Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Turnkunst“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 15 (1889), Seite 942948
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Turnkunst. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 15, Seite 942–948. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Turnkunst (Version vom 27.03.2023)

[942] Turnkunst (Turnen), die Kunst der Leibesübung (Gymnastik) in ihrer deutschen Entwickelungsform. Der Name stammt vom Turnvater Jahn, der ihn als einen vermeintlich echt deutschen dem altdeutschen turnan (drehen) entnahm, welches aber nur ein Lehnwort aus dem griechisch-lateinischen tornare (runden, drehen) ist, verwandt mit Turnier und Tour. Die T. umfaßt die Gesamtheit der bei uns einer geregelten Ausbildung des menschlichen Körpers um dieser selbst willen dienenden Leibesübungen, bietet so aber auch die Grundlage für die bestimmten Zwecken dienenden leiblichen Fertigkeiten, wie z. B. für den Tanz und die militärischen Bewegungsformen, für Fechten und Reiten, schließt aber solche nicht schon in sich. Sie ist somit als allgemein vorbildend ein wesentlicher Teil der Erziehung und eine Pflicht der letztern insofern, als ihr die Ausbildung der menschlichen Kräfte innerhalb der Grenzen eines harmonischen [943] Zusammenwirkens derselben obliegt. Durch letzteres unterscheidet sie sich von der die leibliche Kraft und Gewandtheit ausschließlich und berufsmäßig ausbildenden Athletik wie von dem nur einzelne Fertigkeiten pflegenden Sporte. Die T. hat mit ihrem Einfluß auf die Funktionen der Leibesorgane eine wesentliche Bedeutung für die Gesundheit, sowohl durch Bewegung, Kräftigung und Abhärtung Krankheit verhütend als eingetretenen Störungen des Organismus entgegenwirkend. Das Turnwesen bildet somit einen wichtigen Teil der auf Volksgesundheitspflege gerichteten Bestrebungen. Da nun aber Leib und Geist als Teile desselben Organismus in steter Wechselwirkung stehen, so wird die leibliche Ausbildung zur Pflicht nicht nur um des Leibes willen, sondern die T. kann und will auch an ihrem Teil geistige Frische und Rüstigkeit, Selbstvertrauen in die Leibeskräfte, männliche Wehrhaftigkeit, sittliche Beherrschung des Leibes mit fördern helfen. Auf den Namen einer Kunst hat die T. nur in bedingter Weise, aber insofern Anspruch, als sie, wie die Baukunst und andres Kunsthandwerk, bei der Ausführung ihrer einem praktischen Zweck dienenden Übungen nach Schönheit der Form strebt. Auch werden manche ihrer reigenartigen Gebilde in den Ordnungsübungen, gewissen Formen der Tanzkunst verwandt, oft nur um der Gestaltung wohlgefälliger Formen willen geschaffen. Für den Zusammenhang der T. mit geistigen Bestrebungen ist bezeichnend, daß, wie die griechische Gymnastik sich bei dem geistig am höchsten und vielseitigsten entwickelten Volk des Altertums findet, so auch die T. einer Zeit voll höchster geistiger Regsamkeit und begeisterten patriotischen Aufschwunges ihren Anstoß verdankt, und daß auch ihre weitern Schicksale mit den Wandlungen unsers nationalen Geisteslebens engen Zusammenhang zeigen.

[Geschichte.] Das Leben setzt in jeder Form ein gewisses Maß leiblicher Fertigkeit und Übung voraus, und wenn man von mönchisch-asketischen, auf Ertötung des Leiblich-Sinnlichen gerichteten Bestrebungen absieht, konnte der Nutzen leiblicher Kraft und Gewandtheit kaum irgendwo verkannt werden, ja vielmehr hat sich die Lust an leiblicher Regung, in welcher Form es auch sei, noch zu allen Zeiten geltend gemacht. Daher finden sich auch in Deutschland seit der Zeit des Mittelalters, wo die Bewegungslust mit dem Waffenhandwerk den Bund zu ritterlichem Kampf- und Turnierwesen eingegangen war, mannigfache Leibesübungen in den verschiedenen Kreisen unsers Volkslebens, an welche vielfach dann die T. nur anzuknüpfen brauchte (vgl. Gymnastik); so einmal als eine Art Nachklang jener ritterlichen Zeit die Fechtkünste und das Voltigieren (s. d.) am lebenden oder am nachgebildeten Pferd, wie besonders an Universitäten und adligen Schulen; ferner die mehr allgemein als Jugendspiele oder gelegentliche Volksbelustigungen auftretenden Ballspiele (s. d.), das Ringen (s. d.), Wettlaufen, Klettern u. a.; endlich besondere Fertigkeiten, wie Schwimmen, Schlittschuhlaufen und die mancherlei Schießübungen mit Armbrust und Feuergewehr. Der Leibesausbildung um ihrer selbst willen redeten zuerst wieder Vertreter der in der Zeit vor der Reformation erwachenden humanistischen Studien das Wort, die ja auch in dieser Hinsicht auf das Vorbild des klassischen Altertums hinweisen konnten; ein Zeugnis solcher Bestrebungen ist das Buch des italienischen