ich zuerst meiner Vorurtheile gegen die katholische Confession mich schämen, vor der ich in der Jugend theils Scheu, theils Verachtung eingesogen hatte; auch die frische Begeisterung wirkte bei mir darauf ein, mit der manche Studienfreunde Joseph’s das System des damals in Bonn lehrenden berühmten Hermes als die nie zu erschütternde Versöhnung des Denkens mit der Offenbarung priesen und auf der Kanzel verbreiteten. Dabei passirten freilich oft wunderliche Zusammenstöße.

An einem Winterabende war ich nebst Joseph und einem seiner älteren Brüder zu einer kleinen Gesellschaft beim Hauptmann eingeladen, wo man heiter und ohne Umstände mitaß, was eben die Hausküche bot. Ein Lieblingsgericht, ich glaube Hasenpfeffer, wurde aufgetragen, und Alles war in fröhlicher Thätigkeit, als mir plötzlich eine unserer häufigen Controversen durch den Kopf fuhr. Wie ich denn dazumal bei meinem jungen raschen Blute äußerst vorschnäppig mit dem Munde war, platzte ich unbedacht mit den Worten heraus: „Aber es ist ja Fastenzeit; wir haben ja heute Mittag Alle Fleisch gegessen; wie dürft Ihr Katholiken denn heute Abend wieder Fleisch essen?“ Mit dieser überraschenden Frage (denn Keiner hatte an die Uebertretung des Kirchengebots gedacht) brachte ich eine jähe Pause der Eßarbeit hervor.

Der gleichmüthige Joseph sagte. „Das ist auch wahr; aber beichten muß ich’s nun doch“ – und aß ruhig weiter.

Das Fräulein erklärte, sie sei wegen ihrer Kränklichkeit vom Fastengesetz frei. Der ältere Bücheler aber, der etwas hitzig war, wandte seinen Verdruß auf mich und fragte mich in hellem Zorn: „Konntest Du Junge damit nicht warten, bis ich ruhig fertig war?“

Darüber entstand dann ein so herzliches Gelächter, daß der Zornige selbst einstimmte, die Gabel wieder ergriff und gleichfalls in Frieden seinen Teller abaß. So geht’s freilich vielen Menschen; sie haben den Beichtvater sehr gern nach begangener Sünde; aber wenn er die Sünde noch verhüten könnte, da kommt er ihnen ungelegen wie ein böses Gewissen.

Am schönsten wurde mein Verhältniß zu jenem Liebespaar, als Karoline mit ihrem Oheim auf’s Land in das benachbarte Kessenich zog, wo Joseph sie täglich besuchte und mich gern mitnahm, wenn ich meine Schularbeiten früh genug fertig hatte. Da der Hauptmann kränkelte, war ich gleichsam der Ehrenwächter bei den Spaziergängen, die wir fleißig auf die benachbarten Dörfer unternahmen. Dort setzten wir uns in die Baumgärten der ländlichen Wirthshäuser, tranken neuen Wein und aßen Kirmeßweck dazu, wie am Rhein der Gebrauch ist. Hernach lief und spielte ich mit dem Fräulein in Feld und Wiese, und mit unserer Raschheit neckten wir ihren etwas schwerfälligen Liebhaber. Auf dem Rückwege gab es zuletzt das allerfröhlichste Geplauder, dem ihre köstliche französische Lebhaftigkeit einen unbegreiflichen Zauber verlieh. In dieser Gesellschaft durfte ich so ganz Kind sein und bleiben, und doch reifte hier mein Verstand und meine Weltkenntniß rascher als über allen Büchern. Ich dachte nicht daran, an den oft wüsten Gesellschaften meiner Mitschüler theilzunehmen, von denen einzelne zum Kartenspiel auf ihren Stuben zusammenkamen oder Schenken in verborgenen Ecken der Stadt besuchten; denn wie viel glücklicher war ich bei jenen guten, innigen Menschen! Nur dieser liebenswürdigen Französin verdanke ich die Leichtigkeit, mit der ich trotz späterer jahrelanger Zurückgezogenheit von der gebildeten Welt wieder in Frauenkreise einzutreten vermochte.

[178]
III.

Neben der Schularbeit und jener heitern Geselligkeit blieb mir immer noch Zeit zum Lesen moderner Schriftsteller, und wirklich habe ich auf dem Gymnasium bereits den Grund zu späteren Arbeiten auf dem Gebiete der deutschen Literatur gelegt. Leider fehlte es uns, wie schon oben bemerkt ist, an rechter Anleitung dazu. Meist ist es das Theater, wodurch junge Leute in diese Studien eingeführt werden, und in Bonn bestand unter der Direction Ringelhardt’s damals mehrere Winter durch eine gute Bühne, auf der einmal sogar Eßlair mit seinem berühmten Lear als Gast auftrat. Allein der Besuch des Theaters war den Gymnasiasten verboten; auch meine Eltern würden empört gewesen sein, wenn sie erfahren hätten, daß ich einen Schritt dorthin setzte. Was mir untersagt war, hat mich nie gereizt: ich bin erst als Student, wie ich glaube, in’s Theater gekommen, und da ist der Eindruck weit unter meiner Erwartung geblieben, weil ich damals schon die erhabenste Vorstellung von der Tragödie mir gebildet hatte. Erst in Berlin sollte die wirkliche Bühne für mich Leben und Reiz gewinnen.

Auch die lebende Literatur übte auf uns keine mächtige Anziehung. Goethe, dessen Gestirn in seiner Jugend am allerglänzendsten funkelte, hat die Deutschen verwöhnt: von seinem Auftreten an haben sie ihren Dichtern erst nach dem Tode Anerkennung und dann oft überschwärmende Anbetung gezollt. Dieses Unglück später Würdigung widerfuhr namentlich den Schriftstellern, die auf unsere große Epoche von Weimar folgten. Man sah die Literatur als einen Tempel an, der nur eben mit Klopstock, Goethe und Schiller vollständig ausgebaut sei, statt in ihr einen lebendig wachsenden Baum zu erkennen, der jedes Jahr nothwendig einen neuen Ring ansetzt und vom Lebenssaft der Erde stets eine frische Krone nährt. Nun aber fehlte es in der Restaurationsperiode doch auch wirklich an Dichtern, die eine leidenschaftliche Begeisterung in einer Jünglingsbrust erregen konnten. Die Freiheitsdichter aus den napoleonischen Kriegen waren verstummt oder saßen im Kerker; die Romantiker hatten ihre Hauptwerke schon um 1811 abgeschlossen. Arndt lebte allverehrt in Bonn, und seine Lieder lernte ich schon als Knabe auswendig; allein ein umfangreiches, hinreißendes Dichterwerk kam auch aus seiner Feder nicht.

