Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Gymnástik“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 7 (1887), Seite 963964
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Gymnástik. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 7, Seite 963–964. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Gymn%C3%A1stik (Version vom 25.03.2023)

[963] Gymnástik (griech., von gymnázein, „üben, turnen“), die Kunst der Leibesübungen, so genannt, weil derartige Übungen bei den Griechen nackt (gymnós) angestellt wurden. Das Wort bezeichnet nun erstens das wissenschaftlich begründete und allseitig ausgebildete System der Pflege, Stärkung und Übung der Körperkräfte, zweitens auch die angestellte Übung selbst. Indem die G. ihren Zweck auf die allgemeine und gleichmäßige Ausbildung des Körpers richtet, unterscheidet sie sich von der Athletik (s. d.), welche den Körper durch einseitige Übungen zu einzelnen hervorragenden Leistungen geschickt machen will, und von der Agonistik (s. d.), welche bei ihren Übungen vorzugsweise das Auftreten in Wettkämpfen im Auge hat.

Der Ruhm, die G. zuerst als Kunst aufgefaßt zu haben, welche nach bestimmten Regeln den ganzen Körper zur höchsten Vollkommenheit bilden will, gebührt den Griechen; die Leibesübungen früherer Völker, namentlich der Perser, waren nur auf die Aneignung bestimmter Fertigkeiten gerichtet. Die Griechen aber, welche in der Kalokagathie (s. d.), der Vereinigung einer edlen Seele mit einem schönen Körper, das Ideal des Menschen sahen, erachteten die Bildung des Körpers für nicht minder wichtig als die der Seele und hielten es zu Homers Zeiten für beschimpfend, in der G. nicht erfahren zu sein. Später wurde die G., deren Schutzgötter Herakles und Hermes waren, zur Staatseinrichtung gemacht und ihr Betrieb durch genaue Gesetze geregelt; dem freien Bürger war sie die notwendige Vorschule für den Kriegsdienst, zu dem er verpflichtet war, dem Sklaven verboten. In Sparta wurden sogar die Mädchen zu gymnastischen Übungen und demgemäß auch zu Wettkämpfen herangezogen. Aber nicht bloß einen wichtigen (in Sparta sogar den wichtigsten) Teil in der Erziehung des jungen Geschlechts bildete die G., auch die freien und in pekuniärer Hinsicht unabhängigen Männer übten sich bis in das Alter in den Turnschulen, erhielten sich dadurch die Rüstigkeit des Körpers und waren sich ihres Vorzugs vor dem über seine Arbeit gebückten Handwerksmann wohl bewußt. Auch darf der belebende Einfluß nicht übersehen werden, welchen die plastische Kunst der Griechen aus der G. empfangen hat. In den Ringschulen und Gymnasien boten sich, durch keine Kleidung verhüllt, die schönsten Körper in den verschiedensten Stellungen den Künstlern zum Studium dar; jedes Glied, jeder Muskel konnten da in ihrer Kraftäußerung studiert werden, so daß ohne Zweifel außer der den Griechen eignen Begabung für die Kunst und dem Institut der Sklaverei nichts so viel zur Blüte der griechischen Plastik beigetragen hat wie die öffentlich getriebene G. Dieselbe war der heutigen Turnkunst verwandt und doch wieder weit von ihr verschieden. Der feste Standort, auf dem bei ihr alle Übungen stattfanden[WS 1] war der Erdboden, und sie bediente sich dabei so gut wie keines Geräts; die moderne Turnkunst hat, entsprechend den Anforderungen des Lebens, welches bei den gewaltigen Hochbauten oft auch auf hohen Gerüsten sichere Bewegungen verlangt, die mannigfachsten Geräte in die Übungssäle eingeführt. Die einfachen und doch in ihrer weisen Verbindung alle Glieder des Körpers gleichmäßig ausbildenden Übungen der Griechen waren: der Hoch-, Tief- und Weitsprung, letzterer mit Halteren (s. d.) ausgeführt, der Speerwurf, der Schnelllauf (s. Dromos), das Diskoswerfen (s. Diskos), der Ringkampf (s. Pale). Diese fünf Übungen faßte man zusammen unter dem Namen des Pentathlon; dieselben fanden für die Knaben in der Palästra (s. d.) statt, als Bahn für das Laufen diente der Dromos; Jünglinge und Männer besuchten das Palästra und Dromos vereinigende Gymnasium (s. d.). Von öffentlichen Lehrern der G. in Griechenland wissen wir nichts, vielmehr übten sich die Knaben in den Palästren unter den Augen und nach den Weisungen der zuschauenden Bürger; vom Staat angestellte Gymnasiarchen (s. d.), auch Pädonomen und Kosmeten genannt, führten die Oberaufsicht. Häufig aber auch vereinigte ein Privatlehrer (Pädotribe) die Kinder mehrerer Eltern und lehrte das bisher nur planlos Geübte in methodischer Folge. Eine weitere Ausbildung gaben noch die Gymnasten (s. d.). Die Übungen geschahen, wie schon erwähnt ist, nackt. Vor denselben wurde der Körper mit Öl eingerieben, um die Glieder elastisch zu machen und vor zu starkem Schwitzen zu bewahren. Vor dem Ringen dagegen bestäubte man sich wieder mit Sand, um dem Gegner das Festhalten zu erleichtern. Nach den Übungen gaben große Bassins und Wannen Gelegenheit zur Reinigung des Körpers in warmen und kalten Bädern, wobei man sich, um die Haut von Öl, Schweiß und Sand zu befreien, des Striegels bediente. Nach dem Bad wurde eine Einreibung des Körpers von besonders sachverständigen Männern, den Aleipten (s. d.), vorgenommen und dabei der Körper, ähnlich wie es heute noch in türkischen Bädern geschieht, gewissen Reibungen und Reckungen unterworfen, um die Gesundheit zu kräftigen. Wenn auch die Teile des Pentathlon die Hauptübungen in den griechischen Palästren und Gymnasien bildeten, so waren sie doch nicht die einzigen. Bei dem Baden wurde das Schwimmen fleißig geübt und zu großer Vollkommenheit gebracht, in mehreren Staaten kam noch das Bogenschießen und Schleudern hinzu; vor allem aber ergötzte seit den Zeiten Homers das Ballspiel in den verschiedensten Arten jung und alt. Über den hier zu erwähnenden Waffentanz der Alten s. Pyrrhiche. Nicht sowohl zur G. als in das Gebiet der Athletik (s. d.) gehörten die Übungen im Faustkampf (s. Pygme) und im Pankration (s. d.), obwohl sie später, als die Einsicht in das wahre Wesen der G. immer mehr verschwand, mit Ausnahme von Sparta allgemeine Aufnahme in die Gymnasien fanden. Durchaus aber wurde zur G. gerechnet die allerdings nur den reichen Jünglingen und Männern zugängliche Kunst des Wagenführens und Wettreitens. Für diese Übungen war der Hippodromos bestimmt. Schon im Homer lesen wir, wie der greise Nestor seinem Sohn Antilochos Ratschläge gibt, den mit zwei Rossen bespannten zweiräderigen Streitwagen glücklich um die Zielsäule der Rennbahn zu lenken; später fuhr man vierspännig. Wenn auch diese Übung nebst dem erst in nachhomerischer Zeit aufgekommenen Wettreiten [964] für die Entwickelung der Kräfte nicht von großem Einfluß waren, so zeigten sie sich doch außerordentlich geeignet, einen sichern Blick und Geistesgegenwart zu verleihen.