Arztes Hieron. Mercurialis: „De arte gymnastica“ (2. Aufl. 1573). Daß man seitdem besonders um der Erziehung willen Leibesübungen befürwortete, ihre Vernachlässigung beklagte, hier und da auch zu einem Versuch leiblicher Schulung Hand anlegte, dafür sind Aussprüche und Lehren von Männern wie Luther, Zwingli, Camerarius und Comenius am bezeichnendsten. Auch von seiten der realistischen philosophischen Betrachtung kam man wegen der Wirkung des Sinnlichen auf das Geistige zu der Forderung einer geregelten Leibeserziehung, wie besonders Locke in seinen „Gedanken über Erziehung“ (1693) als höchstes Ziel der Erziehung den gesunden Geist im gesunden Körper hinstellte. Mit noch größerm Nachdruck und weit allgemeinerer Wirkung besonders auf das deutsche Erziehungswesen erhob dieselbe Forderung J. J. Rousseau (s. d.) in seinem epochemachenden Erziehungsroman „Émile“ (1762), der ein Ideal naturgemäßer Erziehung geben sollte gegenüber der unnatürlich künstelnden Erziehung seiner Zeit. Zum Teil unter dem Eindruck Rousseauscher Ideen und selbst wieder weitern Kreisen Anregung gebend, machte in Deutschland Basedow in der 1774 zu Dessau ins Leben gerufenen, Philanthropin genannten Erziehungsanstalt auch zuerst den Versuch einer geregelten Leibesausbildung, zu der er den Stoff teils aus den an den Ritterakademien dauernd in Pflege erhaltenen Künsten des Tanzens, Fechtens, Reitens und Pferdspringens, teils auf Anregung seines Gehilfen Joh. Friedr. Simon der griechischen Gymnastik in den Übungen des Laufens, Springens u. a., teils aus militärischen Bewegungsformen entnahm. Von hier übertrug diese Übungen Salzmann in die von ihm 1784 zu Schnepfenthal gegründete Erziehungsanstalt, in welcher die Leibesübungen seit 1786 mit größter Sorgfalt und nachhaltigster Wirkung J. Chr. Guts Muths (s. d.) leitete, welchem außerdem das große Verdienst gebührt, in seiner zuerst 1793 erschienenen „Gymnastik für die Jugend“ öffentlich nicht nur als ein begeisterter Fürsprecher der Leibesübungen aufgetreten zu sein, sondern auch besonders den von ihm in emsigem Nachforschen und Prüfen stark erweiterten und geordneten Übungsstoff weitern Kreisen erschlossen zu haben. Zu gleicher Zeit gab G. U. A. Vieth in Dessau (1763–1836) in seinem „Versuch einer Encyklopädie der Leibesübungen“ (Tl. 1 u. 2, 1794–95; Tl. 3 mit Nachträgen, 1818) sowohl eine Übersicht der Leibesübungen vieler Völker aus alter und neuer Zeit als auch den ersten Versuch einer systematischen Einteilung der Leibesübungen. Auch Pestalozzi stellte sich seit 1807 in der Schweiz die Aufgabe, Leibesübungen nach einem der Bewegungsfähigkeit der Körperteile folgenden systematischen Plan zu erfinden und zu üben. Der sogen. Tugendbund (s. d.) machte 1809 den ersten Versuch mit Einrichtung eines öffentlichen Turnplatzes zu Braunsberg. Während aber die bisher angegebenen Anregungen nur zu ganz vereinzelter Einführung der Leibesübungen und meist an geschlossenen Erziehungsanstalten geführt hatten, war es das Verdienst von F. L. Jahn (s. d.), mit dem nach Deutschlands tiefer Erniedrigung in den Napoleonischen Kriegen zumal in Preußen erwachenden ernsten Streben nach einer Wiedergeburt unsers Volks- und Staatslebens und unsrer Wehrkraft, wie es sich besonders in Arndts „Geist der Zeit“, in Fichtes „Reden an die deutsche Nation“, in Jahns „Volkstum“, in Steins Reformen und in den Gneisenau-Scharnhorstschen Plänen zur Einführung einer allgemeinen Wehrpflicht zeigte, den lauten Ruf nach einer „volkstümlichen“ Leibeskunst zu verbinden und mit Einsetzung seiner ganzen kraftvollen, jugendliche Begeisterung weckenden Persönlichkeit in Berlin dieser „T.“ die erste öffentliche Stätte zu bereiten. Im [944] Frühjahr 1811 wurde von ihm der Turnplatz in der Hasenheide bei Berlin eröffnet, von dem aus durch seine Schüler die Keime einer wirklich jugendfrischen, die Knaben in ihrer Vollkraft packenden Leibeskunst bald auch nach andern Orten Deutschlands, insbesondere an die Hochschulen Halle, Jena und Breslau, verpflanzt wurden. Nachdem das Treiben auf dem Turnplatz natürlich durch die Unruhe der folgenden Kriegsjahre beschränkt worden, auch manche der eifrigsten Jünger der Turnsache, wie besonders Friedr. Friesen (s. d.), im Feld geblieben waren, wurde die Sache mit erneutem Eifer und größerer Vertiefung und Sichtung des Übungsstoffes wieder aufgegriffen. Den letztern durch Einführung von reicher Ausnutzung fähigen Geräten, wie des Recks und des Barrens, erweitert und über das Gebiet der einfachen volksüblichen Übungen noch mehr erhoben zu haben, ist neben seiner Sorge für die sprachliche Bezeichnung (s. unten) Jahns entscheidendes technisches Verdienst um die T. Die Ergebnisse dieser Bemühungen sind von ihm in der 1816 mit seinem Schüler E. Eiselen zusammen herausgegebenen „Deutschen T.