August Wilhelm Schlegel war damals schon für uns Gymnasiasten eine komische Figur. Immermann hatte sich vor der Julirevolution noch nicht einmal bei den Kunstgenossen durchgesetzt, und Heine, der als ein scheuer schmächtiger Junge die neubegründete Universität Bonn bezog und dort in Einsamkeit seine ersten zarten Lieder schrieb, war von dem Bonner Buchhändler Weber mitleidig zurückgewiesen worden, als er jene Erstlinge ihm zum Verlag anbot. Platen endlich kämpfte gleichfalls noch um seine Anerkennung, war aber auch zu sehr formeller Dichter und begeisterte zu wenig durch seine Stoffe, um junge [179] Leute zu fesseln. Nur Uhland besaß alle Eigenschaften dazu, und auf diesen warfen wir uns auch Alle mit größter Vorliebe. Diesem Dichter, der mehr durch Sparsamkeit und Sorgfalt, als durch Fülle und Kraft seinen Platz auf dem Musenberg erobert hat, ist es überhaupt zum größten Glücke ausgeschlagen, daß er unter der Restauration und somit zwischen wenigen und schwachen Nebenbuhlern auftrat. Erst der Juli 1830 hat den Gesang bei uns wieder erweckt. Nur eine schmackhafte Frucht trug der Baum der europäischen Literatur in der Restaurationsdürre: es war der historische Roman. In ihn als in eine harmlose Schale rettete sich, was noch von politischem und geschichtlichem Leben in der geistigen Welt fortbestand. Und wie ein verschlossenes Feuer auf dem Einen Punkte, wo es durch den Ofen scheint, um so schärfer und greller die Nacht umher durchblitzt, so war es auch hinwiederum der historische Roman, der in unsern Gebildeten den Sinn für etwas Höheres als sächsische Taschenbuchnovellen erweckte und die Freude an volksthümlicher Darstellung der Weltgeschichte verbreitete, welche seit dem mit so vielem Erfolge bei uns versucht worden ist. So sollte diese Dichtungsgattung eine große Bedeutung für das Wiedererwachen des politischen Lebens gewinnen.

Der historische Roman hatte sich zwischen 1820 und 1830 ein so breites Gebiet im Buchhandel erobert, wie jetzt der sociale inne hat. Mit dem leichtesten und fruchtbarsten Talent für ihn war unstreitig Walter Scott begabt, der ihn auch zuerst in Schwung brachte; leidenschaftlicher, durch Wildniß, Todesangst und Schrecken ergreifender hat Cooper die Gattung auf den Boden des Urwalds hinübergeführt, und die Franzosen verwandelten sie später nach Victor Hugo’s Vorgang in ein Gemisch des Häßlichen mit dem Grauenvollen. Unter den Deutschen wird an Reichtum der Erfindung und Kraft der Spannung wohl Keiner Spindlern überbieten; doch haben bei uns Unzählige diese Gattung mit ganz besonderem Fleiße ausgebildet und bis zur historischen Toilettennovelle breitgetreten. Wenn man nun überhaupt vor dem achtzehnten Jahre Romane als die bequemste Leserei allem Andern vorzieht, so mußten Werke dieses Charakters uns Gymnasiasten besonders anlocken, da uns auf dem geschichtlichen Felde eine füllereiche Anschauung durch den Unterricht nicht dargeboten wurde.

Der allererste Roman, mit dem ich überhaupt Bekanntschaft machte, war denn auch ein historischer, und es schloß sich diese Bekanntschaft auf eine sonderbare Art. Mit mir befand sich in Tertia der Sohn eines Professors, mit Namen Hasse; ein guter Junge, der aber das Unglück hatte, stets auf der letzten Bank und meist sogar als Ultimus der ganzen Classe zu sitzen. Während der Lehrstunden hockte er mit träumerisch geöffnetem Munde da, und geschah eine Frage an ihn, so fiel er aus den Wolken. Es schien, daß er zu Hause niemals ein Schulbuch ansah, denn wenn er aufsagen oder seinen Cäsar übersetzen sollte, so schlich er zwar aus seiner letzten Bank herbei, stellte sich aber, als ob er nicht reden könne, vor den Lehrer und machte auch gar keinen Versuch weder zu antworten, noch auch nur sich zu entschuldigen, bis der Lehrer kopfschüttelnd ihn zurückschickte; dann wandte er sich unter dem lauten Gelächter der Classe ebenso stumm und gleichmüthig auf seinen Hochsitz zurück, wie er gekommen war.

In der That hatte er auch wohl zum Studiren keine Anlage; später hat er sich der Mechanik zugewendet und als Instrumentenmacher sein ehrliches Brod verdient. Gleichwohl blieb eine so völlige Gleichgültigkeit allen ehrgeiziger Mitschülern unerklärlich, bis endlich mir der Zufall das Räthsel löste. Wegen eines kleinen Vergehens mußte ich eines Mittags fasten bleiben; es war das erste und das letzte Mal in meinem Leben, daß dies mir widerfuhr. Da kam Hasse zu mir und sagte: „Ich will Dir doch etwas Gesellschaft leisten.“ Mich wunderte das, denn ich hatte ihm nie einen besonderen Gefallen gethan, und sentimentale Aufopferung ist bei Tertianern nicht zu Hause. Wir wanderten in dem langen Schulsaal auf und ab, und plötzlich fragte er mich: „Hast Du den Ivanhoe gelesen?“ – „Nein,“ sagte ich. – „Dann will ich ihn Dir erzählen,“ fuhr er fort, und begann nun den dickleibigen Roman in allen Einzelheilen ganz klar und reinlich vor mir auszubreiten. Ich erstaunte; hätte er halb so viel Gedächtniß auf seine Vorbereitung zum Cäsar gewendet, so konnte er ein guter Schüler sein. Nun aber war er vollständig in’s Romanlesen verkommen und hatte für nichts Wirkliches Sinn mehr. Sein Zustand war förmlich ein Rausch von Opium, der für alle anderen Genüsse stumpf macht, und wenn er im Geiste bei Cedric’s Sauhirten oder in König Ludwig des Elften Kerker zu Péronne saß, war es ihm ganz gleichgültig, ob eine ganze Classe seine Unwissenheit in griechischen Wortformen verhöhnte.

Von einer ähnlichen Romansucht habe ich in meinem Leben weder unter Handlungsreisenden noch Ladenjungfern ein gleich starkes Beispiel entdeckt. Aus seiner Hand empfing ich denn auch den Ivanhoe selbst. Ich las ihn mit vielem Vergnügen; allein obwohl ich ohne sonderliche Mühe Alles von Walter Scott hätte haben können, so setzte meine mäßige Natur sich bald freiwillige Schranken. Höchstens zwölf dieser zahllosen Romane habe ich überhaupt gelesen, denen sich dann noch Einiges von Cooper und fast Alles von Irving anschloß; denn der Letztgenannte fesselte mich durch das Belehrende seiner Schilderungen aus den verschiedensten Ländern. Dem Reize derartiger Leserei unterlag ich nur in Unterprima noch einmal, wo ich den ganzen Van der Velden durchackerte. Auch schaffte damals Einer von uns sich die bändereiche Stuttgarter Ausgabe des Wilhelm Hauff an, und diese wurde ebenfalls gierig verschlungen. Hauff hat dadurch so jung Glück gemacht, daß er auf eine beneidenswürdige Weise sich auf der Grenze zu halten verstand, die zwischen der dichterischen Tiefe und der bloßen Unterhaltungsschriftstellerei durchläuft; daher ein angehender Erzähler wohl von ihm lernen kann. Auch ihn habe ich damals von einem Ende bis zum andern durchgelesen, und zwar zuweilen gar unter dem Tische in den mathematischen Lehrstunden. Keine seiner Schriften fesselte uns indessen so wie sein historischer Roman „Lichtenstein“; wie Krähen zur Schneezeit sich einen Bissen Brod streitig machen, so rissen wir uns um die kleinen in gelben Umschlag gehefteten Bändchen, und da ich dabei meist zu kurz kam, ist mir das Sonderbare begegnet, daß ich dieses Buch mit dem letzten Bändchen begonnen und so von hinten nach vornen, wie die Juden ihr Hebräisch, gelesen habe.

