Auf dem Oybin
Es war im Junimonate des Jahres 1868. Nach den bewegten Tagen des Lutherfestes zu Worms war ich in’s grüne Neckarthal geeilt und lag träumend in einem Fenster der Schloßruine des Wilhelmsbaues zwischen den Gräsern, die aus den Mauerritzen hervorquollen und, von linder Luft bewegt, sich hin- und herwiegten. Ich schaute hinauf in die herrlichen Gestaltungen, welche die Zinnen der Ruine krönten, welche die Fenster schmückten, hinauf in den blauen Himmel, der zwischen den edlen Decorationen des Mauerwerkes, welches so satt gefärbt in goldigem Tone erglänzte, nur um so tiefer erschien. Ich wurde nicht müde, die schönen Gebilde einer reichen Zeit, einer verschwenderischen Fülle von Phantasie zu betrachten. Vorüber rauschten die Gestalten des phantastischen Winterkönigs und seines üppigen Hofes; vorüber zogen die Bilder jener wilden Tage, in denen das stolzeste Schloß im deutschen Lande von den Welschen in Brand gesteckt wurde, vorüber die Erinnerung an die teuflische Freude, mit welcher der stolze Herrscher Frankreichs eine Gedenk- und Ehrenmünze auf die Mordbrennerei seines Feldherrn schlagen ließ, auf welcher die Aufschrift: „Heidelberga deleta“ zu erblicken war. Um mich her summten die Bienen; mir klang’s wie ein fernes Lied, wie ein Chorgesang; „Heidelberga deleta“ hörte ich deutlich daraus hervorklingen, traurig und monoton.
Ich wurde den Klang des Bienenliedes nicht los. Es verfolgte mich auf Schritt und Tritt, und es verschwand der Ton und das Gefühl, das es mir in der Seele erweckt hatte, erst, als ich von der Freiung des Schlosses am Abende in das glückliche, blühende Neckarthal herniederschaute. Unten in der freundlichen Stadt Heidelberg erklangen die Abendglocken, und über dem golddurchleuchteten sagenreichen Rheinland lagerte der ganze Zauber eines Sommerabends. Wer einen solchen Abend auf dem Heidelberger Schlosse erlebte, wessen Blick jemals von der herrlichen Ruine nach den fernen Bergen schweifte, welche bereits französisches Land beherrschten, der begreift es wohl, daß es hier den Menschen drängt, die Hände still zu falten und mit den tausend Gebeten, welche der Abend in der Menschen Brust erweckt, das seinige zu vereinen, der begreift es, daß sich hier Vergangenheit und holdes gegenwärtiges Glück um den Besitz der Seele streiten, der begreift es aber auch, wie traurig in der Seele des Deutschen immer wieder der Refrain des Liedes „Heidelberga deleta“ wie ein Hohn auf unsere Vergangenheit dazwischen klang.
Heute ist das anders als damals. Nicht mehr wird der Blick in die Ferne durch Frankreichs Berge begrenzt. So weit man auch in die dämmernden blauen Linien am Horizonte schauen kann, überall erblickt man deutsches Land auch jenseit des Rheines. Vergessen ist heute das koboldartige Schwirren und Zirpen des höhnisch frohlockenden Liedes von „Heidelberga deleta“! Was auch das Rheinland durch den Franzmann an Wunden und Schmerzen erlitten, gerächt ist es und gesühnt im größten Stile. Der Zauber der Heidelberger Ruine aber ist derselbe geblieben, wenn er auch nicht mehr umwoben ist von dem Gefühle patriotischen Schmerzes und der Hoffnung auf die Stunde der Vergeltung – und für jeden Deutschen gehört die Erinnerung an Heidelberg heute, wie in den Tagen unserer Väter, zu den schönsten und unvertilgbarsten des Lebens.
Auf meiner Rückreise nach der Heimath führte mich der Weg durch Thüringen. Ich konnte es mir nicht versagen, von der Heerstraße weg einen Abstecher nach einer nicht minder berühmten Ruine Deutschlands, nach Paulinzelle zu machen. Während Heidelberg den Blick in die Fülle des reichen Lebens der Renaissance eröffnet, tritt Einem mitten in dem einsamen thüringischen Wiesenthale, umgeben ringsum von grünem Walde, die einfache Großartigkeit des romanischen Baustiles überwältigend entgegen.