“ niedergelegt. Die in dieser Zelt im Gegensatz zu der erwarteten freiheitlichen Gestaltung unsers Staatslebens eintretende Reaktion glaubte natürlich gegen die mit freiheitlichen und nationalen Ideen erfüllten, dazu allerdings hier und da auch ungebundenes und ungeschlachtes, renommistisches Wesen zur Schau tragenden Jahnschen Turnerscharen besonderes Mißtrauen hegen zu müssen. Die Schattenseiten des turnerischen Treibens und das unreife Gebaren von Mitgliedern der mit der Turnerei enge Fühlung unterhaltenden Burschenschaften auf dem Wartburgfest (18. Okt. 1817) veranlaßten zunächst die litterarische Breslauer Turnfehde, die besonders durch Henrich Steffens (s. d.) und K. A. Menzel auf gegnerischer Seite, auf turnerischer geführt ward von Franz Passow, Chr. W. Harnisch (s. d.) und dem Hauptmann W. v. Schmeling, dem Verfasser von „Die Landwehr, gegründet auf die T.“ Nach Kotzebues Ermordung durch den Burschenschafter und Turner Sand (1819) folgte die Schließung sämtlicher (über 80) preußischen, bald auch der meisten andern deutschen Turnplätze und Jahns Verhaftung. Nun wurde zwar auch während dieser Zeit der sogen. Turnsperre an nicht wenigen Orten fortgeturnt, und namentlich hatte Ernst Eiselen (s. d.) Verdienste um die dauernde Pflege und innere Weiterbildung der T., desgleichen Klumpp in Stuttgart, H. F. Maßmann (s. d.) in München; der eigentliche Lebensnerv war aber der Sache durch den Ausschluß der Öffentlichkeit und Jahns erzwungene Fernhaltung unterbunden. Erst der durch Ignaz Lorinsers (s. d.) Schrift „Zum Schutz der Gesundheit in den Schulen“ hervorgerufene Schulstreit über die körperliche Schädigung der Jugend durch den Schulunterricht, ferner die Erweckung des deutschen Nationalgefühls durch die französischen Rheingrenzgelüste im J. 1840 und der gleichzeitige Regierungsantritt Friedrich Wilhelms IV. brachten für die Turnsache wieder bessere Zeiten; durch die Kabinettsorder vom 6. Juni 1842 wurden die Leibesübungen als ein „notwendiger und unentbehrlicher Bestandteil der männlichen Erziehung“ anerkannt und 1843 Maßmann behufs Einrichtung des Turnunterrichts im preußischen Staat nach Berlin berufen. Während jedoch letzterer an die Überlieferungen des Jahnschen, eine gemeinsame Beteiligung von jung und alt auf den Turnplätzen voraussetzenden, also Schul- und Vereinsturnen noch nicht scheidenden Turnbetriebs enger anknüpfte, als es sich mit der Aufgabe einer allgemeinen Einführung des Turnens an den Schulen vertrug, war mittlerweile durch Adolf Spieß (s. d.), welcher die Gebiete der Frei- und Ordnungsübungen erschlossen, den turnerischen Übungsstoff systematisch gegliedert und mit Rücksicht auf das Schulturnen beider Geschlechter reich entwickelt hatte, der T. die nötige Ergänzung zu teil geworden, um als Schulunterrichtsfach allgemein zur Einführung gelangen zu können.

[Bildungsanstalten. Unterricht.] Für die weitere Entwickelung des Schulturnens und die methodische Verarbeitung des Übungsstoffes war nicht ohne Bedeutung die Gründung von Turnlehrerbildungsanstalten, wie der zu Dresden (1850) unter dem auch als fruchtbarer Turnschriftsteller wirkenden Moritz Kloss (gest. 1881, seitdem unter Bier) und der preußischen Zentralturnanstalt zu Berlin. Die letztere, die 1851–77 die Abteilungen für die Ausbildung von Militär- und Zivilturnlehrern vereinigte, suchte unter Rothsteins (s. d.) Oberleitung (bis 1863) die auf Lings (s. d.) System beruhende, sogen. schwedische Gymnastik zur Einführung zu bringen, die aber von seiten der deutschen T. entschieden und erfolgreich bekämpft wurde und auch mehr und mehr dem deutschen Turnen Platz machte, in der Zivilabteilung, die 1877 in eine selbständige Turnlehrerbildungsanstalt umgewandelt wurde, unter Karl Eulers (s. d.) Vermittelung. Für Württemberg besteht eine Turnlehrerbildungsanstalt seit 1862 in Stuttgart unter Otto Jäger (s. d.), der ein eignes Turnsystem eingeführt hat, für Baden seit 1869 in Karlsruhe unter Maul (s. d.), für Bayern in München seit 1872 unter Weber. Auch für Turnlehrerinnen bieten die meisten der gedachten Anstalten neuerdings entsprechende Ausbildungsgelegenheit. In einzelnen kleinern deutschen Staaten werden Turnlehrerausbildungskurse von Zeit zu Zeit durch geeignete Kräfte abgehalten. – Auch die Turnlehrerversammlungen, deren seit 1861 an verschiedenen Orten zehn stattgefunden, haben durch Vorträge, Verhandlungen und Vorführungen zur Förderung des Turnunterrichts und Klärung der für ihn geltenden Grundsätze beigetragen.

