Textdaten
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Autor: Carus Sterne
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Titel: In der Bildergalerie
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aus: Die Gartenlaube, Heft 21, 24, S. 340–342, 386–388
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1874
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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In der Bildergalerie.
1. Wie wir die Bilder ansehen.


In einem illustrirten Familienblatte, welches nicht blos durch den todten Buchstaben, sondern auch durch das lebendige Bild auf den Geist zu wirken strebt und häufig gute Holzschnittcopien berühmter Gemälde veröffentlicht, sind ein paar Worte über die schwierige Kunst, Bilder zu betrachten, gewiß nicht am unrechten Orte. Es darf als bekannt vorausgesetzt werden, daß zum Sehen unendlich viel mehr gehört, als das Oeffnen der Wimpern, daß diese Sinnesthätigkeit eine überaus zusammengesetzte, [341] mit Nachdenken und geistigen Schlüssen unbewußt durchwebte und durchsättigte Arbeit ist, daß in Folge dessen nur die wenigsten Menschen mit einiger Vollendung sehen lernen, daß sich ein Mensch mit geübten Augen von einem Naturkinde so unterscheidet, wie ein beschäftigter Redacteur, der ganze Schriftseiten mit zwei Blicken überfliegt, von einem Abcschützen, der stotternd und mit unzähligen Fehlern seine erste Fibelseite herbetet. Es ist schier unglaublich, was Künstler, Naturkundige, Geometer etc. auf einem Ausfluge Alles sehen, wovon ihre harmlosen Begleiter nicht die Spur wahrnehmen.

Ein Kind lernt – wie der angehende Mikroskopiker zum zweiten Male – nur sehr allmählich die Gegenstände, welche sich auf seiner Augennetzhaut verkehrt abbilden, unterscheiden, ihre Gestalt, Größe und gegenseitige Entfernung richtig beurtheilen; Hand und Mund, das heißt das Tastgefühl derselben, sind dabei seine Lehrmeister. Diejenigen, welche sich nicht in jenen Zustand zurückversetzen können, in welchem sie mit der Hand nach dem blanken Schüsselchen griffen, welches, von der Amme Mond genannt, noch lange neben ihrem Kinderwagen hertrabte, müssen deshalb immer wieder an die seitdem oft wiederholte Erfahrung erinnert werden, welche der englische Chirurg Chiselden im Jahre 1729 bei einer Staaroperation machte. Wie es Locke und einige andere Tiefdenker vorhergesagt hatten, gerieth der vierzehnjährige blindgeborne junge Mann bei der Eröffnung des neuen Sinnes, den er niemals vermißt hatte, in die größte Bestürzung und vermochte die Gegenstände nunmehr sehr viel schlechter zu unterscheiden, als vorher mit der bloßen Hand. Er glaubte, daß alle Gegenstände, die er sah, seine Augen berührten und daß die nahen und fernen Dinge alle in derselben Ebene unmittelbar vor ihm aneinander gedrängt stünden, und hielt demgemäß die aus der Ferne heraneilenden Menschen für drohend anwachsende Zwerge.

Erst nach mehrmonatlicher angestrengter Uebung brachte er es so weit, den Gesichtssinn mit der tastenden Hand in Einverständniß zu finden, und ging nicht mehr mit ängstlich vorgestreckten Händen, aus Furcht vor den allerseits in seine Augen dringenden Gestalten, auf der Straße umher. Als man ihn in dieser Zeit wieder einmal vor ein Gemälde führte, in welchem er anfangs nichts als eine bunte Klexerei zu erkennen vermocht hatte, begann er nun mit umgekehrtem Erstaunen die Leinwand zu betasten um sich zu vergewissern; ob das Dargestellte greifbar sei, und frug, da er die Bildfläche eben fand, erschreckt, welcher von beiden Sinnen ihn nun eigentlich betrüge, der neu erschlossene, oder die immer zuverlässig befundene Hand? Einem Kinde, welches das erste Bild zu sehen bekommt, muß es zur Schande des besten Malers unzählige Male wiederholt werden, was es vorstellen soll, und erwachsenen Leuten, die zum ersten Male eine Malerei erblicken, geht es nicht besser. Der Reisende Oldfield versichert wenigstens, daß, als er einem Haufen Australier ihr gut getroffenes und colorirtes Racenportrait vorgeführt habe, der Eine darin ein Schiff, der Andere ein Känguruh etc. erblickt habe; unter zwölf Personen sei keine einzige gewesen, die das Bild in irgend eine Beziehung mit sich selbst gebracht habe.