Wenn demnach die mitlebenden Schriftsteller damals im Ganzen wenige auf mich eingewirkt haben, so war desto kräftiger der Einfluß der großen Männer, welche die abgelaufene Literaturperiode schmückten. Einer der Söhne des Büchelerschen Hauses besaß eine gut gewählte Bibliothek, in welcher die größten Namen nicht fehlten, und diese durfte ich benutzen. So habe ich eigentlich das Beste, was wir Deutsche besitzen, bereits auf der Schule kennen gelernt. Klopstock’s „Messias“ zu lesen, erschien mir als eine Pflicht, und so gehöre ich zu den wenigen Lebenden, die ganz damit zu Ende gekommen sind; doch gestehe ich, daß es mir Anstrengung gekostet hat. Von Wieland standen sämmtliche Werke zum Genusse mir offen da: „Oberon“, die „Abderiten“ und mehrere der kleinen Erzählungen erfreuten mich sehr, in denen, wie in „Geron dem Adligen“, eine edlere Regung den Sieg über die Sinnlichkeit davonträgt. Tiefer aber las ich mich in diesen bändereichen Schriftsteller nicht hinein, denn ich verlangte damals große Gedanken, starke und schwärmerische Gefühle, und so konnte der feine Spott, mit dem Wieland allen Enthusiasmus züchtigt, mir nicht gefallen. Auch sträubte sich meine noch überaus strenge Knabenmoral gegen die sittliche Leichtfertigkeit in manchen dieser Sachen, und als ich im „Hexameron von Rosenhain“ die widrige Geschichte von dem Frauentausch gelesen hatte, der später durch einen Umtausch wieder aufgehoben wird, da mochte ich nichts von Wieland mehr vor Augen sehen. Doch bekenne ich, daß ich seine Wasserkufe mit aufrichtigem Vergnügen genossen habe.

In solcher Gemüthsverfassung mußte natürlich Schiller am wärmsten mich berühren; seine dramatischen Werke, sowie den „Abfall der Niederlande“, las ich mit vollem Verständniß und lebhaftem Gefühl. Auch Lessing’s Theaterstücke studirte ich mit Eifer, und als ich Goethe begann, waren es nächst den lyrischen Sachen wiederum die Dramen seiner Jugend, welche zuerst an die Reihe kamen; seine Romane habe ich erst Jahre lang später gelesen. So bin ich auch auffallend frühe in Uebersetzungen an Shakespeare und selbst an Calderon herangekommen, wie ich denn Theaterstücke immer gern las. Außer diesen hohen Meistern hat auch noch Seume durch seine Lebensbeschreibung und den „Spaziergang nach Syrakus“ mich aufgeregt und gestärkt: seine Freiheitsliebe und sein Rationalismus fanden wiederhallende Saiten in meiner Seele.

Hauptsächlich diesem fleißigem Lesen der besten Muster schreibe [180] ich es zu, daß mir der deutsche Ausdruck sowohl in der mündlichen Rede als im schriftlichen Aufsatz nie besondere Mühe gemacht hat. Auch mein lateinischer Stil reifte in der Prima schnell. Dagegen fand zu poetischem Schaffen sich keine Anregung. Zum Verlieben war ich zu jung, kein politischer oder moralischer Stoff entzündete mich, und Niemand achtete auch auf das, was ich machte. Ein Versuch, die Weinlese, wie ich sie von Oberkassel her kannte, in Hexametern zu schildern, deutet vielleicht schon auf meine späteren idyllischen Skizzen und Erzählungen hin; außerdem erinnere ich mich unter Manchem nur noch eines mit vierzehn Jahren geschriebenen Geburtstagsgedichtes an meine Schwester, das in ganz richtiger Sonettform abgefaßt war. Nach dieser Seite hin habe ich also nicht frühreif mich entwickelt. Die ganze langweilige Zeit der Restauration trieb nicht zum Dichten, denn sie krönte keinen der Lebenden mit dem glänzenden Lorbeer und weckte folglich keine Nacheiferung. Wer aber hätte als Knabe die Hoffnung gehegt, jemals neben Goethe und Schiller vom Volke auch nur genannt zu werden?

Mögen nun meine Leser und meine Leserinnen mir wieder einmal freundlich in mein stilles Pfarrdorf folgen, das jetzt nur noch halb meine Heimath blieb. Dort waren mehrere Veränderungen eingetreten, die den einfachen Linien meines Kindheitbildes eine etwas glänzendere Färbung gaben.

Meine Mutter war vor ihrer Ehe als Gesellschafterin zu reichen Verwandten nach Utrecht berufen worden und hatte bei einer derselben sich sehr in Gunst gesetzt. Es war dies eine alte unverheirathete Dame, die neben der Frömmigkeit auch die Naturwissenschaften betrieb. Seitdem Holland die großen Naturforscher Leeuwenhoeck, Swammerdam u. A. hervorgebracht hatte, war die Liebhaberei in diesen Studien dort einheimisch geblieben. Eine Menge optischer, elektrischer und sonstiger physikalischer Geräthe nebst einer großen Bibliothek mit vielen Kupferwerken diente diesem Dilettantismus der Juffrouw Grietje. Sie starb und vermachte meiner Mutter ein Legat an Geld und den größeren Theil ihrer Sammlungen. Die Erbschaft fiel nicht so glänzend aus, als zu erwarten stand, denn sie betrug nur einige tausend Gulden; allein sie kam zur rechten Zeit, denn die Erziehungskosten für meine Schwester und mich konnten von dem kläglich kleinen Pfarrgehalt nicht mehr bestritten werden, und das in die Ehe eingebrachte Vermögen beider Eltern war bereits eingeschmolzen.

Mir fiel die Bibliothek und die Instrumentensammlung der holländischen Tante zu: ich fand ein Sonnenmikroskop, ein anderes sehr kostspieliges Vergrößerungsglas mit einer Masse zierlich eingefaßter mikroskopischer Gegenstände, die den Beweis lieferten, daß man nicht zum mühsamen Forschen, sondern bloß zum mäßigen Begucken diese Sachen benutzt hatte; sodann ein vorzügliches Fernrohr, einen Guckkastenspiegel nebst Bildern, zwei Prismen und eine Masse optischer Spielereien. Die Bücher waren geschichtlichen, mathematischen und naturgeschichtlichen Inhalts und boten immerhin einen reichen Stoff. Nur sind freilich die Naturwissenschaften seit den fünfzig Jahren, daß diese Dinge sich angesammelt hatten, von allen Wissensgebieten am gewaltigsten ausgedehnt worden, und so hatten die Instrumente wenig Werth mehr, die Bücher aber waren meistentheils veraltet. Gleichwohl bot dieser Besitz mir viele Jahre einen großen Genuß und auch mannigfache Belehrung, bis er zuletzt nach dem Tode der Eltern durch Herumschleppen aus einer Wohnung in die andere mich belästigte, so daß ich denn vor einigen Jahren das Ganze zugleich mit meinen theologischen Büchern für einen Spottpreis veräußert habe. Wäre ich zum Naturforscher angelegt, so würde ein solcher Anstoß, verbunden mit meinem früheren Insectensammeln, mich jedenfalls bleibend in dieses Fach getrieben haben; nun aber war Neigung und Beschäftigung auf diesem Gebiete niemals ausdauernd, während ein unwandelbar wirksamer Zug mich in Allem, was ich unternahm, auf das Feld der Menschengeschichte zurückführte. So vieles aber der Mensch in seinem Kopfe vereinigen mag, in der Forschung schließen Natur und Geist immerdar sich aus, und nur einem dieser Erkenntnißkreise vermögen wir selbstdenkend uns mit Erfolg zu widmen.