Sanft überragten zwei Thürme das in schönen Rundbogen sich wölbende Portal. Nur einer ist noch übrig, der noch heute als Glockenthurm benutzt wird. Ehrfurcht beschleicht den Beschauer beim Betreten des Kirchenschiffes, aus dessen grünem Rasenteppiche die mächtigen Säulen sich erheben. Dazwischen wölben sich die einfachen Bogen des romanischen Rundbaues; mächtige blühende Linden beschatten das hohe Gemäuer; hellgrünende Buchen, von goldigem Sonnenlicht durchwoben, ersetzen beim Durchblick durch die offenen Fenster den Schmelz der verschwundenen Glasmalereien. Der Duft der Linden durchströmt den Tempel Gottes, über welchem der blaue Himmel sich wölbt, mit köstlicherem Geruche als Weihrauch. Lieblich schmiegt sich an den alten Bau neues Leben; aus dem blumengeschmückten Fenster des gemüthlichen thüringischen Hauses, welches an die Kirchenruine unmittelbar angebaut ist, schaut das freundliche Gesicht einer Frau, welche ein Kind auf dem Arme trägt, hernieder, und ein lieblicher Garten, mit Blumen wohl gehegt, breitet sich bis in die Ruine hinein. Jetzt tönen vom Thurme die alten Glocken in silbernem Klange, wie sie wohl ehedem den einsamen Mönchen erklungen. Die Herde kehrt mit melodischem Geläute an der Kirchenruine vorüber heim; eine Kuh versucht es, aus dem alten Taufbecken, das vor dem Portale in tiefem Grase liegt und in welchem sich etwas Wasser angesammelt hat, zu trinken. Freundlich das Köpfchen neigend, schauen die Vöglein zu, welche in den Bogen des Portales, an dem noch die Spuren musivischer Malerei sichtbar sind, ihre Nester aufgeschlagen haben.
Wenn Heidelbergs Ruine die harmonische Pracht der Entfaltung in Natur und Kunst charakterisirt, so ist es hier in Paulinzelle der das Gemüth ergreifende Contrast, welcher zwischen dem Denkmale einer längst entschwundenen Zeit, Welt- und Gottesanschauung und der behaglichen Idylle des gegenwärtigen Lebens ringsum liegt.
Ein eigenthümlicher Zufall war es, daß mein erster Weg, nachdem ich in meine Heimath zurückgekehrt war, nach dem Oybin führte. Die Meinigen hatten dort Sommeraufenthalt genommen, und ich eilte, sie zu begrüßen und frohe Tage mit ihnen zusammen zu sein. So reihte sich, wie von selbst, zu den Bildern der beiden merkwürdigsten Ruinen Deutschlands, Schloß Heidelberg und Paulinzelle, als kostbare Perle das Bild der dritten Ruine, welche würdig ist, jenen beiden zur Seite gestellt zu
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werden, des Oybin an. Die Kloster- und Kirchenruine Oybin mit den alten Trümmern eines Raubritterschlosses ergänzt die herrliche Dreigestalt auch nach der Richtung der Kunst hin. Denn, wenn in Paulinzelle uns die schlichte Großartigkeit des romanischen Baustiles entgegentritt, wenn in Schloß Heidelberg unsere Phantasie von der reichen Fülle sinnlicher Gestaltungen des Renaissance-Zeitalters gefangen wird, so umgiebt uns im Rauschen der Tannen auf Oybin der vollste Zauber gothischer Kunst, ein Hauch lebensvoller Romantik des späteren Mittelalters. Keine der beiden anderen berühmten Schwesterruinen ist aber so umwoben, gleichsam so umsponnen von dem tausendfältigen Leben des deutschen Waldes.
Dem liebenswürdigen Künstler ist es gelungen, in den beifolgenden Zeichnungen, deren Interpret der Verfasser dieser Zeilen nur sein will, den Eindruck des Märchenhaften, den köstlichen Duft von Romantik und Waldpoesie, der hier über Natur und Menschenwerk aus vergangener Zeit gleichmäßig ausgebreitet ist und Beide zu einem wunderbar schönen, einheitlichen Bilde gestaltet, festzuhalten und zur Darstellung zu bringen. Nicht möglich ist es der Feder, gleich lebendig [34] wie der Maler zu schildern; sie kann nur erläutern, und allein der Dichter vermöchte es im Liede, den ganzen Reiz dieses glücklichen Stückes Erde Oybin zu besingen.