Aber auch wir hochgebildete Europäer, die wir seit früher Kindheit mit den Bilderbüchern enge Freundschaft schließen und uns an ihren täglichen Umgang gewöhnen, erblicken selten in einem Bilde Alles, was man darin sehen kann, was uns der Künstler in demselben zeigen wollte. Ich denke hierbei nicht an die verborgenen Ideen beziehungsreicher Compositionen, sondern nur an das Jedem erkennbar Ausgedrückte, nicht an die geheime Spiegelkraft jedes echten Kunstwerkes, gerade so viel Geist zurückzustrahlen als hineinschaut, sondern nur an Dasjenige, was auf dem Wege zum Auge verloren geht, wenn wir dem Bilde nicht auf die rechte Weise gegenübertreten. Wollte ich mich aber hierüber ausführlich aussprechen, so würde das ein Buch geben; ich muß mich auf ein paar Hauptpunkte beschränken, zu deren Erörterung wir uns zunächst darüber verständigen müssen, welche Hauptunterschiede zwischen dem Eindrucke einer Malerei oder Zeichnung und der Wirklichkeit bestehen.

Der wichtigste Unterschied liegt nun darin, daß sich von den drei Ausdehnungen der Körperwelt wohl zwei, nämlich die Längen- und Höhenumrisse der Gegenstände, genau wie sie sich dem Sinne darstellen, im Bilde wiedergeben lassen, die dritte Dimension hingegen, die Tiefe, auf dem Wege unmittelbarer Darstellung ebenso wenig, wie im einzelnen Netzhautbilde. Wir wissen aus unserem Umgange mit dem Stereoskope, daß diese die Körperlichkeit und Raumausfüllung erst vollendende Tiefenwahrnehmung nur durch das gleichzeitige Erblicken zweier ungleichen Bilder vermittelst unserer beiden Augen zu Stande kommt, namentlich so weit es die Betrachtung naher Gegenstände betrifft. Wer sich darüber noch nicht klar geworden ist, braucht nur vor sich auf den Tisch in die Verlängerung seiner Nasenspitze einen Würfel zu legen und denselben abwechselnd mit dem rechten und linken Auge zu betrachten. Er wird dabei zwei ganz verschiedene Ansichten erhalten, die nur durch zwei ungleiche Zeichnungen, aber nimmermehr durch eine einzige, noch so geschickte Malerei für beide Augen dargestellt werden können, obwohl wir doch sonst mit diesen immer nur ein einfaches Bild sehen. Erhalten wir nun aber in beiden Augen, wie natürlich beim Betrachten eines Gemäldes, genau gleiche Netzhautbilder, so dient dieser Umstand dem Sinnenapparate geradezu als Beweis, daß er keinen wirklich plastischen Gegenstand, sondern eine flächenhafte Darstellung mit blos zwei Ausdehnungen vor sich habe. Der Maler nimmt zu mancherlei Kunstgriffen seine Zuflucht, um uns die dritte im Einzelbilde nicht darstellbare Ausdehnung vorzutäuschen; er übertreibt zu diesem Zwecke die Schlag- und Eigenschatten der Körper, sowie die Wirkung der Luftperspective; er wirkt durch starke Lichtcontraste oder führt ein geschlossenes Licht ein etc., aber dennoch müssen wir ihm auf halbem Wege entgegenkommen, um den Erfolg zu sichern.