Durch jene Erbschaft nahm nun unser Hauswesen eine etwas behaglichere Ausstattung an. Wir galten seitdem in der öffentlichen Meinung für steinreich, und so entstanden Ansprüche an uns, denen man auch in manchem Aeußerlichen sich nicht entziehen konnte. Meine Schwester war mittlerweile zu einem kräftigen und hübschen Mädchen aufgeblüht; namentlich ihr Wuchs war tadellos. Auf ihre Erziehung hatte die Mutter alles Mögliche verwendet. Um die Haushaltung ganz aus dem Grunde zu lernen, mußte sie noch als ein halbes Kind in einem der ersten Gasthöfe von Köln eine Zeit lang am Kochherde stehen, was damals am Rhein bei Mädchen bürgerlicher Familien Sitte war. Ebendort und in Bonn lernte sie feine Näh- und Stickarbeit, und in Seidenstickerei hat sie es so weit gebracht, wie es sich überhaupt in dieser traurigen Nachäffung der Malerei bringen läßt; auf eine Nachbildung von Leonardo da Vinci’s „Abendmahl“ wurden die besten Tagesstunden mehrerer Lebensjahre verschwendet, die zur Fortbildung des Geistes ihr unschätzbar gewesen wären. Diese Sünde gegen den weiblichen Geist ist ja bis heute in den sogenannten gebildeten Familien nicht ausgerottet. Auch im Aquarellmalen hatte sie einen Anfang gemacht; sie sang leidlich und spielte fertig Clavier. Endlich war ihr in einer Pension zu Neuwied der Goldschaum von allerlei oberflächlichem Wissen angeflogen, wie man ihn für solche Mädchenanstalten zu glätten pflegt.

Unsere Töchtererziehung leidet vor Allem an dem Mancherlei. Sie geht von dem falschen Grundsatze aus, der weibliche Geist sei gleichsam ein blasses Abbild des männlichen, statt in ihm den gleichen, oft noch viel glühender leuchtenden Gottesfunken anzuerkennen. So wird dem Mädchen Alles, was auch dem Knaben, eingeprägt, aber flacher und ohne Gründlichkeit; nur der Mann darf zu den Quellen des Wissens hinabsteigen; dem Weibe gönnen wir nur einen Trunk aus dem rinnenden Strome. Hierauf ruht das Unglück der meisten Weiber. Unglücklich ist nur, wem geistige Klarheit mangelt, denn, wie ein großer Dichter des Alterthums sagt:

„Selig, wem es vergönnt den Grund der Dinge zu schauen!
Jegliche Furcht und Angst, und das unerbittliche Schicksal
Tritt er unter den Fuß, und Acherons gierige Strudel.“

Niemand kann ganz unglücklich werden, der Einen Punkt, nur Einen, der menschlichen Erkenntniß so vollständig und deutlich weiß und begreift, daß auf diesem Punkte Niemand ihn zu überbieten vermag. Ist das von einem Menschengeiste erreicht, dann stellt sich auf diesen festen Punkt die Leiter der Erkenntniß auf, deren höchste Sprosse über die Sternenwelt hinausreicht. Ist der Punkt aber nicht da, dann hilft alles Lernen und Bilden und Arbeiten nichts, der Geist bleibt ein Krüppel. Nun aber kann statt all des Geflitters und Geschwirres von Wissenschaften, Künsten, Sprachen und Handarbeiten einem heranwachsenden Mädchen sehr leicht Eines gründlich beigebracht werden, sei es eine Sprache, ein Abschnitt der Welt- und Bildungsgeschichte, ein Stück der Naturwissenschaften oder auch eine Kunstfähigkeit, wie Clavierspiel oder Declamation, verbunden mit Verständniß der Gesetze dieser Künste. Ist in diesem Einen die Gründlichkeit erreicht, dann, aber auch dann erst, bietet und lernt sich mit doppelter Leichtigkeit ein Zweites und Drittes. Auf diesem Wege werden wir Weiber bekommen, die nicht gelehrt und allweise, die aber in ihrem Geiste selbstständig sind und mit denen zu verkehren sich für denkende Männer verlohnt, während jetzt die Weiber meist Puppen sind, mit deren Seelen unser dialektischer Geist Federball spielt. Ich deute blos vorübergehend an, daß dieses auch der einzige Weg ist, aus Mädchen Charaktere zu schaffen; denn wo die Erkenntniß nebelhaft und ohne Schärfe bleibt, da können auch keine festen Grundsätze sich krystallisiren, sondern das ganze Wesen wird zur Molluske und verliert, sobald Duft und Farbe der Jugend verflogen sind, allen Reiz für Männerwelt.

Ich komme zu meiner Schwester zurück. Eine artige Pfarrerstochter, die für vermögend gilt und durch allerlei Bildung über das gewöhnliche Landconfect sich erhebt, pflegt in der Regel das Haus zu beleben. Zunächst geschah das durch eine weibliche Bevölkerung, die eine Art Pension aus dem sonst so einsamen Pfarrhause machte. Einige evangelische Hüttenbesitzer, die in der Gemeinde meines Vaters, aber von Oberkassel ziemlich entfernt wohnten, hatten Töchter im Alter der Einsegnung, was bei Protestanten in’s fünfzehnte oder sechszehnte Jahr fällt, und übergaben diese dem Unterrichte meines Vaters. Sie traten [181] somit in unser Haus und unsern Familienkreis ein, und meine Schwester gab ihnen zugleich Anweisung in Handarbeiten. Aus Elberfeld kam ein anderes Mädchen auf einige Jahre zur Erziehung zu uns, weil es verwaist war. Auch fiel es vor, daß die überaus gesunde Luft von Oberkassel Eltern bewog, kränkliche Töchter eine Zeitlang zu uns zu thun und die Traubencur bei ihnen anzuwenden, die eben damals frisch in Aufnahme kam. Fand sich dann bei dem fröhlichen Schwarme etwa noch eine Kölner Freundin der Schwester auf Besuch ein, so kam es wohl vor, daß der jugendlichen Mädchen, wie in Angely’s Lustspiel, nicht weniger als sieben waren und darunter außerordentlich hübsche.