Mitten aus einem von waldigen Bergen umgebenen grünen Thale erhebt sich der Bergfelsen Oybin mit seinen wunderlichen phantastischen Sandsteinformationen, etwa tausendsiebenhundert Fuß über dem Meeresspiegel, von reicher Vegetation geschmückt. Er bildet fast die Mitte des südlausitzischen Gebirgszuges, welcher Sachsen von Böhmen scheidet, und ist etwa anderthalb Stunde von der freundlichen Stadt Zittau, der Hauptstadt der südlichen Oberlausitz, entfernt. Aus grünem Rasenboden steigen die mächtigen senkrechten, rundgeformten Felsenwände empor; rings um den Bergkegel zieht sich ein breiter Gürtel von Wiesen und Feldern im Thale, welches auf der anderen Seite kreisförmig von Bergen, daran Forsten bis zum Thale herniedersteigen, umgeben ist.
Vor allen hervorragend an kühn geschwungenen Linien und Schönheit der Form, erhebt sich dem Berge Oybin gegenüber der mächtige Hochwaldberg mit seinem breiten Rücken, welcher die Grenze zwischen Sachsen und Böhmen bildet und über dessen Joch die alte Straße in’s böhmische Land hinüberführt. In dem stillen blühenden Thale auf grünenden Matten rings um den Oybinberg herum lagert sich das Dörfchen Oybin mit seinen freundlichen hölzernen Weberhäusern. Es ist ein rühriges, fleißiges und genügsames Völkchen, welches diese braunen Holzhäuser, die in neuerer Zeit theilweise reizenden Villen weichen mußten, bewohnt. Oft, wenn ich noch in später Nacht durch das Thal schritt, da leuchteten noch die spärlichen Lämpchen aus den dunkeln Hütten, und weithin dröhnte der dumpfe Stoß des rastlosen Webstuhles.
In neuerer Zeit entstehen, wie bereits erwähnt worden, an Stelle der kleinen Hütten freundliche Villen, und nicht lange mehr wird es dauern, so ist von dem armen Gebirgsdörfchen wenig mehr zu sehen, und anstatt desselben eine heitere „Sommerfrische“ erstanden. Neben den ärmlichen Häusern giebt und gab es aber auch gar freundliche, blanke und wohlig ausschauende Gebirgshäuser. Besonders anmuthig gelegen sind die Häuser, welche sich auf der Anlehne ausbreiten, die sich nach dem Hochwalde zu, aus dem Thale aufsteigend, bildet. Das letzte Haus am Waldesrande, von welchem aus man eine herrliche Aussicht auf den Oybinfelsen und auf das Dorf im Thale hatte, dessen Giebel mit den Schornsteinthürmchen malerisch zwischen den Obstbäumen lagen, war das sogenannte Forsthaus. Im Sommer nahm es fröhliche Gäste auf. Es war das Ideal eines echten Oybinhauses, behaglich sauber, von jenem eigenthümlich schmuckhaften Aussehen, das fast allen reicheren Häusern in Gebirgsgegenden eigen ist. Bis an den geschnitzten First des Hauses rankte sich der Wein und wilde Epheu; freundlich blinkten die Fenster aus dem mit Zierrathen geschmückten Gebälk, und stattlich prangte in Stein gehauen über der Thür die verzierte Inschrift des Erbauers. Von einem blühenden Garten war das freundliche Haus umgeben. Die Bienen summten vor den zahlreichen Stöcken, und vor der Thür des Hauses rauschte der Brunnen mit köstlichem Bergwasser. Vom Garten aus blickte man nach der anderen Seite hinunter in einen kühlen Wiesengrund, aus dem uns am heißen Mittag Kühlung entgegenströmte. Würzig duftete der Wald hinterm Hause. Welches blühende sonnige Leben hier am Morgen, welche zauberische Ruhe am Abend, nur durch das Girren der wilden Tauben unterbrochen! Wenn heißer und heißer am Mittag die Sonne erglüht, wenn der Vogelsang verstummt war und man nur noch dann und wann halbverloren den Kukuk schreien hörte, hier war immer Kühle und Erquickung zu finden, hier fächelte, auch wenn draußen im Lande die Felder und Wiesen von der Sonnengluth versengt waren, stets leise Luft uns neues Leben zu.
Es war ein glücklicher Aufenthalt für genügsame Menschen, das Ideal einer Sommerfrische, wie deren mehrere noch heute in dem kleinen Gebirgsdorfe zu finden sind. Das alte Forsthaus ist verschwunden. Heute erhebt sich ein stattlicher Landsitz an seiner Stelle. Das Gärtchen hat sich in eine reizende Parkanlage verwandelt, die herniederreicht bis in den kühlen Wiesengrund; vor dem Hause rauscht eine mächtige Fontaine, und haushoch steigt das köstliche Bergwasser in tausend Diamanttropfen zum heitern Himmel empor. Der Comfort hat die Einfachheit der Idylle verdrängt, aber der Zauber der Natur macht heute, wie früher, den Aufenthalt hier und in den angrenzenden Villen zu einem der beneidenswerthesten in deutschen Landen.