Schon Leonardo da Vinci erörterte es ausführlich in seinen Werken, daß ein Gemälde im glücklichsten Falle die Dinge dieser Welt getreu so zeigen kann, wie sie einem Einäugigen erscheinen, und daß deshalb der Beschauer einäugig sein müsse, um es seinem Inhalte nach zu würdigen. Obwohl die Meisten diese Lehre aus ihrem Unterrichte in der Perspective kennen, es sich auch sofort durch das Ansehen des Würfels in’s Gedächtniß zurückrufen können, sieht man außer Künstlern doch nur sehr wenige Leute, welche beim Betrachten von Galerien oder Bilderwerken jeder Art von dieser Erfahrung Nutzen ziehen. Während wir beim Betrachten eines plastischen Kunstwerkes sowie eines jeden körperlichen Dinges unsere beiden Augen mit höchstem Nutzen und Genuß beschäftigen, müssen wir vor allem Gemalten das eine derselben schließen, weil seine Mitwirkung nicht nur unnütz, sondern hinderlich ist. Man thut gut, wenn man zugleich durch Anwendung der hohlen Hand den Anblick des störenden Rahmens oder der umgebenden Wand beseitigt, die uns sonst zur Unzeit immer wieder erinnern, daß es nur ein Bild ist, was wir betrachten. Es ist nicht mit wenigen Worten auszudrücken, um wieviel vollkommener ein gutes Bild durch diesen einfache Handgriff, wenn man so sagen darf, auf uns wirkt. Eine Landschaft vertieft sich zusehends bis zu ihren verschwindenden Horizontlinien; die Figuren stehen frei in derselben und lösen sich von einander; die Verkürzungen werden verständlich und naturwahr, und es ist fast, als ob man mit zwei Augen in ein Stereoskop blickt. Diese Wirkung kommt vielleicht nicht im ersten Augenblicke. Man muß sich erst, wie der landläufige Ausdruck so richtig sagt, ist den Anblick vertiefen, aber endlich wird man das Bild genießen, wie es der Maler gesehen haben will und selbst sah. Das gilt nicht nur für Oelgemälde, sondern ebenso für jede Flächendarstellung, für Kupferstiche, Holzschnitte, Lithographien und Zeichnungen, sowie namentlich für Photographien. Natürlich sind nicht alle Bilder gleichmäßig geeignet, den Vortheil dieser Betrachtungsweise augenfällig zu zeigen, am besten eignen sich dazu Ansichten mit in einem weiten Raume frei gruppirten Figuren oder Gebäuden etc.[1]

Ist freilich die Zeichnung mangelhaft und das Auge geübt, so erscheinen die Sünden des Zeichners gegen die Perspective dem einäugigen Betrachter um so viel deutlicher und greifbarer, als dem mit beiden Augen Dreinschauenden, der sich dadurch seines [342] genauen Urtheils über die dritte Ausdehnung begeben hat. Letzterer ist in dem umgekehrten Falle einem Bilde gegenüber, wie der Einäugige in der Körperwelt; es ist bekannt, wie schwer der letztere z. B. einen frei aufgehängten Ring mit einem Stocke zu treffen vermag. Es klingt paradox, daß man mit einem Auge mehr und besser sehen soll, als mit zweien, und doch überzeugt man sich leicht von der Richtigkeit dieser aus der Theorie folgenden Thatsache. Im Grunde erreicht man dabei mehr, als man hoffen durfte, denn eigentlich sollte man mit dem einen Auge nur die Gewißheit ausschließen, daß das Dargestellte flächenhaft in einer bestimmten Entfernung vor uns steht, d. h. bis zur Unentschiedenheit kommen, ob, was wir sehen, gemalt oder körperlich sei. Unsere sodann zur letzteren Ansicht neigende Zuversicht entstammt einestheils den oben erwähnten Uebertreibungen der Schattirung und Lichtabstufung im Bilde und dann dem Umstande, daß wir überzeugt sind, auch mit einem Auge die Körperlichkeit der Dinge erkennen zu können. Vielleicht ist dies in Wirklichkeit nur insofern möglich, als sich das Auge immerfort bewegt und sich dabei überführt, daß die körperlichen Gegenstände dadurch eine geringe Verschiedenheit des Ansehens gewinnen; dies trifft nun beim Bilde nicht zu, wird aber durch das Vorerwähnte aufgehoben, und die Willigkeit des Geistes thut das Uebrige. Die erzielte Wirkung ist also eine mehr negative, die Beförderung einer Illusion durch Ausschluß des Gegenbeweises.