Der Turnunterricht ist jetzt in Deutschland an den höhern Schulen und den Seminaren so gut wie allgemein, wenn auch an vielen Orten noch in unzulänglicher Form, eingeführt; auch für die Knabenvolksschulen ist er in den meisten Staaten, in Preußen seit 1862, in Baden seit 1868, in Sachsen seit 1873, in Württemberg seit 1883, gesetzlich zur Pflicht gemacht, läßt aber hier noch vieles, an den Landschulen vielerorts noch so gut wie alles zu wünschen übrig. Mit dem Turnunterricht an Mädchenschulen ist man bisher meist nur in Städten vorgegangen. In der Regel beschränkt sich die Einführung des Schulturnens auf zwei wöchentliche Unterrichtsstunden, und selbst diese können wegen Mangels geeigneter Winterturnräume noch nicht überall das ganze Jahr hindurch fortgesetzt werden. Schulneubauten in Städten erhalten jetzt in der Regel eigne Schulturnhallen. Außer dem Schulturnen werden auch an nicht wenigen Orten noch Turnspiele gepflegt, besonders seit dem dahin gehenden Erlaß des preußischen Ministers v. Goßler vom Oktober 1882. Eine Übersicht über die Entwickelung des Turnunterrichts und seinen Stand um das Jahr 1870 gibt die „Statistik des Schulturnens in Deutschland“, hrsg. von J. K. Lion (Leipz. 1873); vgl. Pawel, Kurzer Abriß der Entwickelungsgeschichte des deutschen Schulturnens (Hof 1885). Vgl. auch Euler und Eckler, Verordnungen und amtliche Bekanntmachungen, das Turnwesen in [945] Preußen betreffend (Leipz. 1869); Rud. Lion, Verordnungen und amtliche Bekanntmachungen, das Turnwesen in Bayern betreffend (2. Aufl., Hof 1884). – In der preußischen Armee wurde das Turnen durch die „Instruktion für den Betrieb der Gymnastik und des Bajonettfechtens bei der Infanterie“ von 1860 als den übrigen Dienstzweigen gleichberechtigt anerkannt und geregelt. An die Stelle dieser seit 1871 für das ganze deutsche Heer maßgebenden Instruktion traten 1876 die „Vorschriften über das Turnen der Infanterie“, die 1886 in veränderter Form erschienen. Entsprechend traten an die Stelle der „Instruktion für den Betrieb der Gymnastik bei den Truppen zu Pferde“ vom Jahr 1869 die „Vorschriften über das Turnen der Truppen zu Pferde“ vom Jahr 1878.

[Vereine.] Auch das Vereinsturnwesen hat seit den 40er Jahren mehr und mehr an Boden gewonnen, am raschesten in Sachsen, am Mittelrhein und in Württemberg; dasselbe ist auch auf die Einführung des Jugendturnens wie auf die technische Gestaltung des Turnbetriebs von großem Einfluß gewesen. Besondere Anregung für die Vereinsbildung gab, nachdem auch hierin nach 1848 ein Rückschlag eingetreten, der Aufschwung unsers Nationalgefühls im Jahr 1859; die deutschen Turnfeste zu Koburg (1860), Berlin (1861) und Leipzig (1863) gaben unter steigender Beteiligung und Begeisterung dem neuerwachten turnerischen Leben Ausdruck und neue Anregung. Die Anzahl der Vereine war von kaum 100, die sich bis 1859 erhalten hatten, bis 1864 auf 1934 mit gegen 200,000 Angehörigen gestiegen. Die Kriege der nächstfolgenden Zeit wirkten auf die Vereinsthätigkeit hemmend; doch war, während die Statistik von 1869 nur noch gegen 1550 Vereine aufwies, deren Anzahl schon 1876 wieder auf 1789 mit gegen 160,000 Mitgliedern gestiegen und betrug nach stetigem Wachstum 1889 an etwa 3600 Orten 4300 mit gegen 370,000 Mitgliedern über 14 Jahre, darunter 50,000 Zöglinge. An Turnübungen nahmen teil 190,000 unter 18,600 Vorturnern und zwar auch im Winter aus 3400 Vereinen; eigne Turnplätze besitzen 512, eigne Turnhallen 238 Vereine. (Vgl. die „Statistischen Jahrbücher der Turnvereine Deutschlands“ von G. Hirth 1863 u. 1865, das dritte „Statistische Jahrbuch“ von Goetz und Böhme 1871 und „Turnzeitung“ 1889, Nr. 27.) Die große Masse dieser Vereine (zur Zeit 3850) bildet, nachdem sie von 1860 an durch einen ständigen Ausschuß vertreten war, seit 1868 die Deutsche Turnerschaft, deren Grundgesetz 1875 neu gestaltet, 1883 und 1887 revidiert worden ist. Dieselbe ist in 17 Kreise geteilt: Kreis I umfaßt den Nordosten, II Schlesien und Südposen, IIIa Pommern, IIIb die Mark, IIIc die Provinz Sachsen, IV den Norden, V Niederweser und Ems, VI Hannover, VII Oberweser, VIII Niederrhein und Westfalen, IX Mittelrhein, X Oberrhein, XI Schwaben, XII Bayern, XIII Thüringen, XIV das Königreich Sachsen, XV Deutsch-Österreich. Jeder dieser Kreise ist in sich besonders organisiert, in Gaue gegliedert und hat an seiner Spitze einen Kreisvertreter. Letztere bilden mit fünf vom Turntag zu wählenden Mitgliedern den Ausschuß der Deutschen Turnerschaft. An der Spitze des letztern stand von 1861 bis 1887 Theodor Georgii (Rechtsanwalt in Eßlingen, geb. 1826 daselbst u. wohlverdient besonders um das schwäbische Turnwesen; vgl. seine „Aufsätze und Gedichte“, hrsg. von J. K. Lion, Hof 1885); ihm folgte A. Maul (s. d.). Geschäftsführer der Deutschen Turnerschaft ist seit 1861 der um die deutsche Turnsache hochverdiente Dr. med. Ferd. Goetz (geb. 1826 zu Leipzig, praktischer Arzt in Lindenau, seit 1887 Abgeordneter zum deutschen Reichstag; vgl. seine „Aufsätze und Gedichte“, Hof 1885). Aus den Abgeordneten der Deutschen Turnerschaft (auf je 1500 Turner einer) werden die in der Regel alle vier Jahre abgehaltenen Turntage gebildet. Die Turnfestordnung enthält insbesondere die Bestimmungen der Wettturnordnung[WS 1] (s. d.). Weiteres über die Organisation der Deutschen Turnerschaft s. Goetz, Handbuch der Deutschen Turnerschaft (3. Ausg., Hof 1888). Das vierte deutsche Turnfest hat 1872 in Bonn stattgefunden, das fünfte 1880 in Frankfurt, das sechste 1885 in Dresden, die letztern beiden von 9800, resp. 18,000 Turnern besucht und große Fortschritte in den vorgeführten Leistungen aufweisend. Das siebente, 1889 in München abgehaltene war von 21,000 Turnern besucht.