Unmittelbar an die steile Felswand des Bergkegels Oybin angelehnt, erhebt sich über den Häusern des Ortes die kleine Kirche mit ihrem hölzernen Thurm. Der Schall der hellen Glocken, der von der nahen Felswand abprallt, wird durch das Echo weit in die Berge hineingetragen. Der Ort bildet nur eine kleine Filiale eines anderen Gebirgsdorfes Lückendorf, dessen Seelsorger alle vierzehn Tage, auch im Winter und im tiefsten Gebirgsschnee, den weiten Weg über die Berge herübermacht, um der Gemeinde das Wort Gottes zu predigen. Ein steiler Treppenpfad, theilweise in den Felsen gehauen, führt, an dem Kirchlein vorbei und zwischen herrlichen Bäumen hindurch, den Felsen hinan.
Als ich im Sommer 1868, von der Reise heimgekehrt, die Meinigen am Sonntagmorgen besuchte, da begruben sie gerade die Frau des ehemaligen Försters, unsere Hauswirthin. Ich wollte den leidtragenden ernsten Männern und Frauen in schwarzer schwerer Tracht aus dem Wege gehen, nahm mein einjährig Bübchen auf den Arm und ging mit Weib und Kind nach der anmuthigen Schenke am Fuße des Berges unmittelbar bei der Kirche. Ihr gegenüber lagerte ich mich auf einer Anhöhe in’s Grüne. Am blauen Sommerhimmel zeichnete sich der Umriß des Berges mit seiner Ruine, unterbrochen von mächtigen Buchenwipfeln, scharf ab. Es war Sonntagsweihe und Stille über die ganze Natur ergossen. Wohliger und melodischer rauschten die Brunnen: diamantener erblitzten die Gräser vom morgendlichen Thau; prachtvoller als je schien mir da oben im blauen Duft die Krone des Hochwaldes zu dämmern. Jetzt begann die Glocke hell zu läuten. Nicht lange dauerte es, so kam der Leichenzug mit der stillen Last im Thale unten vorbei und stieg dann den steilen Felsenpfad gegenüber empor. Die Glocke verstummte – statt dessen begann der fromme Gesang der Knaben, und langsam wand sich, von Zeit zu Zeit durch Bäume oder Felsen verdeckt, dann wieder sichtbar, der Leichenzug empor, voran der weiße Sarg, der mit seinen Verzierungen wie Silber glänzte. Immer höher wurde er emporgetragen. Noch einmal ertönten die Glocken, dann ward es still, aber jetzt war auch der silberglänzende Sarg in dem Thore der Klosterruine oben verschwunden, und Stille herrschte nah und fern. Es war, als hätte sich der Himmel geöffnet, um die fromme Dulderin, die sie droben so feierlich begruben, aufzunehmen. Uhland’s Empfindung klang lebhaft in dem Bilde wieder: „Droben steht die Capelle etc. etc.“
In ferne Zeiten war ich entrückt – ich konnte mich der Erinnerung an das Bild nicht erwehren, in welchem Moriz von Schwind die Beisetzung der heiligen Elisabeth schildert. Es war etwas von der feierlichen Romantik desselben in dem Leichenzuge der einfachen Dörfler. Sie sind stolz darauf, ihre lieben Todten dort oben auf dem Berge begraben zu können. Sie ertragen unverdrossen die Mühen, welche bei Beerdigungen im Winter überwunden werden müssen, wenn eisige Stürme wehen und die Felssteige und Treppen von Eisesglätte bedeckt sind. Sie freuen sich aber des Abends, wenn sie in ihren traulichen Hütten beisammen sitzen und der Lücken gedenken, die der Tod in ihrem engen Kreise gemacht hat, daß ihre Todten da oben ruhen „auf dem Berge“ über ihren Häuptern, ein Stück näher dem Himmel, und nicht im engen Thale, daß ihre Lieben gleichsam auf sie herniederschauen.