Doch kommen einzelne Nebenumstände derselben zu Hülfe, z. B. das Glänzen spiegelnder Glas- und Wasserflächen, polirter Metall- und Holzgegenstände. Wir haben bekanntlich erst durch neuere Untersuchungen von Dove, Oppel, Helmholtz und anderen Physikern erfahren, daß der Glanz eine von dem zweiäugigen Sehen kaum trennbare psychologische Empfindung ist, die durch eine Art Wettstreit der beiden Netzhautbilder entsteht, wenn gleichartige Stellen derselben hier dunkel und dort hell, oder auch nur verschiedenfarbig erscheinen. Werden glänzende oder spiegelnde Flächen, z, B. das Meer im Abendsonnenlichte, oder Säle mit gebohntem Parquet, blanken Möbeln, Krystallgegenständen etc. für das Stereoskop doppelt aufgenommen, so bemerkt man trotz des blendenden Glanzeffectes, welchen das Bild im Apparate ergiebt, bei Betrachtung jeder der beiden Hälften für sich (mit zwei Augen) nichts davon, wohl aber, daß der Spiegelschein bei jeder der beiden Aufnahmen eine etwas andere Stellung einnimmt, so daß sich dunklere und hellere Partien bei der stereoskopischen Betrachtung decken müssen. Die Maler wissen es sehr gut, daß sich Glanzeffecte eigentlich durch ein einfaches Bild nicht darstellen lassen; sie pflegen daher auch wohl glänzende Gegenstände, z. B. Perlen, Goldschmuck etc. pastös, das heißt körperhaft aufzutragen, wodurch in der That der verlangte Effect erzielt werden kann, weil sich nun die gefirnißte Erhöhung selbst als spiegelnder Körper den beiden Augen gegenüber verhält. Dies ist also eine Uebertreibung, die den übertriebenen Eigenschatten etc. entspricht. Wenn aber der blos flächenhafte Glanzfleck der zweiäugigen Betrachtung gegenüber auch nothwendig stumpf und wirkungslos bleiben muß, so kann er dem einzelnen Auge doch einen vollkommen befriedigenden Effect ergeben, da dieses für sich in Folge seiner Beweglichkeit für die Empfindung von Glanzeffecten nicht ungeeignet ist und durch Ausschließung des andern Auges wie oben des Gegenbeweises überhoben wird. Es wird also alle schroffaufgesetzten Lichter eines Gemäldes, das heißt seine „Glanzstellen“, als solche anerkennen und dadurch die Wirkung des Ganzen entsprechend steigern.

An diese erste Bedingung einäugiger Betrachtung knüpft sich eine zweite, minder wichtige, die Aufsuchung des Punktes, auf welchen das Auge des Malers wie des Betrachters gerichtet angenommen werden, den man den Augenpunkt nennt. Bei Figurenbildern und historischen Compositionen nimmt man in der Regel diesen Punkt als auf der Mitte der Horizontlinie liegend an, und es bedarf dann bei der Betrachtung keiner besonderen Bestimmung. Sorgfältige Maler, welche die physikalischen Gesetze des Sehens näher studirten, haben in diese Richtung die Hauptgruppe ihrer Composition verlegt und sie durch schärfere und eingehendere Detailausführung vor den nebensächlicheren Seitengruppen hervorgehoben, gerade wie wir beim Anblicken einer Sache, die uns interessirt, die Umgebung derselben nur undeutlich wahrnehmen.

Bei weitgeöffneten Landschaften und namentlich bei Architekturbildern pflegt der Maler den Augenpunkt hingegen, um einer gewissen ermüdenden Gleichmäßigkeit der Linienführung zu entgehen, aus dem Centrum auf eine Seite des Bildes zu verlegen, und es ist dann zu einem vollkommenen Genusse des Bildes, namentlich wenn es größere Dimensionen besitzt, sehr nothwendig, dorthin das Auge mit der Hohlhand zu richten. Man findet auf derartigen Bildern diesen Punkt sehr leicht, wenn man sich aus der Lehre von der Linearperspective erinnert, daß in diesem Punkte der Horizontlinie alle Linien der Gebäude, Straßen, Felder etc. zusammenlaufen, und sich schneiden müssen, die gleichsam auf der Bilderfläche senkrecht stehend, also die Tiefe des Bildes bis zum Horizonte ausdrückend, gedacht werden. Die übrigen Bestimmungen über den Standpunkt des Betrachtenden etc. sind weniger wesentlich.