Das lustige ungenirte Landleben gab ihnen eine Menge von Backfischstreichen ein, wozu der Umstand Gelegenheit bot, daß dem Pfarrhause gegenüber ein stattliches Wirthshaus lag, welches von Bonner Studenten stark besucht und zu Commersen und Duellen benutzt wurde. Es geschah wohl, daß an einem sonnigen Herbstabende die schöne Sieben sich auf der Brüstung des gräflichen Pavillons am Rheine aufstellte und den Reisenden auf dem vorbeifahrenden Dampfboote mit weißen Tüchern winkte. Gar manches junge Blut mag beim Anblick dieser modernen Schwestern von Oberwesel das Schiff verwünscht haben, das ihn mit so brausender Schnelle stromabwärts davonriß.

Dürfte man sich nun wundern, wenn bei solcher Versuchung auch ich mein erstes Lehrgeld in der Liebe hätte zahlen müssen, da ich doch fast jeden Sonntag und in den Ferien beständig im Pfarrhause verweilte? Und doch ist es nicht dazu gekommen, denn keins der Mädchen nahm sich meiner, wie Fräulein Karoline, in freundlicher Weise an. Ich war ja ein wenig jünger als sie, und mit dem unbändigen Stolz der Backfische blickten sie auf mich herab. Sehr junge Mädchen beachten uns Männer überhaupt nur nach dem Maßstabe, ob Aussicht da ist, daß wir sie heirathen sollen. Ich war jenen Sylphiden also eine ganz interesselose Figur, und auch von ihnen hat keine mein Herz verwundet oder geschrammt. Das Treiben der Pensionsmädchen ist überhaupt seelenlos und macht einen kläglichen Eindruck. Man soll beide Geschlechter nicht getrennt erziehen; eine Rotte von Knaben ohne allen Zusatz von Mädchen wird ungeschlacht, Mädchen aber, die nur unter sich aufwachsen, verfallen in’s Kleinliche. Weder damals noch je hat weibliche Unreife mich angelockt; nur an meiner Schwester hing ich mit grenzenloser Innigkeit und ritterlicher Galanterie.

[209]
IV.


Auch mit jungen Männern belebte sich etwa ein Jahr später unser Haus, freilich durch eine traurige Veranlassung. Mein Vater, bereits ein Siebenziger, verfiel in eine langwierige Krankheit, welche ihn einen ganzen Winter an’s Zimmer fesselte und dem Tode so nahe brachte, daß er schon sein Testament anfertigen ließ. Nun galt es, für seine Vertretung auf der Kanzel zu sorgen, und da kein Pfarrer in der Nähe wohnte, mußte die nahe Universitätsstadt mit Studenten und Candidaten der Theologie aushelfen. Regelmäßig am Nachmittag des Sonnabends fand sich also ein junger Mann im Pfarrhause ein, und zwar jedesmal ein Anderer. Mutter und Schwester sorgten für die Gastfreundschaft, denn es versteht sich in diesem Verhältnisse von selbst, daß der Stellvertreter auch Gast des Hauses ist.

Mancher Jüngling hielt so seine erste Predigt bei uns, und es war wirklich anziehend, jeden Sonntag einen neuen Redner zu hören, unter denen doch auch manche recht begabte Talente sich fanden. Aber auch die jungen Männer kamen gern zu uns; die Gemeinde war so klein, daß die Zuhörerzahl den Anfänger nicht schreckte, die Kirche so nett und sauber wie eine große Wohnstube. Die Bewirthung bei uns war reichlich genug, um sich im Hause behaglich zu fühlen, und doch auch wieder so einfach, daß der Gast sah, er beschwere uns nicht; brachte er selbst einen Freund mit, so fand auch dieser ohne Umstände eine herzliche Aufnahme. Die außerordentliche Belesenheit meiner Mutter in der Bibel und in anderen religiösen Schriften, namentlich aber ihre unerschütterliche Bestimmtheit im Glauben und in allen Grundsätzen, konnten auch einem wohlstudirten Theologen imponiren. Besonders heiter war die Mittagstafel am Sonntag, wenn die Predigtangst nun vorüber und der angehende Amtsbruder im Hause schon etwas heimisch war.

Mein Vater besserte sich im Frühling so sehr, daß er bei Tische wieder mit erschien. Er hatte an dem aufwachsenden Geschlechte Freude und holte aus den Schubfächern seiner Schulgelehrsamkeit manchen lateinischen Spruch und Witz heraus, mit denen er die jungen Leute neckte und erheiterte. Am Nachmittage machte man mit dem Gaste einen Spaziergang oder auch eine kleinere Partie an einen Vergnügungsort, und oft rüstete sich derselbe erst spät Abends zur Heimkehr nach Bonn, wohin ich ihm dann meistens Gesellschaft leistete. Auch nach des Vaters Wiedereintritt in’s Amt hörte diese Sitte der Candidatenpredigten bei uns nicht mehr völlig auf.

In diese ländliche Idylle, die wirklich Vossens „Louise“ wiederspiegelte, trat denn bald auch die Neigung hinein. An einem Sonntag-Morgen machte meine Schwester der Mutter die sonderbare Anzeige, der heutige Candidat müsse von feiner Erziehung sein, denn so oft er aus dem Hause auch nur in den Garten trete, ziehe er sofort Handschuhe an. Dieser junge Mann kam häufig wieder; er war ein getaufter Jude aus Westphalen, und da er auf den Wegen der Frommen wandelte, hielt auch meine Mutter ihn besonders hoch. Zwischen ihm und meiner Schwester entstand ein Herzensverhältniß, das mich bei der letzteren in die zweite Reihe stellte; übrigens mochte ich ihn recht wohl leiden, obwohl er oft anmaßend über unsere Dichter aburtheilte, wenn sie ihm nicht gottselig oder moralisch genug erschienen.

So hätte denn das Vaterhaus mir noch einmal ein reines Glück bieten können, wäre nicht unablässig der religiöse Zwang dazugetreten, der schon mein Kindesleben so oft verdüstert hatte. Die erweiterte Weltkenntniß, die mir aus dem Gymnasialunterricht und den großen Dichtern zuwuchs, vielleicht auch der Umgang mit einzelnen Studenten der Theologie und vor Allem mein eigenes Nachdenken machte mich zum Rationalisten. Der Knabenverstand will Alles recht faßlich haben, und so trat ich ungefähr auf den Standpunkt, auf welchem Muhamed seinen Islam aufbaute: Ein persönlicher Gott hatte die Welt geschaffen und bestimmte mit unabänderlichem Willen alle ihre und der Menschen Schicksale. Große Männer hatten ihn anerkannt und als seine Boten ihn verkündigt. Unter ihnen war Christus der bedeutendste, allein von Natur und Geburt ihm nicht näher als alle Uebrigen verwandt. Die Versöhnungs- und Begnadigungslehre widerstritt meinem herben Rechtsgefühl. Die evangelische Geschichte legte ich mir zurecht, wie die Rationalisten des vorigen Jahrhunderts es gethan haben: bald war etwas von den Schriftstellern verkehrt aufgefaßt, bald mußte man es anders als nach dem Wortsinne auslegen. Glücklicher Weise stand ich auf dieser Ansicht noch nicht, als ich durch meinen Vater zur Confirmation vorbereitet wurde, denn sonst hätte ich als vierzehnjähriger Junge auf die Frage „Glaubst Du das?“ in offener Kirche mit „Nein!“ geantwortet und weder vor dem Scandal noch der Strafe mich gefürchtet. Nur einen Glaubenssatz des Katechismus ertrug ich schon damals nicht; es war die furchtbare Lehre von der Vorherbestimmung, wonach einzelne Menschen von Ewigkeit her zur Seligkeit erwählt, die übrigen verworfen sind. Dieser Satz des finstern Calvin hat geschichtlich seine große Bedeutung gehabt; er gab den französischen Cevennenkämpfern, den holländischen Geusen und den englischen Independenten jenen unwiderstehlichen Schicksalsglauben, mit dem auch Muhamed’s Araber in den Schlachtentod stürzten. Ihre Feinde waren ja von ihrer Geburt an Kinder Belial’s, sie aber die Streiter Gottes, und das wetzte ihrem Republikanerschwerte die schärfste Schneide. Allein jene Zeiten des Kampfes waren vorüber, und ich wollte die menschliche Freiheit des Willens auch einem göttlichen Rathschlusse nicht mehr aufopfern. Demnach erklärte ich der Mutter, daß ich die Einsegnung nicht annehmen würde, wenn der Vater uns auf diesen Satz verpflichte. Sie hat denn, weil sie auch selbst hierin mehr lutherisch dachte, den Vater bewogen, das ganze Capitel bei der Confirmationsprüfung wegzulassen.