Der Tourist, der im Dorfe Oybin angelangt ist, kann sich im Kretscham oder in der hübschen Restauration Dürrling’s unmittelbar am Fuße des Berges erquicken. Ein Trunk guten Bieres und Weines, ein schmackhafter Imbiß ist hier stets zu finden, und noch sind hier nicht die exorbitanten Preise anderer Sommerfrischen eingedrungen. Bescheiden sind im Ganzen die Ansprüche der Bewohner, die Wohnungen billig, und Sauberkeit ist durchgängig im kleinen Orte zu finden. Erst seit etwa acht Jahren wird derselbe von Fremden besucht, ja selbst der unvermeidliche Berliner soll sich bereits schon im vorigen Jahre dort eingestellt haben. Unter den Stammgästen herrscht ein einfacher ungezwungener Ton. Chignon und Steckelschuh erscheint in mäßiger Verbreitung, dagegen ist der Appetit in der würzigen Bergluft um so größer. Eine außerordentlich reiche Auswahl der anregendsten Spaziergange im Walde und auf den Höhen bietet der Abwechselungen genug, und der Wald ist hier in den [35] heißesten Sommern ein nie versiechender Quell der Erfrischung. Die Verbindung mit Zittau ist gut und bequem – kurz, es fehlt nichts, um den Aufenthalt zu einer beneidenswerthen Sommerfrische zu gestalten, und wenn die Zittauer nicht ohne Ausnahme ihren Sommersitz hier aufschlagen, sondern fernere Orte aufsuchen, so geschieht dies wohl aus der sehr erklärlichen Erwägung, daß man die ehrbaren Gesichter der Zittauer Patrizier, welche man in der Stadt zehn Monate des Jahres hindurch sieht, nicht durch zwei Monate desselben auf dem Lande genießen will, sondern vorzieht, neuen Lebensstoff durch Anschauung anderer Menschengestalten zu gewinnen.
Wollen wir den Oybin besteigen, so können wir dies auf dem oben von mir geschilderten Pfade thun. Wir wollen aber der Führung unseres trefflichen Künstlers folgen und wenden uns von der anderen Seite des Oybinthales rechts in den sogenannten „Hausgrund“, welcher den Oybinfelsen auf der nördlichen Hälfte umschließt, eine üppige Waldschlucht, an deren Ende der dunkle Spiegel eines Forellenteiches uns das Bild der hoch am Felsen hängenden Kirchenruine und des Raubschlosses ernst wiederspiegelt. Gleichsam wie eine märchenhafte Vision, wie eine Phantasmagorie hat der Meister dieses romantische Bild aufgefaßt, und so erscheint es auch dem Wanderer, welchen alsbald der dunkle Wald- und Felsenpfad, der nach der Ruine führt, in seine schattige Kühle aufnimmt.
Noch ergriffen von dem Bilde im Grunde, das ich nur als einen landschaftlichen Juwel von dem tiefsten Glanze bezeichnen kann, gelangen wir nach Ersteigung einer nicht ganz unbeträchtlichen Höhe an’s äußere Klosterthor. Mit feinem Sinne hat unser Künstler den Charakter der Ruine in den schönen gothischen Bogenfenstern, in den üppig wuchernden Farrnkräutern, in den originellen Capitälchen – lauter Einzelnheiten aus dem schönen Gesammtbilde des herrlichen Baues – angedeutet, und den Geist des Zeitalters in dem Marienbilde, auf welchem sich heitere Schwalben schwingen, gekennzeichnet.
Wir halten vor dem Klosterthore unter herrlichen Buchen und Eichen eine kurze Rast und schauen hernieder in das liebliche Thal unter uns. Aus dem Grün der Gärten lugen die friedlichen Hütten hervor; durch die Matten schlängelt sich der Bach, und in geordneten Reihen lehnen sich bis an den Waldrand die wogenden Kornfelder wie ein ausgebreiteter Teppich an. Am Fuße des Hochwaldes, da wo das Thal etwas lehnan steigt, schimmern freundliche Villen und darüber ruht in Sommerstille und Mittagsgluth träumerisch der Hochwald.
Durch das äußere Klosterthor gelangt man an den Vorplatz, welcher vor dem Eingange der Kirchenruine liegt. Stolz wölbt sich hier das grüne Dach hochgewachsener Buchen, durch deren schönverzweigtes Geäst und frisches Blättergrün die Kirchruine in vollem Sonnenlichte farbensatt hindurchschimmert. Einige Schritte seitwärts, und es eröffnet sich überraschend der Blick in die jähe Tiefe des Hausgrundes. Wie ein klares Auge des Waldes schaut der von Schilf umgebene Forellenweiher zu uns empor. An der Erzbüste des Oybinforschers Peschek vorüber, einem vorzüglichen Werke des Bildhauers Donndorf in Dresden, das uns mit seinen freundlichen Zügen willkommen heißt, treten wir durch die schattige, architektonisch außerordentlich wirkungsvolle Pforte in die weite Kirchenhalle. Ueberraschend wirkt die kühne Wölbung des Chors; vor Allem aber ist das Maßwerk der Fenster von vollendeter Schönheit und großer Originalität. Der Bau ist aus der bessern Zeit der gothischen Kunst und zeichnet sich durch seinen lebensvollen, schlagkräftigen Eindruck vor vielen anderen gothischen Werken aus.