Noch muß ich erwähnen, daß man auch durch künstliche Veranstaltungen dahin gelangen kann, einem gewöhnlichen Bilde stereoskopisches Relief zu verleihen. Das einfachste Mittel ist die Verdoppelung der Bilder mit Hülfe eines rechtwinkligen Glasprismas, welches man vor das eine Auge hält, während das andere wie gewöhnlich das Bild betrachtet. Bei photographischen Bildern in Visitenkartenformat ist es noch viel einfacher, zwei derselben, die aber von demselben Negativ copirt sein müssen, nebeneinander in’s Stereoskop zu schieben. Ich habe noch nirgends auf diesen Weg zur Vermehrung des Eindrucks z. B. von Familienportraits hingewiesen gefunden und glaube, daß mancher meiner Leser mir für den Wink dankbar sein wird. Von einer wirklichen Verkörperung, wie bei echten Stereoskopaufnahmen, kann natürlich keine Rede sein, jedenfalls aber ist diese Betrachtungsweise von kleinen Photographien weit der üblichen Glaslinsenvorrichtung mit einfachem Bilde vorzuziehen. Copien nach berühmten Gemälden können bei dieser Betrachtungsweise eine Wirkung geben, die außerordentlich bedeutend ist und sogar die einäugige Betrachtung erheblich übersteigt, weil hierbei zugleich eine Lichtvermehrung und Vergrößerung des Bildes stattfindet, während von der einäugigen Methode Helligkeitsverminderung und scheinbare Verkleinerung unzertrennlich sind. Denen, welche sich an dem Genusse classischer Meisterwerke der Malerei erfreuen, kann ich nur rathen, je zwei gleiche Visitenkartencopien derselben zu Pseudo-Stereoskopbildern vereinigt zu betrachten; die Landschaften Claude Lorrain’s oder Poussin’s, ja selbst Figurenbilder mit perspectivischen Hintergründen, wie z. B. die Madonna im Grünen zu Florenz von Raphael, geben hierbei einen wunderbaren Anblick. Da man das Stück einer solchen Copie heutzutage für ein Spottgeld (einen Silbergroschen) kauft, so läßt sich in dieser Richtung für geringe Kosten leicht eine Sammlung beschaffen, die als Quelle reichen Genusses dient.

[386]
2. Wie die Bilder uns ansehen.


Im vorigen Aufsatze wurde von der absichtlichen Verkörperung der Gemälde gesprochen; im Folgenden wird von einer mehr unfreiwilligen Belebung derselben die Rede sein, welche in Romanen eine große Rolle spielt, und auf gläubige oder abergläubige Gemüther stets eine gewaltige Wirkung ausgeübt hat. Wir meinen zunächst die bekannte Eigenthümlichkeit vieler Portraits, immer „Aug’ in Auge“ mit dem Beschauer zu bleiben, scheinbar also den Augapfel zu bewegen. Dichter und Erzähler aller Art haben die Scenen weit ausgemalt, in denen ein Gemälde die Rolle einer handelnden Person übernimmt. Sie schildern die Seligkeit des Liebenden, wenn die Augen eines Portraits des geliebten Gegenstandes auf ihm ruhen, woran sich freilich auch, wie in der liebenswürdigen „Zimmerreise“ Xavier de Maistre’s, ein Ausbruch der Eifersucht schließen kann, wenn er bemerkt, daß das Portrait mit allen im Zimmer anwesenden Personen auf gleiche Weise liebäugelt. Sie schildern die qualvollen Scenen, welche das ungerathene Kind vor dem Portrait seiner im Grame verstorbenen Mutter, der Mörder vor dem Bilde seines Opfers zu bestehen hat, wie solche Bilder endlich beseitigt oder mit Vorhängen bedeckt werden müssen, da die Geängstigten sich an keiner Stelle des Zimmers sicher fühlen, ja selbst die peinliche Empfindung haben, im Rücken angeschaut zu werden, wenn sie sich umgewendet haben. In den Ritterromanen führen uns ähnliche Schilderungen meistens in die ehrwürdigen Ahnen-Galerien. Den Feigling peinigen dort die zornigen Blicke seiner braven und tapferen Vorfahren; der Erbe des Hauses sieht die Blicke des ganzen Geschlechtes auf sich vereinigt; der Zögernde wird ermuthigt und der Frevelnde erschreckt. In Stunden der Erregung bleibt es nicht bei der bloßen Augenbewegung. Die Ahnen neigen sich zustimmend gegen den würdigen Träger ihres Namens oder blicken drohend und durchbohrend auf den entarteten Nachkommen; sie scheinen aus den Rahmen zu springen, wenn er sich schnell von ihnen abwendet.