Mit der Auffassung, daß die G. die Ausbildung des Körpers zum einzigen Zweck habe, stand das Wettkämpfen an den Festen der Götter nicht in Widerspruch. Galt es doch hier, zu zeigen, wie weit man es in allen Künsten, die sich für einen freien Mann schickten, gebracht habe. Näheres hierüber s. die Artikel über die Olympischen, Pythischen und Isthmischen Spiele. Hier nur noch so viel, daß schon 720 v. Chr. bei den Olympischen Spielen der Schurz, mit welchem die Kämpfer bis dahin noch bekleidet waren, abgeschafft wurde, und daß die gymnastischen Übungen nicht einzeln zum Wettbewerb freigegeben wurden, sondern nur in ihrer Vereinigung zum Pentathlon. – Das Sinken der edlen G. geschah gleichzeitig mit dem Verfall der politischen Größe Griechenlands, also etwa seit dem Ende des Peloponnesischen Kriegs: mit der Freude an den politischen Verhältnissen sank auch das Interesse an dieser hervorragend politischen Institution; eine rohe Athletik gewann in den Gymnasien wie auf den Festspielen immer mehr die Oberhand.

Nach Rom kam die G. mit der Unterwerfung Griechenlands 146 v. Chr., vielfach geübt von den jungen Römern, gering geschätzt und geradezu gemißbilligt von den Männern der alten Zeit. Denn dem alten Römer, welchem es weniger um Ausbildung der Körperschönheit als um Kriegstüchtigkeit zu thun war, und der im Krieg nicht durch stürmischen Angriff den Feind zum Weichen zu bringen, sondern durch lange Märsche zu ermüden und dann im harten Kampf zu schlagen pflegte, schien die rauhe Feldarbeit nebst Reiten und Schwimmen hierzu der bessere Weg als die Übungen der Palästra. Dergleichen erschien ihm vielmehr als Verweichlichung. Allmählich jedoch fand die G. auch bei den Römern Aufnahme, ohne indes dieselbe Bedeutung für das Volksleben zu erhalten wie in Griechenland. Die Stelle der gymnischen Wettkämpfe vertraten bei ihnen Gladiatoren- und circensische Spiele (s. d.).