Welch ein Gegensatz gegen die ruhigen ernsten Massen des romanischen Stiles, gegen die vornehme Feierlichkeit der säulengetragenen Flächen! Hier drängt, strebt, blüht und lebt Alles zum Himmel empor; die ganze Architektur mit allen ihren Einzelnheiten erscheint als ein Hymnus, in dem jedes Capitälchen, jede Rosette, jede Säulenrippe zum Preise Gottes sich dar- und auszuleben berufen ist. Dazu wirken und winken überall in Fenstern und Thüren die blühenden Sträucher herein, und der herrliche stolze Wald umrahmt die Fenster, überragt die Wölbungen. Statt der gemalten Scheiben erblickt das Auge die goldgrünen Buchen auf blauem Himmelsgrunde und dazwischen die sonnengoldgetränkten ernsten Tannen, die sich zum herrlichsten Farbenteppich weben.
Der Gesang der munteren Vögel, vereint mit dem kräftig beleuchteten Architekturbilde, wirkt wie ein Gottesdienst von Form, Farbe und Tönen, gestaltet sich zu einem unvergleichlich harmonischen Stimmungsgebilde. Und nun ertönt auch vom Chore her ein schöner vierstimmiger Gesang. Menschenherzen, erhoben gleich uns von dem erhabenen Eindrucke des Bauwerkes und der Natur, sprechen im Liede ihr Empfinden aus.
[47] Bewegt von dem Eindrucke, schreiten wir weiter, hinaus in die von Farrenkräutern und schwanken grünen Zweigen fast umsponnenen Seitencapellen mit ihren reizenden Consolen, Nischen und Fensterdecorationen, wie sie unser Künstler so charakteristisch wiedergegeben hat. Hier wie bei dem Durchschreiten des Kreuzganges drängt sich, obwohl wir nur eine einfache Klosterkirche vor uns haben, der Eindruck eines gewissen Reichthums und phantasievoller mannigfaltiger individueller Gestaltungsgabe auf.
Die Kirche ist aus der bessern Zeit der Gothik. Nachdem Karl der Vierte 1349 das Raubschloß der Herren von Leipa, welches früher den Berg gekrönt, erobert und zerstört hatte, wurde zwanzig Jahre später das Cölestiner-Kloster, dessen Ruine wir heute vor uns schauen, gestiftet. Den Bau leitete des Kaisers Hofbaumeister Peter Arler von Gemünd. Im Jahre 1384 wurde die prächtige Kirche von dem Erzbischof Johann von Jenzenstein eingeweiht. In höchster Blüthe stand das Kloster bis zum Hussitenkriege. Blieb es auch während desselben selbst verschont, so verarmte es doch von da an mehr und mehr, bis ein vernichtender Blitzstrahl im Jahre 1577 in die Klostergebäude fiel und den schönen Bau in eine Ruine verwandelte. Drei Jahre zuvor war das Kloster durch Kauf in den Besitz der Stadt Zittau gelangt und ist seitdem ohne Unterbrechung, also durch drei Jahrhunderte hindurch, in deren Besitz geblieben und heute noch die Zierde und der Stolz aller Besitzungen Zittaus.
Durch den Kreuzgang hindurch schreitend, aus dessen Fenstern man in die Tiefe des Hausgrundes hinunterschaut, gelangt man auf den Kirchhof. Ich habe manche berühmte Gräberstätte gesehen; berauschend wirkt auf die Seele der Blick vom Camposanto Neapels auf den blauen Golf, tiefernst und melancholisch wie eine Nachtphantasie der Kirchhof in Prag, imposant und würdevoll der Gottesacker Pisas und der Veronas, reich der Friedhof Münchens; aber eine Todesstätte, die so von dem vollen Zauber einer üppigen Natur, so von Romantik umwoben ist, wie der kleine Dorfkirchhof auf dem Berge Oybin, habe ich nicht wiedergefunden.