Diese zuweilen bis zu einem gespenstigen Eindrucke gesteigerten Gesichtstäuschungen sind in der flächenhaften Fixirung des Bildes begründet. Die Umstände, welche uns über die Richtung der Blicke einer Person belehren, betreffen einestheils die Stellung des Augapfels in der Augenlidspalte, die wir an der Lage der Pupille erkennen, und dann die Richtung des Gesichtes selbst. Nur die Verbindung beider Bedingungen gewährt einen sichern Schluß, wie der berühmte englische Physiker Wollaston in einer lehrreichen Abhandlung über diesen Gegenstand nachgewiesen hat. Er zeigt darin nämlich, daß dasselbe Augenpaar in einer Zeichnung ganz verschiedene Richtungen anzunehmen scheint, sowie auch [387] durchaus unähnliche Gemüthsbewegungen ausdrücken kann, je nachdem man ihm eine untere Gesichtspartie mit veränderter Nasenrichtung und verschiedenem Mundwinkel-Ausdruck anfügt. Wenn bei einem Portrait Augapfel und Gesicht nach ungleichen Richtungen gewendet sind, so ist es oft schwer, mit Bestimmtheit zu erkennen, wohinaus der Blick schweift. Dies ist die Gesichtslage, welche die besseren Portraitmaler und Photographen mit Vorliebe festhalten, um das störende Ueberallhinblicken des Portraits zu vermeiden.

Wenn uns Jemand anschaut, so wendet er nicht nur sein volles Gesicht gegen uns, sondern die Pupille befindet sich auch genau in der Mitte des Auges, so daß auf beiden Seiten der Iris gleich große Ausschnitte des weißen Augapfels sichtbar sind. Verharrt diese Person nun in Blick und Stellung unverändert, während wir vor ihr auf- und niedergehen, so treten wir auf beiden Seiten alsbald aus der Richtung ihres Blickes, während wir uns die Profilansicht verschaffen; der fixirte Blick trifft eben nur einen Punkt oder einen beschränkten Umkreis. Ganz anders bei einem Portrait. Ist dieses einmal en face gemalt, und sind seine Augen auf einen gerade davorstehenden Beobachter gerichtet, so wird Letzterer unverwandt den gleichen Anblick erhalten müssen,

er möge nun das Gemälde seitwärts von rechts oder links, von oben oder unten betrachten. Ja sogar, wenn er sein Auge ganz nahe an die Gemäldewand legt, werden die Augen in dieser sehr schrägen Richtung auf ihn zugewendet bleiben, sobald nur die Umrisse des Bildes recht scharf und die Bildfläche vollkommen eben, zum Beispiel eine Holzplatte ist. Denn wenn durch eine solche Veränderung des Standpunktes auch einzelne Linien verkürzt erscheinen, so geschieht dies doch mit ziemlicher Gleichmäßigkeit und die Pupille behauptet unverändert die Mitte der Augenlidspalte, wie dies der Fall sein muß, wenn der Blick auf uns gerichtet bleiben soll. Da nun eine Person, die uns dergestalt mit ihrem Blicke folgen wollte, sich unserer Bewegung entsprechend herumdrehen oder wenigstens die Augäpfel bewegen müßte, so werden wir, namentlich bei einer hastigen Wendung, die Täuschung erhalten, als führe das Bild wirklich die erforderliche Bewegung aus.

Der Leser wolle sich hiervon an dem Bilde des römischen Hirtenknaben oder Pifferari überzeugen, welcher, mit einigen Veränderungen aus einer größeren Composition von Heinrich Lehmann herauscopirt, deutlich die Augen zu rollen scheint, wenn man das Blatt hin- und herbewegt. Besitzt das Gesicht zugleich einen drohenden Ausdruck oder das Auge eine stechende Schärfe, so kann sich der Eindruck einer solchen Malerei leicht in’s Unheimliche steigern. Ein von Raphael gemaltes Portrait des Cesare Borgia, welches sich im Palaste Borghese in Rom befindet, soll sich durch eine derartige, fast dämonische Wirkung auszeichnen. Alte Madonnen- und Heiligenbilder sind sehr häufig absichtlich so gemalt worden, daß ihr Blick vom Altare auf die Augen aller in der Kirche versammelten Gläubigen gleichmäßig trifft. Der schöne, von Correggio auf Seide gemalte Christuskopf der Berliner Galerie, welcher bei vielen kirchlichen Ceremonien unseres Kaiserhauses als Hausaltar dient, verdankt einen Theil seiner bedeutenden Wirkung der nämlichen Eigenschaft des tiefschwermüthigen Blickes. Nicht selten geben derartige Bilder zu Wundererscheinungen Anlaß, indem die Gläubigen behaupten, eine Augenbewegung ober ein Wimperzucken wahrzunehmen. Noch im Jahre 1850 fand ein Madonnenbild in dem Städtchen Subiaco des ehemaligen Kirchenstaats wegen dieses häufig an ihm beobachteten „Wunders“ vielen Zulauf. Die älteren Portraitmaler haben sich desselben Mittels mit Vorliebe bedient, um den Zügen ihrer Schöpfungen eine von der Darstellung unabhängige Lebendigkeit mitzutheilen.