Leibesübungen außerhalb Deutschlands.

Die Wiederbelebung der Gymnastik in der deutschen T. hat auch den meisten Kulturländern außerhalb Deutschlands zu geregelter Pflege der Leibesübungen die Anregung und vielfach auch den Stoff gegeben; insbesondere sind der Aufschwung des deutschen Vereins- und Schulturnens seit dem Jahr 1859 sowie Deutschlands Kriegserfolge in den darauf folgenden Jahren, vielfach auch die Gründung von Turnvereinen durch Deutsche im Ausland die Veranlassung gewesen, sich in Förderung und Betrieb von Leibesübungen mehr oder minder eng an das Vorbild des deutschen Turnens anzuschließen. Schon die Wirksamkeit von Guts Muths hat im Ausland kaum weniger Nachfolge gefunden als bei uns. So haben vor allem in Dänemark die Leibesübungen nach seinem Vorbild durch F. Nachtegall früh Eingang und seitdem in Schule und Heer, weniger im Vereinsturnen, Verbreitung gefunden. Schon 1827 wurde hier Turnunterricht für alle Knabenschulen vorgeschrieben. Auf in Dänemark erhaltenen Anregungen fußend, hat in Schweden P. H. Ling (s. d.) ein eignes System der Gymnastik aufgestellt, das bei uns so genannte schwedische Turnen, aber im Gegensatz zu der aus lebendiger Praxis herausgewachsenen deutschen T. auf Grund von dürren, scheinwissenschaftlichen anatomischen und physiologischen Spekulationen. Dasselbe hat, abgesehen von seiner Verwendung als Heilgymnastik (s. d.), außer Schweden vorübergehend durch Rothstein (s. d. und oben) in Preußen Eingang gefunden. An den Schulen Schwedens, wenigstens den höhern, werden jetzt die Leibesübungen, und zwar nicht mehr in der vollen Einseitigkeit des Lingschen Systems, in ausreichenderer Zeit gepflegt als in Deutschland; auch werden sie hier und in Norwegen durch Vereine (in Schweden i. J. 1885: 46 mit 2500 Mitgliedern) betrieben. Am unmittelbarsten ist mit der Entwickelung der deutschen T. außer den Erziehungsanstalten der deutschen Ostseeprovinzen Rußlands das Turnwesen Österreichs und der Schweiz Hand in Hand gegangen. In den deutschen Ländern Österreichs, vor allen in Siebenbürgen, wurde das Turnen nach den Befreiungskriegen vereinzelt in Schulen und Vereinen gepflegt; das Mißtrauen der Behörden wich auch hier nach 1848 allmählich einer wohlwollenden Duldung, bis der Turnunterricht seit 1869 an allen Knabenvolksschulen, fast allgemein an den Realanstalten und zumeist an den Gymnasien gesetzlich eingeführt wurde. Dies war auch hier wesentlich mit eine Folge großer Verbreitung und rühriger Thätigkeit der Turnvereine seit 1860. Letztere blieben mit der deutschen Turnerschaft (als deren XV. Kreis, s. oben) dauernd [946] in Verbindung und beteiligen sich an ihren Festen. Auch ohne solche Gemeinsamkeit der Vereinsorganisation hat das Turnwesen der Schweiz schon durch Wirken von Männern wie Spieß und Maul (s. d.) enge Fühlung mit dem deutschen behalten. Auch hier liegen die Keime der spätern Entwickelung, abgesehen von der Thätigkeit des durch Guts Muths angeregten Offiziers Phokion Heinrich Clias (Käslin; geb. 1782, gest. 1854), hauptsächlich im Vereinsturnen, besonders an den Hochschulen deutschen Stammes, und schon 1832 wurde ein Eidgenössischer Turnverein gebildet, der in „Sektionen“ (1886: 122 mit 6000 Mitgliedern; außerdem noch viele freie Vereine) zerfällt und seit 1873 alle zwei Jahre (früher alljährlich) das eidgenössische Turnfest feiert, in dessen Wettkämpfe schon 1855 auch die in der Schweiz seit langem volkstümlichen Künste des Schwingens, Ringens (s. d.), Steinstoßens u. a. mit aufgenommen wurden (vgl. Niggeler, Geschichte des Eidgenössischen Turnvereins, Bern 1882). Auch das Schulturnen der Schweiz ist infolge des Wirkens trefflicher Turnlehrer, wie Iselin, Niggeler, Jenny, dem deutschen entsprechend fortgeschritten. In einigen größern Städten gehen neben ihm noch