Ein besonderer Reiz dieses auf der Höhe gelegenen Friedhofes ist, daß er nicht blos ein Kirchhof der Vergangenheit ist, etwa als malerische Curiosität conservirt wird, sondern daß man ihn noch heute benutzt, daß neben dem Denkmale des Ritters dort in stattlicher Rüstung, welcher schon manches Jahrhundert hier oben schläft, ein frischer Hügel sich hebt, mit frischen Blumenkränzen, bethaut noch von den Thränen der Geliebten, daß Ginster und Epheu dort um den moosigen verwitterten Stein – eine Last von Jahrhunderten – sich schlingt, während sich daneben eine frische Rose wiegt, von goldenen Bienen umschwirrt. Und wendet man den Blick zurück nach der Ruine, von welcher man gekommen ist, so überrascht von Neuem der prächtig gothische Bau, welcher zwischen den hundertjährigen Linden hervorlugt. Ueberall ringsum hat man das Gefühl seliger Befriedigung einer Umhegung von glücklicher Fülle. Von allen Seiten strömt durch das sonnverklärte Laub frische Bergluft auf uns ein. Ist dem Auge irgendwo ein Durchblick durch den üppigen Wuchs gestattet, so erblickt es in violettem Lichte die Gipfel der Berge ringsum und erfreut sich an ihrem Farbenzauber. Aber bei aller Freiheit und Frische der Empfindung, welch ein stiller, heiliger Ernst an dieser Stätte! Hier lösen sich die Gegensätze von Tod und blühendem Leben in Poesie auf.
Ist’s ein Wunder, daß die Seele des armen Dörflers da unten im tiefen Thale mit poetischer Kraft an diesem Friedhofe hängt? Zwar geht die bureaukratische Nüchternheit darauf aus, ihm den schönen Platz hier oben zu entreißen, weil es ihr nicht passend erscheinen will, daß der Kirchhof in unmittelbarer Nähe eines Belustigungsplatzes sich befindet, denn nur wenige Schritte davon, getrennt durch eine kleine Schlucht, liegt die zierliche Schweizerhausrestauration des Berges. Als ob jemals Einer, der hier oben begraben liegt, sich durch die frohe Lust spielender Kinder, die sich wohl einmal zwischen den Grabhügeln herumtummeln, hätte stören lassen! Als ob jemals Einer, der hier traurig an einem Grabe gestanden, sich durch den Klang froher Stimmen, welche an Sommernachmittagen wohl ertönen, gekränkt gefühlt! Als ob irgend Jemand, der hier oben sich bei Lieb’ und Wein des Lebens freute, durch die zauberisch schöne Weihe des ernsten Ortes sich unangenehm berührt gefühlt hätte!
Es muß aber doch solche Käuze geben, wozu sonst mit solchem Eifer darauf hinarbeiten, daß dem Thalbewohner seine liebe letzte Heimath hier oben entzogen werde! Gesundheitsrücksichten können es nicht sein, wenn man aus der freien Höhenluft den Kirchhof in’s enge Thal verlegen will, wo die Häuser nahe bei aneinander stehen, wo freundliche Villen und blühende Gärten emporwachsen. Doch lassen wir die beiden Gegner den Streit ausmachen! Die Liebe zur alten, hundertjährigen schönen Sitte – die Poesie – wird hoffentlich hier die nüchterne und geschäftige Gleichmacherei besiegen, und der Wanderer wird sich auch noch im nächsten Jahrhundert an der zauberischsten aller Grabstätten erfreuen, welche unser Künstler in so entzückend wahrer Weise dargestellt hat.