Wenn einzelne Theile einer solchen Figur in starker Verkürzung dargestellt sind, so kann die scheinbare Bewegung einen gewaltsamen Charakter annehmen. Ein lehrreiches Beispiel hierzu

giebt die Darstellung eines Leichnams auf dem Secirtische, welchen ein belgischer Maler in solcher Verkürzung gemalt hat, daß man das Gesicht mit den starrgeöffneten Augen zwischen den Fußspitzen erblickt. Geht man vor diesem Bilde schnell auf und nieder, so scheint sich der Körper auf dem Tische um seinen Kopf zu drehen; macht man dagegen mit darauf gerichteten Augen einen kleinen Sprung, so scheint der Leichnam sich ebenso plötzlich herumzuwerfen. Diese Wirkung läßt sich am leichtesten erläutern durch die Abbildung eines Schützen, der so dargestellt ist, als ziele er genau nach dem Auge des Beschauers. Alsdann sieht man natürlich von dem ganzen Gewehre fast nichts weiter als die Mündung des Laufes, durch die man würde hindurchsehen können, wenn das Rohr hinten unverschlossen wäre (vergleiche die Abbildung). Ginge die Richtung des Laufes auch nur ein ganz klein wenig neben dem Auge vorbei, so müßte sofort etwas von der Seitenfläche des Gewehres sichtbar werden. Wir können uns deshalb, insbesondre wenn wir das eine Auge schließen, zu einem solchen Gemälde stellen, wie wir wollen, der Schuß wird stets, sogar wenn man das Blatt verkehrt nimmt, unsern Kopf bedrohen, denn wir sehen ja von allen diesen Standpunkten in die Mündung des Rohres hinein. Man hat dieses Kunststück früher mit großer Vorliebe angebracht. So sah man Freund Hein mit einem überallhin treffenden Bogen auf den Klosterwänden dargestellt und den Spruch darunter. Semper ubique suos mors inopina videt! (Immer und überall ersieht der unvermuthete Tod seine Opfer.) Ein Bild dieser Art befindet sich unter anderen in dem Wallraf-Richartz’schen Museum zu Köln, einen Schweizer Scharfschützen darstellend, der mit seinem [388] Stutzen den Beschauer in jeder Ecke des Saales zu treffen weiß. Wenn auf solchen Bildern ein Theil von der obern Fläche des Laufes sichtbar wird, so scheint der Schuß nicht den Kopf, sondern das Herz des Beschauers zu bedrohen.

Auf dem nämlichen Principe beruht eine Reihe ähnlicher Spielereien, unter denen sich der Affe an der Vorhallendecke des japanischen Gartenhauses in Sanssouci eines weit verbreiteten Rufes erfreut. Die nunmehr ziemlich verblichene Malerei stellt einen Affen dar, welcher durch einen Reifen gerade auf den Beschauer losspringt. Ersteigt man die Stufen zur Vorhalle, so scheint er dem Ankommenden entgegen, also nach dem Garten zu springen; tritt derselbe jedoch aus dem Innern des Gartenhauses, so springt er ihm ebenfalls entgegen, diesmal also zur Halle herein. Die Täuschung liegt natürlich wieder darin, daß das Thier vollkommen en face dargestellt ist.

