Der Obstplatz in Bozen
Wenn der berühmte Fragmentist das bischöfliche Brixen das rhätische Coblenz nannte, so möchte ich Bozen, die alte Handelsstadt, als das tirolische Florenz bezeichnen. Giebt es wohl eine Ortschaft in Tirol, die diesen Namen mit größerem Rechte verdient, als das blumenliebende, an Gärten so reiche Bozen? Der Wanderer aus dem Norden wird bezaubert von dem Glanze südlicher Blumenpracht, von der Schönheit und Mannigfaltigkeit der Gesträuche und Bäume, die nur unter einem so milden Himmel gedeihen oder diese Schönheit und Ueppigkeit entwickeln können. Wer die Gärten des Erzherzogs Heinrich, des Grafen Sarnteim, des Baron Goldegg oder die Gartenanlagen des Dr. J. Streiter besucht hat, kann ihre Herrlichkeit nicht mehr vergessen; ihr Zauberbild steigt ihm gewiß oft aus dem Dunkel der Erinnerung leuchtend empor. Und wer so glücklich ist, den Garten des Herrn Moser zu sehen, wenn Hunderte der verschiedensten Rosenbüsche in voller Blüte stehen, die wasserreichen Brunnen rauschen und die Vögel im Dickicht singen, der denkt unwillkürlich an König Laurin’s Rosengarten, von dem der alte Dichter sang:
„Wer ihn konnte sehen an,
Der mußte all sein Trauern lan.“
Ja, wenn ein Fremder den feinsten Reiz dieser Stadt kennen lernen und genießen will, muß er jene lauschigen Heiligthümer südlicher Flora besuchen, wo „im dunkeln Laub die Goldorangen glühen, die Myrrhe still und hoch der Lorbeer steht.“ Allein nicht nur Anlagen und Gärten, selbst andere Plätze und stille Winkel mahnen uns, daß wir an der Schwelle Italiens stehen. Minaretähnliche Cypressen und breitkupplige Pinien erheben sich aus den Weinbergen; der dunkle Lorbeer und die zarte Myrthe grünen an den Felswänden, und die Fackeldistel breitet ihre saftigen Blätter über das rötliche Porphyrgestein. In reichster Toilette zeigt sich aber Bozen als Blumenstadt am ersten Mai, an dem der vielbesuchte Blumenmarkt gehalten wird. An diesem Tage bildet der ganze Obstplatz, den der Künstler in unserer heutigen Nummer teilweise im Bilde vorführt, einen großen wunderbaren Garten voll von Glanz und Glut und berauschendem Duft. Was Blumenfreunde, Gärtner und Bauern an Blumenpflanzen und scheuen Gewächsen auszustellen und zu verkaufen haben, wird von nah und fern hierher gebracht, um den Reiz dieses unvergleichlichen Maifestes zu erhöhen. Die wechselvollen Trachten, die schönen Gestalten und interessanten Typen des hin- und herwogenden Volkes beleben dieses blumen- und blütenreiche Fest. Da findet man Abkömmlinge der Hessen, die von dem Reggelberge niederstiegen, neben Gothen und Gothinnen, die aus dem romantischen Sarnthale oder von den Höhen des Tscheggelberges gekommen sind; Bajuwaren aus der nächsten Umgegend, verdeutschte Romanen aus Ueberetsch und Wälsche aus dem Trentino drängen sich im dichten Gewühle.
Es erinnert dieses bewegte, reiche Bild an das Gewühle und Treiben auf dem Obstplatze in alten Zeiten, als noch die berühmten Messen abgehalten wurden, zu denen die Handelsherren aus Sinigaglia und Venedig, aus Augsburg, Ulm, Calw und Nürnberg herbeikamen, oder an die alten Volksfeste, die einst hier gefeiert wurden. Ich erinnere nur an das Georgispiel, das am Frohnleichnamsfeste gegeben wurde, an das Ringelrennen um Pfingsten und an den Bindertanz mit seinen Auswüchsen lustigster Volkslaune. Allein selbst an gewöhnlichen Tagen bietet der Obstplatz, der schon im Mittelalter den belebtesten Punkt der Stadt bildete und zwei öffentliche Bäder besaß, ein bewegtes, lautes, farbenreiches Bild, das mit seinem halbitalienischen Charakter jeden Fremden, der aus dem Norden kommt, durch Eigenthümlichkeit und südliches Leben ansprechen muß.