Nur wenige Schritte noch, und wir befinden uns auf dem sogenannten Gesellschaftsplatz mit seinem zierlichen Schweizerhaus, von schattigen Bäumen und Felsen umgeben. Von hier aus hat man einen herrlichen Tief- und Fernblick in den Eingang des Oybinthales. Vom Einschnitt des Gebirges umrahmt, öffnet sich das reiche Bild von Zittau und Umgebung bis zum fernen Horizont in der Gegend von Görlitz. Namentlich Abends, wenn schon kühle Schatten im Thale lagern, gewährt die im Sonnenlicht erglänzende Stadt mit ihren reichen Fluren ein zauberisches Ruhe- und Friedensbild. Der Steig, der vom Gesellschaftsplatz aus um den runden Felskegel des Oybin führt, oft zwischen engen Felsengassen hindurch, an schwindelnden Abhängen vorbei, bietet eine Fülle der reichsten Aussichtspunkte in das Thal und auf die Höhen. „Der Abend ist das Beste“, lautet ein altes Sprüchwort; so denken auch alle Die, welche in Oybin längeren Sommeraufenthalt nehmen. Sie kehren meist des Abends hierher „auf den Berg“, um erquickende Stunden bis zum Aufgang der Sterne hier zu genießen. Am Tage zerstreut die Gesellschaft sich nach den verschiedensten Richtungen; überallhin laden malerische Punkte in der nächsten Umgebung Oybins zu Spaziergängen und Bergpartien ein. Vor allen anderen sind der sogenannte Pferdeberg und der Johannisfelsen beliebte Aussichtspunkte. Dort lagert sich’s im köstlichen Moos bei einem heiteren Pikenik, wenn froher Sang durch den Wald weithin schallt, unter fröhlichen Menschen gar köstlich. Phantastische Landschaftsbilder gewähren die seltsamen Formen der Mönchshöhe und der Kelchsteine; reizende Waldwege führen nach dem Eschengrund, den Dachslöchern, dem Töpfer, wo Bilder von Waldeinsamkeit sich aufthun, wie man sie nur noch selten erblickt. Erfrischend ist eine Besteigung des Hochwaldes, von wo aus man eines der großartigsten Panoramen nach Böhmen und dem Riesengebirge zu hat; interessant ist der Spaziergang durch die dichten Wälder nach Jonsdorf auf der einen und nach Lückendorf und dem einsamen Jagdhaus Numero Sechs auf der andern Seite. Aber trotz dieser Fülle schöner Excursionen kehrt man Abends gern „auf den Oybin“ zurück. Hier findet man stets fröhliche Menschen, die sich der schönen Natur erfreuen, zu denen Zittau das hauptsächlichste Contingent stellt.
Es ist in der That rührend, wie der Bewohner von Zittau
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an seinem Oybin mit aller Liebe hängt. Sein Leben ist aber auch sozusagen mit ihm verwachsen. Schon als Bambino wird der Zittauer Weltbürger im Kinderwagen nach Oybin gefahren; dorthin macht er seine ersten Marschirübungen; als fröhlicher Schüler wandert er mit seinen Kameraden singend nach der Ruine; als Jüngling begleitet er sein schmuckes Liebchen den reizenden Weg durch die wogenden Saaten, durch den schattigen Wald nach dem grünen Oybinthal. Sehr viele Brautleute lassen sich in dem kleinen Kirchlein dort trauen; als rüstiger Mann zieht der ehrbare Bürger mit Weib und Kindern nach der lieben Stätte seiner Jugenderinnerungen, und der Genesende macht nach schwerer Krankheit gewiß seine erste Ausfahrt nach dem Oybin.
Vollends eine schöne Mondnacht auf dem Oybin zuzubringen, gehört zu den Hochgenüssen der Natur. Hier oben ist die Luft noch warm und lind, wenn unten im Thal schon die kühlen Nebel streichen. Hier labt sich ein Kreis heiterer Männer an einer kühlen Bowle, deren edler Stoff aus der großen und altrenommirten Rathskellerei des wackern Onkel Schwertfeger zu Zittau stammt, und manch frohes Lied erklingt über das Thal hinüber nach dem Waldgebirge, dessen Echo den Klang dreifach zurückgiebt. Dort scherzt und kost Jugend mit Schönheit bei schäumenden Bechern. Ist dann die Nacht am Himmel aufgezogen, so geht man wohl die wenigen Schritte nach der Kirchenruine, die wie ein Phantasiegebilde, in glühendem Rothlicht erleuchtet, aus den Bäumen hervorscheint, während aus dem Innern der Kirche ein vierstimmiger Männergesang, wie einst zur Zeit der Mönche die Hora, erklingt. Inzwischen ist auch der Vollmond aufgegangen und übergießt mit seinen spielenden Lichtern Bäume, Felsen und Gemäuer. Noch einmal setzen wir uns nieder und horchen dem leisen Rauschen des Waldes unter uns zu; noch einmal erklingen die Gläser voll kühlenden Nasses, und der letzte Becher wird zur Erinnerung an die schöne Sommernacht geleert. Dann wandern wir gemeinschaftlich durch die in Silberglanz getauchten Bogen der Ruine, zwischen denen sich geheimnißvoll die Sträucher in leichtem Nachtwind wiegen, hernieder in das mondbeleuchtete Thal, aus dem uns die freundlichen Lichter in den Hütten entgegenwinken. Ein letztes Lebewohl und frohes Wiedersehen – auf dem Oybin!