Auch die altgermanischen Völker pflegten die G. eifrig, wenn auch in kunstloserer Weise. Bei Cäsar und Tacitus lesen wir von den außerordentlichen Leistungen der germanischen Jünglinge im Laufen und Springen; an den Mähnen oder Schweifen der Rosse sich anhaltend und nach den Umständen sich auf- und abschwingend, erschienen und verschwanden sie mit der Schnelligkeit Berittener, und ein Teutoboch schwang sich über mehrere Rosse hinweg. Tacitus erwähnt den Waffentanz nackter Jünglinge zwischen den scharfen Spitzen der Schwerter und Lanzen. Aus späterer Zeit ist bemerkenswert der Wettkampf Gunthers und Brunhildes im 7. Gesang des Nibelungenliedes, welcher außer dem Speerkampf auch den Weitwurf mit einem Stein und den Weitsprung umfaßt. Ein Wettlauf zwischen Siegfried und Hagen gab Gelegenheit zur Ermordung des erstern. Eine weit glänzendere Periode der germanischen G. beginnt in der christlich-germanischen Zeit, nachdem auf den Trümmern des Römerreichs neue Staaten und Gemeinwesen erstanden waren. Der deutsche König Heinrich I. war der Stifter jener ritterlichen Kampfspiele, der Turniere, die, zugleich ein Erzeugnis und ein wirksames Beförderungsmittel ritterlicher Mannhaftigkeit und Tüchtigkeit, im christlichen Mittelalter eine ähnliche Stellung und Bedeutung beanspruchen wie die gymnastischen Spiele im hellenischen Altertum (s. Turnier). Als das Ritterwesen allmählich in Verfall geriet, traten minder ernste Wettspiele, die sogen. Karusselle, an ihre Stelle, die aber nicht sowohl kriegerische Kämpfe als Reiterkünste zur Anschauung bringen sollten. Obwohl fast ausschließlich der bevorzugte Adel und das Patriziat der bedeutendern Reichsstädte an den eben genannten Spielen sich beteiligten, so entbehrten doch auch die niedern Stände, Kleinbürger und Bauern, der mit gymnastischen Leistungen (wie Ringen, Laufen, Werfen, Klettern etc.) verknüpften Festlichkeiten nicht. Nachdem aber der Gebrauch des Schießpulvers die Kriegführung ganz umgestaltet hatte, kamen jene ritterlich-gymnastischen Übungen und Spiele, die ihre Bedeutung als Vorbereitungen zum ernsten Krieg und als Nachahmungen desselben verloren hatten, mehr und mehr außer Gebrauch. Nur einzelne Überreste der alten ritterlichen G. erhielten sich in manchen Kreisen und wurden teils durch die Einwirkung der Mode, teils zu Wahrung der persönlichen Ehre und Tüchtigkeit kunstgerecht ausgebildet, wie die Fechtkunst (s. d.). Andres bestand deshalb fort, weil es, ganz abgesehen vom Kampf, entweder sonstigen Bedürfnissen oder auch dem Vergnügen diente, so namentlich das Reiten (aus dessen Vorübungen sich das besonders auf den Universitäten und Kriegsschulen geübte Voltigieren, d. h. Springen an einem nachgebildeten Pferd oder auch an einem Tisch, entwickelte), das Tanzen, Schlittschuhlaufen, Schwimmen, Rudern, Stelzengehen, das Ballspiel etc. Noch andres, so z. B. das Vogel- und Scheibenschießen mit Büchse und Armbrust, das Sackhüpfen, das Mastklettern, das Faustkämpfen auf beweglichen Balken, das Wettlaufen und Wettrennen, das Werfen in die Weite und nach einem Ziel etc., hat sich im Anschluß an Volksfeste zum Teil bis auf den heutigen Tag erhalten.

Die Geschichte der Wiederbelebung der G. als einer allseitigen, systematischen, weder von zufälliger Gelegenheit abhängigen, noch im Dienst einzelner körperlicher Fähigkeiten stehenden, noch nur einzelnen Kreisen zugänglichen Leibesbildung ist die Geschichte der G. in ihrer deutsch-nationalen Entwickelung, der Turnkunst (s. d.). Vgl. auch Heilgymnastik und Zimmergymnastik. Aus der zahlreichen auf G. und Verwandtes sich beziehenden Litteratur möge hier erwähnt werden: Krause, Die G. und Agonistik der Hellenen (Leipz. 1840–41, 2 Bde.); Jäger, Die G. der Hellenen (Eßling. 1857; neue Bearbeitung, Stuttg. 1881); Fr. Jacobs, Vermischte Schriften, Bd. 3 und 8 (Leipz. 1823–44); Pinder, Über den Faustkampf der Hellenen (Berl. 1867); K. F. Hermann, Lehrbuch der griechischen Antiquitäten (neue Bearbeitung von Blümner, Bd. 4, Freiburg 1882); Bintz, Die G. der Hellenen (Gütersloh 1877, mit ausführlichem Nachweis der Litteratur).

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: stattfandene