Man konnte nach dem Gesagten schließen, daß diese Täuschungen ausschließlich bei Gemälden eintreten; allein für eine geringere Veränderung des Standpunktes sind sie ebensowohl bei einem plastischen Bildwerke möglich. Wenn nämlich das Antlitz kein allzu starkes Relief besitzt und die in der Mitte des Auges stehende Pupille sehr hervorleuchtend, etwa aus einem Edelsteine gebildet ist, so kann auch hier die obengedachte Erscheinung mit aller Lebendigkeit auftreten. Selbstverständlich vermag ein solches Bildwerk nicht, sich nach dem Beschauer umzuwenden; es folgt ihm nur mit den Augen. Der alte Schriftsteller Lucian erzählt mit großer Verwunderung von einer Statue der syrischen Göttin zu Hierapolis, welche dem Andächtigen in ihrem Tempel an jedem Orte nachgeblickt habe, und ähnliche Beispiele berichten Plinius und Strabo. Eine Anzahl Sagen des christlichen Mittelalters bringen Mittheilungen von Christus- und Marienbildern, deren Blick Ungläubige bekehrt, Gläubige aber durch Zuwinken ermuntert und zu großen Thaten gestärkt habe.

Es ist hierbei zu bemerken. daß sehr viel auf den „guten Willen“ oder Wunsch des Andächtigen oder Abergläubigen, Dergleichen zu sehen, ankommt. Daß ist keine bloße Redensart, sondern die Macht des Willens auf das Gesichtsbild läßt sich beweisen. An Silhouetten kann man die gestaltende und belebende Macht der Phantasie erproben; man kann sie nämlich ganz nach Belieben umkehren, sei es, daß sie ihre Gestalten im Profil oder in der Angesichtsstellung zeigen. Am auffallendsten tritt dies hervor bei der Betrachtung von Statuen, von denen man, sei es der Dämmerung oder der weiten Entfernung wegen, nichts als die Silhouette erblickt, besonders wenn sie sich scharf von einem grauen Himmel abhebt. Man kann ihnen dann mit sicherer Aussicht auf ihren Gehorsam ein „Kehrt Euch!“ zurufen. Recht schön kann man dies, wie Dr. Mohr bemerkt hat, an der Siegesgöttin auf dem Brandenburger Thore in Berlin beobachten. Sobald man „Unter den Linden“ weit genug von dem Kunstwerke entfernt ist, um nur die Silhouette desselben zu sehen, so kann man nach Gefallen das Viergespann zur Stadt hinaus oder herein sprengen lassen. Bei der Silhouette einer mahlenden Windmühle, der wir in schräger Richtung gegenüberstehen, so daß sich die Drehungsebene der Flügel als schmales Oval auf dem dunklen Abendhimmel darstellt, bringen wir es sogar dahin, den Lauf der Flügel plötzlich zu ändern, sie jetzt scheinbar links herum, dann wieder rechts herum laufen zu lassen, je nachdem wir uns denken, das Mühlenhaus stehe in Bezug auf unsern Beobachtungsort vor oder hinter den Flügeln.

Es ist das Unvollendete der Silhouette, welches die Phantasie zu solchen Gestaltungen herausfordert, und man darf daher den Werth derselben in pädagogischer Beziehung nicht unterschätzen. Wem aber das höchst frappirende Windmühlenexperiment bei nüchterner Beobachtung gelungen ist, was in der Dämmerung stets zu erreichen ist, der wird nicht mehr daran zweifeln, daß dem aufgeregten oder abgespannten Schwärmer ganze Gemälde lebendig werden können, um zu thun, was er ihnen, freilich unbewußt, zumuthet. Das aber streift in das Gebiet der Hallucinationen, auf welches ich hier nicht näher einzugehen beabsichtige.

Carus Sterne.



  1. Man betrachte z. B, die Illustrationen der Gartenlaube Nr. 3, (Jahrgang 1873) „In der Partnach-Klamm“, Nr. 7 „Bitte, bitte“, Nr. 9 „Norwegisches Liebespaar“, Nr. 17, „Bastei und Stadtgraben von Nürnberg“ und „Liebespaar“, den Holzschnitt nach Grützner’s Gemälde „Löcher im Kirchengut“ in Nr. 43 (besonders brillant), Nr. 44 „Obstplatz in Botzen“, Nr. 3 (1874) „Kirchhof auf dem Oybin“, Nr. 16 „Dorfrichter in Siebenbürgen“, durch die hohle Hand und mit beiden Augen, um den Unterschied zu sehen. Von andern den Meisten zugänglichen Bildern empfehle ich z. B. die Baum-Allee vor Dornröschen’s Schloß in Doré’s Märchenbuch, die Flucht der Königstochter (Eselshaut) ebendaselbst u. A.