Das Hauptgebäude dieses Stadtteiles, von dem die Straße nach Meran abzweigt, war das Gasthaus „Zur goldenen Sonne“, welches schon 1420 bestand. Wie unzählige Fremde mögen in dieser Sonne, die ihr Licht über Gerechte und Ungerechte leuchten ließ, eingekehrt sein und sich an ihrem Scheine erfreut haben! Damals schon hatten venetianische Kaufleute hier ihre Herberge; wälsche Fischer und Geflügelhändler boten hier ihre Waare feil und zahlten je einer sechs Gulden jährliche Steuer. Bis in die neueste Zeit noch ehrten italienische Handelsleute die alte Sitte. Daß aber auch gute Deutsche im Schatten der „Sonne“ sich nicht nur wohl fühlten, sondern auch das Zeitliche segneten, zeigt uns der Umstand, daß hier 1515 der Schulmeister Benedict Debs aus Ingolstadt, dessen Name mit den religiösen Volksschauspielen in Tirol in engster Beziehung steht, seine literarische und irdische Laufbahn beschloß. Als im vorigen Jahrhundert die „Sonne“ ihren Höhepunkt erreicht, beehrten Fürsten und Kaiser dieses Wirthshaus mit allerhöchsten Besuchen, wie die Kaiserin Maria Theresia, wovon der große, hohe Salon Nr. 10 im zweiten Stocke noch jüngst den Namen „das Kaiserzimmer“ führte.
[721] Auch Goethe, als er nach Italien zog, bewohnte dieses Gemach am 9. September 1786. Zwei Jahre später finden wir Herder hier, der am 1. September 1788 an seine Kinder schrieb: „Jetzt bin ich nun in Bozen, wo heute eine unsägliche Menge Volkes ist, weil neunzehntausend Kinder gefirmelt werden sollen, da der Bischof in vielen Jahren nicht gefirmelt hat, weil er zu faul gewesen. Da ist nun vor unserem Wirthshause zur Sonne ein solcher Obstmarkt, als Ihr in Eurem Leben nicht gesehen habt: Birnen, Quetschen, Weintrauben, Nüsse, Feigen.“ Damals stand die „Sonne“ am höchsten, und es begann kurz darauf ihre Neige. Italienische Kaufleute, Künstler und Gelehrte hielten aber fest an der „Sonne“, wenn auch die vornehme Welt nur mehr die „Kaiserkrone“ besuchte. Endlich bewahrheitete sich auch an unserer „Sonne“ der Spruch:
„Und scheint die Sonne noch so schön,
Am Ende muß sie untergeh’n,“
denn im vorigen Jahre wurde das altberühmte Gasthaus verkauft und, um den Platz zu erweitern, abgebrochen. Unser Künstler hat aber das Bild des Hauses, in welchem Goethe und Herder gewohnt, für die Nachwelt gerettet.
Der „Sonne“ gleich haben auch die historischen Bozener Messen ihren Glanz verloren, allein das rührige Kaufmannsleben dauert in der alten Handelsstadt dennoch fort und vermittelt theilweise den regen Verkehr zwischen Deutschland und Italien. Bozen wird indessen nach anderer Seite hin sicherlich aufblühen. Es wird eine Hauptstation alpiner Touristen werden, denn kein Punkt Tirols bietet für den feineren Landschaftsbeobachter so viele und wechselnde Genüsse, wie die Bozener Gegend. Zudem giebt Bozen den besten Ausgangspunkt nach dem noch zu wenig besuchten Sarnthal, nach dem romantischen Eggenthal, sowie nach der schönen Mittelebene, nach Ueberetsch und dem reizenden Gehänge von Montan zwischen Auer und Neumarkt. Wer eine überraschende Bergaussicht ohne viel Mühe und ohne Gefahr genießen möchte, der kann das schon im Eckerliede genannte Jochgrimm besteigen. Damen werden sich daran auch kein Füßchen verletzen. Diesen alpinen Vorzug Bozens hatte Herr Amthor auch erkannt, als er seine Schrift über diese Stadt und deren Umgegend schrieb.
Möchten recht viele Reisende das Florenz an dem Eisach besuchen und die ebenso wechselreiche wie schöne Umgebung kennen lernen – und sie werden, wenn sie die rechten Wege und Punkte gefunden, dem Schreiber dieser Zeilen gewiß nicht undankbar sein.