Tausend junge Leute verschwören sich in diesem Alter auf Lehrsätze, die sie entweder nie durchdacht haben oder im Herzen verwerfen; für diesen Zwang rächen sie sich nachher durch Frivolität. Mir lag Beides fern; es ist gute deutsche Art, im Religiösen unbiegsam zu sein. So kaufte ich mich mit dem Vater ab, denn er war blos orthodox; aber einem viel härteren Zusammenstoße mit der Mutter konnte ich später nicht entgehen denn sie war eine Pietistin.

Vielleicht wundert man sich, daß ich zwischen streng kirchlicher Gläubigkeit und Pietismus noch einen Unterschied mache, da Beides jetzt stets vereint vorkommt. In der That hat es aber eine Zeit gegeben, wo beide Richtungen sich todfeindlich gegenüberstanden. Als der Pietismus im Beginn des vorigen Jahrhunderts zuerst auftrat, fand er eine erstorbene Rechtgläubigkeit vor, die mit Gedächtnißwissen und Mundbekenntniß sich begnügte. Er dagegen forderte, daß der ganze innere Mensch von der Religion ergriffen werde, und legte daher auf die Erweckung des Gemüthslebens den stärksten Nachdruck. Ob Jemand in allen Artikeln das richtige System habe, das erklärte er für minder wichtig; aber ob man Christi Geist im Glauben sich aneigne und im praktischen Leben sein Gebot erfülle, das galt ihm als das Entscheidende. Aus seinem Schooße gingen Bücher hervor, die den Beweis aufzustellen suchten, daß die von der Kirche verworfenen Ketzer dem Herzen Jesu weit näher gestanden haben als die kirchlichen Lehrer selbst. Der Pietismus hatte folglich ein Aufklärungselement in sich, und wirklich kämpfte Hand in Hand mit ihm der große Thomasius in Halle gegen den Hexenaberglauben.

Nun waltet aber in aller geschichtlichen Entwickelung das Gesetz, daß gegen eine neu und siegreich auftretende Wahrheit alle die absterbenden älteren Richtungen sich verbünden und ihre alten Feindschaften vergessen, wie nach dem Evangelium durch Christi Verurtheilung Herodes und Pilatus Freunde geworden sind. Um den unwiderstehlich hereinbrechenden Pantheismus zu dämmen, haben in unseren Tagen die langjährigen Feinde Orthodoxie und Pietismus sich die Hand gereicht, so wie auch der lange Hader zwischen weltlicher Monarchie und Priestereinfluß im Kampfe gegen uns verschwunden ist. Mit der bloßen Orthodoxie kann, wer Lust hat, bequem sich abfinden; allein [210] der Pietismus geht tiefer ein. Meine Mutter hatte die Kraft, die Sicherheit und den ganzen Trost ihres Innenlebens in einem lebendigen Glauben an Christi Gottheit, an seine himmlische Sendung und persönlichste Theilnahme für jeden durch ihn Erlösten, und da sie zu mir eine ganz unbegrenzte Liebe hegte, vermochte sie den Gedanken nicht zu ertragen, daß ich des gleichen Heiles entbehren sollte. Nicht in ihrem Sinne Christ sein, das war für sie schon der Weg des Verderbens. Daß ich redlich und jedem Gebote gehorsam, ohne Lüge, Tücke und Eigennutz mich entwickelte, war ihr nicht genug; auch der Weg, auf dem man zur Tugend emporstrebt, mußte der ihrige sein, und sie war viel zu leidenschaftlich, um bei dem begonnenen religiösen Gährungsprocesse in mir das Ende in Ergebenheit abzuwarten. Mit ihren Gebeten bestürmte sie den Himmel, und mit ihren Ermahnungen und Wehklagen bestürmte sie leider mich. Nun kannte ich auf Erden kein Wesen, das ich auch nur annähernd meiner Mutter in Liebe und Verehrung gleichstellte; denn sie war überhaupt die Einzige, die zärtlich gegen mich war, und dadurch entfesselte sie mein liebeflammendes Herz zu gleicher Zärtlichkeit und Inbrunst. Hier entstand für mich die erste wahrhaft anspannende und folternde Prüfung. Was sind weltlicher Gewinn und Verlust einer männlichen Ueberzeugung gegenüber? Nur der Weichling wird von ihnen bestochen. Aber einem heißgeliebten Wesen wehe thun mit seinem Bekenntniß, das kann wohl ein junges Gemüth irre machen.

Die arme Mutter war kränklich; schon entwickelte sich in ihr die Schwindsucht mit der erhöhten Erregbarkeit, welche dieser unheimlichen Krankheit eigen ist, und sie wußte ihren frühen Tod voraus. Ihre Nerven waren von Jugend auf leicht gereizt, und starke Gemüthserschütterungen versetzten sie in einen furchtbar anzusehenden, schwer zu ertragenden Zustand. Die traurige Erleichterung der Nervenzuckungen im Augenblicke des ausbrechenden, lange verhaltenen Schmerzgefühls hatte sie auch auf mich vererbt; ich litt daran bis zur Mannesreife. Nun konnte es wohl geschehen, daß ich bei ihr im friedlichsten Gespräche saß. Unmerklich lenkten wir auf’s Religiöse ein; ich fühlte ihr an, wie ihr Inneres glühte und fieberte, allein vergebens suchte ich dann noch auszuweichen. Sie drängte mich auf einen Punkt, wo ich nicht mehr mich zurückziehen konnte; ich stritt liebevoll mit Gründen gegen ihre Bibelstellen und Betheuerungen, und der Forderung des Glaubens trat endlich das schmerzvolle Bekenntniß der Unmöglichkeit entgegen. Ich wußte, was kam, und nie habe ich solch ein Gespräch gewünscht oder gesucht; aber was mir Wahrheit war, das zu verleugnen haben auch Mutterthränen mich nicht bewegt, und mit fünfzehn Jahren bin ich für den Zweifel in schrecklicheren Qualen Märtyrer geworden, als der Scheiterhaufen sie den Bekennern des Glaubens anthat, denn nun brach das Uebel in dem heißgeliebten kranken Körper hervor; ich durfte sie nicht einmal pflegen, denn mein Anblick entzündete ihren Schmerz stets von Neuem, und mehrere Tage hindurch ging sie dann wie gebrochen umher. Dann schlich ich thränenlos, aber innerlich wie von Mühlsteinen zermahlen in den Baumgarten hinab, warf mich auf den Boden und drückte mein Angesicht gegen die Erde, bis die Ruhe und ewige Ordnung der Natur auch meinen Sturm wieder stillte; ja einmal war ich so rasend vor Schmerz und Seelenkrampf, daß ich in einem Haselbusche fingerdicke Aeste wie eine wilde Bestie entzweibiß. In diesen Stunden habe ich die Feuerprobe der Wahrheitstreue bestanden, und weder der Zorn einer Facultät noch der von ihm mir decretirte Hunger haben später mich dazu gebracht, auch nur einen Schritt weit vom Wege der wissenschaftlichen Ueberzeugung abzuweichen. An dieser Gesinnung wird wohl auch jeder Versuch scheitern, mir irgend einmal die Rolle eines Galilei aufzudrängen.