die auf unmittelbare militärische Jugenderziehung abzielenden sogen. Kadettenkorps her (s. Jugendwehren); auf dem Land ist es vor allem um der Vorbildung für das Milizsystem willen nach der „Turnschule für den militärischen Vorunterricht“ zur Einführung gekommen. Aus der Schweiz wurde die T., und zwar wesentlich auf Grund der Betriebsweise von Spieß, nach Italien, wo schon vorher Guts Muthssche Anregungen gefruchtet hatten, verpflanzt durch Rud. Obermann, der (geb. 1812 zu Zürich, gest. 1869 in Turin) 1833 nach Turin berufen wurde zur Einführung der Gymnastik in das sardinische Heer, doch auch den Anstoß gab zur Verbreitung desselben in Schulen und Vereinen, hierbei insbesondere unterstützt durch den Grafen Ernesto Ricardi di Netro. 1883 gab es 143 zu mehreren Bünden vereinigte Vereine mit 17,000 Mitgliedern. Für die höhern Schulen wurde das Turnen 1861 als freies, für fast alle Schulen 1878 als Pflichtfach erklärt und kommt allmählich zur Durchführung. Seit 1863 gibt es eine Turnlehrerbildungsanstalt in Turin, seit 1888 in Rom. In den Gymnasien Griechenlands ist teils gymnastischer, teils militärischer Unterricht durch Verfügung von 1862 und Gesetz von 1883 zur Einführung gekommen und in Athen eine Turnlehrerbildungsanstalt errichtet worden. In Erneuerung der Olympischen Spiele werden hier auch volkstümliche Wettkämpfe abgehalten. In Belgien und Holland sind nach schwachen Anfängen in den 30er Jahren seit 1860 sowohl zahlreiche Vereine entstanden mit einer der deutschen T. entlehnten Betriebsweise als auch ein entsprechendes Schulturnen. In Belgien umfaßte die Fédération belge de gymnastique 1888: 70 Vereine mit etwa 7000 Angehörigen. In Holland gab es in demselben Jahr 230 Vereine, von denen 120 dem Nederlandsch Gymnastik Verbond angehörten. Hier sind auch Vereine für allerlei Sport stark vertreten. Letzterer beherrscht in England noch so sehr das Feld mit der Pflege von angewandten Fertigkeiten, wie Rudern, Boxen, und von Ballspielen, daß die allgemeine Gymnastik hier außer dem Heer, in das sie schon 1822–28 Clias (s. oben) einführte, und den von Deutschen gegründeten Vereinen noch nicht viel Boden gewonnen hat. Auch Sport und Spiele werden fast nur von der wohlhabenden Minderheit gepflegt. In Frankreich haben sich gymnastische Übungen, besonders durch die Thätigkeit des von Pestalozzi und Guts Muths angeregten Spaniers Amoros (1770–1847), in erster Linie in der Armee Eingang verschafft und sind auch seitdem hauptsächlich als ein wichtiger Zweig der militärischen Vorbildung in und außer dem Heer gepflegt worden. Einen noch engern Anschluß der leiblichen Jugendbildung an das Heerwesen veranlaßten die Erfahrungen von 1870/71 in Form der Schülerbataillone, die aber auch hier mehr und mehr Gegner finden und einer allgemeinen Gymnastik weichen. Seit 1880 ist der gymnastische Unterricht an sämtlichen Knabenschulen gesetzlich zur Pflicht gemacht. Die Militärturnschule zu Joinville le Pont dient auch zur Ausbildung für Schulturnlehrer. Die von der deutschen T. eingeführten Geräte, wie Reck und Barren, sind auch hier in Benutzung. Vereine entstanden in geringerer Zahl in den 60er Jahren, in größerer seit 1871, so daß im J. 1886 gegen 600 Vereine (mit 20,000 Mitgliedern) bestanden, von denen die Union fédérale des sociétés de gymnastique de France 171 umfaßte. Die Gründung von Turnvereinen in überseeischen Ländern ist in der Regel durch Deutsche erfolgt. Am ausgebreitetsten ist das Turnvereinswesen der Vereinigten Staaten, wohin unter andern Schüler Jahns, wie Franz Lieber und Karl Follen (s. d.), die T. übertrugen, und wo der Nordamerikanische Turnerbund 1888 über 250 Vereine mit 30,000 Mitgliedern umfaßte und zeitweise ein Turnlehrerseminar, zuletzt in Milwaukee unter Brosius, bestand.

Turngeräte, Übungsgebiet.