Welch ein schauderhafter Gehorsamszwang in unserem Hause über mich geübt worden ist, davon will ich noch ein Beispiel anführen. Mein älterer Halbbruder Karl hatte, wie ich oben erzählte, beim Kataster gestanden. Als diese Arbeit aufhörte, konnte er in den Staatsdienst als Postbeamter eintreten und so ein anständiges und lebenslängliches Unterkommen gewinnen. Allein dazu hatte er eine Caution von fünfhundert Thalern nöthig, und das meldete er brieflich den Eltern. Er bat nicht um Vorstreckung dieser Summe; er meldete blos, daß sie von ihm verlangt werde. Meine Mutter hatte fast nichts in die Ehe mitgebracht, sondern aus dem hinterbliebenen Vermögen von Karl’s Mutter uns größtentheils erzogen; aber wenn das auch nicht gewesen wäre, dem Stiefsohn war sie ja unbedingt schuldig, auch aus ihrem eigenen Vermögen mit dem mäßigen Opfer von ein paar hundert Thalern seine Existenz zu sichern. Allein so weit verpflichtete ihre Gottseligkeit sie nicht; sie beschloß die Caution zu verweigern. Als Stiefmutter mochte sie nun nicht gerne selbst dem Betheiligten dies erklären, und meinen Vater konnte sie wohl zu einer solchen Härte gegen sein erstgebornes Kind auch nicht bringen. Meine Schwester, die sonst stets die rechte Hand der Mutter war, schlängelte sich klüglich an diesem bittern Kraut vorüber, und so zwang die Mutter mich, das jüngste Kind, zu diesem unbrüderlichen Briefe. Vergebens meine Vorstellungen, daß jene Summe ja dem Bruder gebühre, vergebens mein Flehen, wenigstens mich von jener Maßregel unbefleckt zu lassen; man verlangte stummen Gehorsam, und so mußte ich mit blutendem Herzen an Karl die harten Worte schreiben: die Eltern erwarteten, daß er doch endlich sich selbst so viel werde erworben haben, um selber die Caution beibringen zu können! Mit welch verbittertem Gefühl muß der damals wohl schon dreißigjährige Mann diese Zeilen aus der Hand eines unreifen Knaben gelesen haben, der noch nie für sein eigen Brodverdienst eine Hand angelegt hatte! Wie altklug und widerwärtig mußte das Lieblingskind der Stiefmutter ihm erscheinen, wie haltlos jedes brüderliche Verhältniß für alle Zukunft zerstört werden! Wirklich betrat auch Karl seitdem lange Jahre unser Haus nicht mehr und begnügte sich, als officielle Respectserklärung regelmäßig einen kühlen Glückwunsch zum Neujahr an die Eltern abzusenden.

Mein letztes Schuljahr war da. Es herrschte damals an den Gymnasien noch der Gebrauch, vom Schlußexamen Nummern zu ertheilen. Man hat ihn später aufgegeben, weil man einsah, daß in dieser Uebergangszeit des Knaben zur Jünglingsreife es bedenklich sei, den Ehrgeiz zu allzu gespannten Arbeiten zu stacheln. In der That war das Streben nach Nummer Eins ein ganz unglaublicher Sporn, und da ich diese Nummer haben wollte, begann ich mit unerhörtem Fleiße zu studiren. Meine Sonntagsgänge nach Hause gab ich fast ganz auf. Außer den Schulstunden und der Vorbereitung auf sie wurde eifrigst die Privatlectüre betrieben. Regelmäßig eine Stunde nach Schluß der Schule fand ich mich im Hause meines Mitschülers Hermann Velten ein, um mit ihm und noch einem Schulgenossen Classiker zu studiren. Velten war ein lebhafter Mensch von vielem Talent, der besonders in lateinischer Prosa sich auszeichnete, wie denn sein Lieblingsschriftsteller immer Cicero blieb. Außerdem trieb er schon damals das Englische, dem er zum großen Theil seine geachtete Stellung als Arzt bei den Bädern von Aachen verdankt. Der ganze Homer und die Oden von Horaz, so wie mehrere Schriften von Cicero wurden in diesen Abendstunden durchgenommen, und dann begann man oft noch zu Hause bis in die späte Nacht geschichtliche Werke zu lesen.

Mit einem andern mir wegen seiner jovialen Laune sehr lieben Mitschüler, Hubert Eiler, hatte ich schon früher große Stücke aus Herodot durchgemacht; dieser Erzvater der vernünftigen Geschichtschreibung sagte meiner Geistesrichtung ungemein zu. Um aber auch in anderem Sinne gerüstet die Hallen der Akademie betreten zu können, nahmen die Oberprimaner im letzten Sommer bei dem Universitätsfechtmeister eine gemeinsame Lehrstunde im Rappier. Hierin kam ich anfangs schlecht vorwärts; ich war erst fünfzehn Jahr alt, und da ich sehr stark und schlank aufschoß, verbrauchte die Natur alle Kraft auf’s Wachsen. Meine Armmuskeln waren noch zu schwach und ermüdeten rasch; die regelrechte Tiefquart habe ich erst viel später losbekommen.

Die Examenzeit kam heran, und zuerst wurden unter Clausur die schriftlichen Arbeiten angefertigt. Bei diesen entsteht ein Kampf des Scharfsinns zwischen Lehrern und Schülern. Stets giebt es unter den letzteren Einige, die sich wenigstens in einzelnen Fächern schwach fühlen und folglich fremder Hülfe vertrauen. Die Lehrer suchen dies pflichtmäßig zu verhindern und bieten Alles auf, um jeden Unterschleif zu entdecken; die Schüler aber sinnen immer neue Wege aus, und diese Wege sind oft so unerhört, daß die List dennoch gelingt. Das Thema der Arbeit wird erst mitgetheilt, wenn die Arbeit selbst beginnen soll, und dann ist es mehrere Stunden lang verboten, den Schulsaal zu verlassen.

[211] So entsteht die Hauptschwierigkeit, eben das Thema den Freunden bekannt zu machen, die auf ihren Stuben bereit sitzen, um die Arbeiten anzufertigen; denn verspätet sich diese Mittheilung, so kommen die draußen gemachten Aufsätze nicht früh genug den verzweifelnden Examinanden zu. Hier gab es nun viele Auswege. Am frühen Tage mußte ein Unterprimaner, der zu diesem gefährlichen Gange förmlich gepreßt wurde, sich auf die Aula schleichen, die an die Prüfungsclasse stößt, um hier das Thema zu erlauschen, oder es flog auf einem zugewickelten Papier durchs Fenster, wanderte auch wohl durch die Ritze unter den Thürflügeln, und begann nun seinen Schnelllauf durch die Stadt. Die zweite Schwierigkeit bestand aber darin, die draußen gefertigten Arbeiten wieder hineinzuliefern. Die ältere Praxis war, dies in Weißbrödchen zu thun, welche die Hauswirthe mit einer Tasse Fleischbrühe oder Chocolade den armen Examinanden zur leiblichen Stärkung hereinsandten; allein dieser Schleichweg war zu unserer Zeit längst entdeckt, und solche Liebesgaben passirten die Vorposten nicht mehr. So mußte etwas Neues ausgefunden werden. Mitten in der für die Aufsätze abgemessenen Zeit treten alle Schüler ein einziges Mal aus, um unter Aufsicht von einem oder mehreren Lehrern frische Luft zu schöpfen. Alle Ecken des kleinen Hofes, wo dieses geschah, waren zuvor durchsucht worden, ob nicht eine Pfuscharbeit in sie sich verkrochen habe. Es schien unmöglich, noch einen Versteck aufzufinden, und doch gelang es den zaghaften unter uns ebenso wunderbarlich als glücklich. Bei einem verschwiegenen Tischler wurde eine kleine Schublade bestellt, die sich mit ein paar Schrauben leicht an jedes Holzwerk anheften ließ. Diese befestigte man unter das Sitzblatt des Abtrittes, so daß dieses gleichsam das Tischblatt der Lade bildete, die sich also gerade in die Oeffnung herausziehen ließ. In diese Lade legte ein gewandter Unterprimaner die sämmtlichen Pfuscharbeiten, und Jeder, der eine bestellt hatte, holte die seinige dort mit aller Gemüthlichkeit heraus. Auf die Möglichkeit dieses fabelhaften Einfalls ist der Scharfsinn des Lehrercollegiums allerdings nicht gerathen, und die Lade hat den Schwächeren unter uns ihre Dienste nicht versagt. Wer die Schulzeit hindurch redlich seine Schuldigkeit gethan hatte, brauchte natürlich diesen anrüchigen Unterschleif nicht.

Ich erfuhr bald, daß meine schriftlichen Arbeiten vollständig genügten. In der mündlichen Prüfung ging es mir, wie bei Allem, wo es auf’s Sprechen ankam, noch glücklicher, und ich errang das unbedingte Eins. Mit mir wurde diese Auszeichnung noch Hermann Velten und einem jungen Adligen, Maximilian Raitz von Frentz, zu Theil, der wirklich durch ganz tadellose Sitten und einen unwandelbar gleichen Fleiß uns Allen vorleuchtete. Drei andere Mitschüler erhielten das Nahe Eins, die drei übrigen Zwei. Eine niedrigere Nummer kam nicht vor, und so zeigte sich, daß wir doch eine sehr tüchtige Schülergeneration gewesen waren.

Das Lehrercollegium wählte mich aus, um die deutsche Abschiedsrede zu halten. Im mündlichen Vortrag hatte ich mich schon vielfach geschult. Schriften, die mir gefielen, namentlich begeisternde und klangvolle Gedichte, las ich von Jugend auf mir gerne laut vor, und dies ist die Grundlage jeder gesunden Schule im Vortrage. Auch hatte ich aus ganz freiem Antrieb mich im Declamiren aus dem Gedächtniß geübt und meine Eltern an Geburtstagen damit überrascht. Wollte Keiner mich hören, so declamirte ich einsam im Pfarrgarten. Aber so mächtig zog Öffentlichkeit mich an, daß ich auch schon als halber Knabe eine Rede gewagt habe. In Oberkassel baute man einen neuen Schulsaal. Mein Vater, im Fundamentgraben stehend, legte den Grundstein und hielt in seiner Weise eine biblische Ansprache vom Eckstein Christus. Dieser ließ ich eine von mir gearbeitete Rede freieren Inhaltes folgen, die ich ohne Zittern unter dem blauen Himmel vor einer Menge von Zuhörern mit meiner dünnen Knabenstimme vortrug.

Beim Uebergang aus Secunda in Prima hatte ich am Schulfeste Goethe’s „Zueignung“ zu declamiren gehabt; dies ging aber matt und schläfrig, weil das Gedicht für einen Knaben zu hoch ist, mich also nicht fortreißen konnte. Jetzt fiel mir eine Aufgabe zu, auf die ich stolz war, denn die Abgangsrede war von allen Schulauszeichnungen die höchste. Es war Sitte, daß der Stoff dieser Reden vom Lehrer gegeben wurde; den meinen bestimmte Domine. Diesen Mann habe ich schon oben als einen entschiedenen Ghibellinen und eifrigen Anhänger der Monarchie geschildert; als solchen bewährte er sich auch hier, denn er zeichnete mir eine Lobrede vor auf den regierenden König Friedrich Wilhelm den Dritten von Preußen. Im Munde eines Jünglings, dem man nie eine Ahnung von Politik beigebracht hatte, der also des Königs wirkliche Verdienste gar nicht scharf hervorzuheben wußte, war das jedenfalls eine höchst unpassende Aufgabe. Allein eben wegen meiner politischen Unerfahrenheit ergriff ich sie bereitwillig und arbeitete eine Rede aus, die auch zur Zufriedenheit Domine’s ausfiel.

Meinen Eltern wußte ich zu verbergen, daß mir die deutsche Rede zugetheilt sei; doch bewog ich sie, zum Schulfeste nach Bonn zu kommen. Ganz überraschend für sie trat ich auf und sprach mit einer mir selbst unerwarteten Leichtigkeit und vielem Feuer. Die große, festlich gekleidete Versammlung hob mich; denn jeder geborene Redner spricht am besten, wenn Viele ihn hören. Ueber den Stoff und die Ausarbeitung der Rede mag gar verschieden geurtheilt worden sein; über den Vortrag war Eine Stimme, und namentlich ein katholischer Geistlicher erkannte schon damals in mir den künftigen Herrscher des Wortes. Meine Eltern waren doppelt gerührt und erfreut; es war ja nun kein Zweifel mehr, daß ich die wünschenswertheste Gabe des geistlichen Standes besaß, für den sie mich bestimmten. Hierauf erhielt ich aus der Hand des Directors mein Abgangszeugniß; es war in Bezug auf Studium und auf sittliche Führung gleich ausgezeichnet.

Und so hatte ich, eben erst sechszehn Jahr alt, das erste Ziel mit Ehren erreicht, nach welchem mein jugendlicher Wille so lange sich streckte. Froh und stolz verließ ich mit den Eltern die lieben Räume des Gymnasiums und kehrte für die Zeit der Ferien nach Oberkassel zurück. Es war am 10. September 1831. Zufällig fiel auf den folgenden Tag die silberne Hochzeit meiner Eltern, und zur Feier des Doppelfestes schenke mir an demselben mein Vater einen goldenen Fingerring, welcher mir noch heute das Andenken an den ersten Kampfpreis rettet, den ich dem Leben abgewann.