Während die hellenische Gymnastik (s. d.) zu ihren Übungen außer dem Diskus, dem Wurfspeer, den Halteren und Bällen fast kein Gerät brauchte, sehen wir die neuere Kunst der Leibesübung von vornherein darauf bedacht, für ihre Übungen, die planmäßig den Leib schulen, nicht nur im Wettkampf gipfeln und auch in geschlossenen Räumen betrieben werden sollen, Geräte in ihren Dienst zu nehmen oder zu erfinden. So wurde das Springen und Schwingen (Voltigieren, s. d.) am künstlichen Pferd (s. d.) schon von Basedow (im Anschluß an den Reitunterricht der Zöglinge) und dann auch von Guts Muths und Jahn aus den Fechtböden und Reitschulen herübergenommen, Basedow verwendete außerdem den Schwebebalken (Balancierbalken), einen Springel zur Messung von Hochsprüngen, Stäbe zum Stangenspringen, Sandsäcke zur Belastung u. a. Bei Guts Muths finden wir auch Vorrichtungen zu Weit- und Tiefsprung und ferner vor allem ein Gerüst mit Mastbaum, Leitern, Strickleitern, Kletterstangen, einen schräg ansteigenden Querbalken und Seile zum Ziehen, Schwingen und Springen u. a. Die der vielseitigsten Verwendung fähigen Geräte Reck und Barren und außerdem den Pfahl zum Gerwerfen fügte Jahn hinzu. Bei Clias findet sich um dieselbe Zeit (1816) auch der Triangel (Trapez, Schaukelreck) und ein Klettertau mit Sprossen in großen Abständen. Bei Eiselen begegnen uns zuerst der Bock (Springbock), die sogen. Streckschaukel (die sogen. römischen Ringe), der Rundlauf, das Sturmlaufbrett, die wagerechte Leiter, die Wippe und die wohl schon von Jahn eingeführten Hanteln. Den schon von Eiselen benutzten kurzen Stab (Windestab) verwendete als Eisenstab (Wurfstab) besonders Jäger. Lion verwendete zuerst den kurzen und den dreiholmigen Barren und Gerätverbindungen, wie das Kreuzreck, das Doppelreck (mit zwei Stangen untereinander), den hohen Barren (mit zwei Stangen nebeneinander). Die Militärgymnastik führte an Stelle des Recks den Querbaum ein, an [947] Stelle des Pferdes den Kasten (s. Tisch), der seit 1881 wieder abgeschafft ist, und die Hindernisbahn mit dem Eskaladiergerüst. Über den seit Jahn vielfach vervollkommten Bau der Turngeräte und die Einrichtung von Turnräumen vgl. Lion, Werkzeichnungen von Turngeräten (3. Aufl., Hof 1883); Euler und Kluge, Turngeräte und Turneinrichtungen (Berl. 1872); W. Angerstein, Anleitung zur Einrichtung von Turnanstalten (das. 1863).

Das Übungsgebiet der T. umfaßt Übungen ohne Geräte und Übungen mit oder an solchen. Die erstern beschränken sich auf die Ausnutzung der Bewegungsfähigkeit des Leibes in sich oder mit andern, im erstern Fall als sogen. Freiübungen (s. d.) die einfachen oder miteinander verbundenen Gliederbewegungen im Stehen, Gehen, Laufen, Hüpfen und Springen umfassend, im letztern Fall Ordnungsübungen (s. d.) genannt, welche die Aufstellungen, Gliederungen und Bewegungen einer Mehrzahl von Übenden lehren und sich mit den militärischen (taktischen) Formen des Exerzierens oder denen des Tanzes berühren. Beide, insbesondere die letztern, können ihres rhythmischen Gehalts wegen mit Gesang oder Musikbegleitung in Verbindung treten. Hier reihen sich dann die Bewegungsspiele an, welche die T. mit in ihren Bereich gezogen hat (vgl. Spiel), ferner das Ringen (s. d.) und Boxen und auch die Turnfahrten genannten Dauermärsche. Die Gerätübungen sind einmal solche, bei denen das Gerät selbst bewegt wird, also die Übungen mit Hanteln (s. d.), Stäben (s. Stabübungen), Keulen (s. d.) u. dgl., das Ziehen und Schieben, das Werfen von Kugeln, Steinen, Stangen (Gerwerfen), Scheiben (vgl. Diskos) und Bällen, endlich verschiedene Arten des Fechtens. Die andern Gerätübungen gliedern sich nach der Art der an ihnen vollzogenen Leibesbewegungen in die sogen. Turnarten des Schwebens auf beschränkter (Schwebepfähle, Schwebebaum, Kante) oder beweglicher Unterlage (z. B. Stelzen, Schaukeldiele), des Springens (Springbrett, Schwungbrett, Sturmspringel, Springen im Reifen und im Seil), des Stützens auf den obern Gliedern (besonders am Barren, Reck und Pferd), des Hangens (Leiter, Ringe, Rundlauf, Reck). Aus abwechselndem Hangen der obern und Stemmen der untern Glieder bildet sich das Klettern (Kletterstange, -Mast und -Seil); das mit vorübergehendem Stützen verbundene Springen ergibt die Übungen des gemischten Sprunges (besonders am Bock, Pferd, Tisch, doch auch am Reck und Barren, dazu auch das Stangenspringen). Die Verbindung von Hangen und Stützen erlaubt am ausgiebigsten das Reck (vgl. Schaukelgeräte).

Daß das reiche Gebiet der Turnübungen auch eine angemessene sprachliche Bezeichnung gefunden hat, ist wesentlich das Verdienst F. L. Jahns, den sowohl in Aufnahme von im Volksmund üblichen Worten für Übungen und Geräte als in freier Gestaltung von neuen Bezeichnungen ein sicherer Blick geleitet hat. Neuerdings hat sich um die Turnsprache besonders Waßmannsdorff (s. d.) Verdienste erworben. – Die Übungsauswahl und Betriebsweise richten sich natürlich sowohl nach dem Zweck, der die Übenden auf den Turnplatz geführt hat, als nach dem Alter und Geschlecht derselben. Daher beim Turnen der Soldaten außer den Rücksichten auf die besondere Verwendung der einzelnen Waffengattungen (Übungen der Hindernisbahn) eine beschränktere Auswahl von den der großen Masse erreichbaren Übungen in der straffen Übungsform militärischer Disziplin; beim Vereinsturnen, der freiwilligen Beteiligung und der Vereinigung der verschiedensten Altersklassen entsprechend, ein Zurücktreten der lehrhaften Form, größerer Einfluß der Bewegungs- und Leistungslust auf Auswahl und Ausführung der Übungen, also eine Bevorzugung des Kunstturnens an Geräten; dabei größere Freiheit sowohl für das Vortreten von Stammeseigentümlichkeiten als für individuelle Ausbildung. Das Schulturnen zeigt je nach der Art der Schule und dem Alter und der Menge der Übenden bald eine mehr spielartige Form des Betriebs, bald eine Annäherung an die straffe militärische Drillung, wie besonders in der Form der Gemeinübungen mit und ohne Geräte, oder auch an die freiere Betriebsart der Vereine in Riegen unter Schülern als Vorturnern. Doch weicht die letztere Form wegen der für sie zu oft mangelnden Vorbedingungen mehr und mehr dem Turnen der geschlossenen Schulklassen unter einzelnen Lehrern. Speziell das Mädchenturnen bevorzugt unter Beschränkung der Übungen an Geräten die tanzähnlichen Hüpfarten und reigenartigen Ordnungsübungen. (Über Zimmergymnastik und Heilgymnastik s. d.) In allen diesen Betriebsformen hat das frühere meist Übungen verschiedenster Art regellos durcheinander werfende Verfahren in den letzten Jahrzehnten mehr und mehr dem auf der systematischen Gliederung des Turnstoffs fußenden, Gleichartiges zusammenstellenden, schwierigere Übungen stufenweise aus ihren Elementen entwickelnden sogen. Schuleturnen, bez. Gruppenturnen Platz gemacht.

[Litteratur.] Aus der schon stark angewachsenen Litteratur des Turnwesens sind außer den oben und in den betreffenden Artikeln aufgeführten Werken von Spieß, Waßmannsdorff, Jäger, Lion, Euler und Maul noch zu erwähnen: a) Allgemeines: G. Hirth, Das gesamte Turnwesen (Leipz. 1865, eine Sammlung von 133 Aufsätzen verschiedener Verfasser mit geschichtlicher Einleitung); F. A. Lange, Die Leibesübungen (Gotha 1863); Ed. Angerstein, Theoretisches Handbuch für Turner (Halle 1870); b) für die Übungslehre: A. Ravenstein, Volksturnbuch (3. Aufl., Frankf. 1876); Kloss, Katechismus der T. (6. Aufl., Leipz. 1887); Puritz, Merkbüchlein für Vorturner (8. Aufl., Hannov. 1887; auch ins Französische, Englische und Holländische übersetzt); Derselbe, Handbüchlein turnerischer Ordnungs-, Frei-, Hantel- und Stabübungen (2. Aufl., Hof 1887); c) für das Schulturnen: Niggeler, Turnschule für Knaben und Mädchen (2 Tle.; 8. u. 5. Aufl., Zürich 1888 und 1877); Kloss, Die weibliche T. (4. Aufl., Leipz. 1889); F. Marx, Leitfaden für den Turnunterricht in Volksschulen (4. Aufl., Bensh. 1886); Derselbe, Das Mädchenturnen in der Schule (das. 1889); Hausmann, Das Turnen in der Volksschule (4. Aufl., Weim. 1882); Stöckl, Das Schulturnen (Graz 1885); Schettler, Der Turnunterricht in gemischten Volksschulklassen (Hof 1881); Schurig, Hilfsbuch für das Gerätturnen in der Volksschule (das. 1883); Schettler, Turnschule für Mädchen (2 Tle.; 6. u. 5. Aufl., Plauen 1887); d) Geschichtliches: Iselin, Geschichte der Leibesübungen (Leipz. 1886); Brendicke, Grundriß zur Geschichte der Leibesübungen (Köthen 1882); e) Verschiedenes: Kohlrausch, Physik des Turnens (Hof 1881); Bach und Fleischmann, Wanderungen, Turnfahrten und Schülerreisen (2. Aufl., Leipz. 1885–87, 2 Tle.); f) Zeitschriften: „Deutsche Turnzeitung“ (Leipz., seit 1856, Organ der deutschen Turnerschaft); „Jahrbücher der deutschen T.“ (hrsg. von Kloss, Dresd., seit 1855; neue Folge hrsg. von Bier, Leipz., seit 1882); „Monatsschrift für das Turnwesen“ (hrsg. von Euler [948] und Eckler, Berl., seit 1883); g) Litteraturnachweis: Lentz, Zusammenstellung von Schriften über Leibesübungen (4. Aufl., das. 1881); „Bücherverzeichnis des Archivs der deutschen Turnerschaft“ (2. Aufl., Leipz. 1885); Brendicke, Verzeichnis einer Turnvereinsbibliothek (Eisl. 1885).

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Siehe unter Wettturnen.