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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1873
Erscheinungsdatum: 1873
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 7.   1873.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 16 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Glück auf!
Von E. Werner.


(Fortsetzung.)


Drüben am Landhause wurde die herrschaftliche Equipage aus der Remise hervorgezogen und der Kutscher machte sich daran, die Pferde anzuschirren.

„Das ist ja etwas ganz Neues!“ sagte er zu dem neben ihm stehenden Bedienten, der soeben den Befehl zum Anspannen überbracht hatte. „Der Herr und die gnädige Frau fahren zusammen aus? Den Tag müßte man roth im Kalender anstreichen!“

Der Diener lachte. „Ja, viel Vergnügen werden sie wohl nicht dabei haben, aber es geht nicht anders. Es sollen Gegenbesuche in der Stadt gemacht werden, bei den vornehmen Herrschaften, die neulich zum Diner hier waren, und da schickt es sich ja wohl nicht, daß Jedes allein vorfährt, sonst hätten sie es sicher gethan.“

„Eine curiose Wirthschaft!“ meinte der Kutscher kopfschüttelnd. „Und das nennen sie nun verheirathet sein! Gott bewahre Jeden vor solch einer Ehe!“

Eine Viertelstunde später rollte der Wagen, in dem sich Arthur Berkow mit seiner Gemahlin befand, auf dem Wege hin, der nach der Stadt führte. Das Wetter, das heut Vormittag noch erträglich gewesen war, hatte sich bedeutend verschlechtert. Der ganze Himmel war dicht umzogen; der Wind, fast zum Sturme geworden, jagte die grauen Wolken vor sich her, die von Zeit zu Zeit einen Regenschauer auf die mit Nässe schon überreichlich getränkte Erde herabsandten. Es war überhaupt ein rauhes, stürmisches Frühjahr, so recht geeignet, Städtern den Aufenthalt auf dem Lande gründlich zu verleiden. Obgleich man bereits im Mai stand, zeigten die kahlen, blätterlosen Bäume des Parkes doch kaum die ersten Knospen; der scharfe Wind und die kalten Regengüsse zerstörten zur Verzweiflung des Berkow’schen Gärtners den ganzen Blumenflor, den er so mühsam auf Terrassen und Gartenbeeten schuf, und zerrissen und ertödteten erbarmungslos jede Blüthe, die sich etwa noch im Freien öffnete; die grundlosen Wege, die nassen, verregneten Wälder machten jeden Ausflug, der überhaupt nur im geschlossenen Wagen möglich war, zu einem ebenso unangenehmen als zwecklosen Unternehmen.

Tag für Tag fast Sturm und Regen, grau umzogener Himmel, nebelumflorte Berge, kaum hin und wieder ein matter Sonnenblick, und dazu eine öde, trostlose Häuslichkeit, wo kein Sonnenstrahl je die Nebel durchdrang, die sich dichter und dichter herabsenkten, wo jede Blüthe, die sich vielleicht aufthun wollte, erstarrte in der eisigen Atmosphäre des Hasses und der Bitterkeit, wo zwei Gatten das, was sonst Neuvermählte als das höchste Glück ersehnen, das ungestörte Zusammenleben, als eine Art von Folter empfanden, der ein Jedes so viel als möglich zu entfliehen strebte – es war wahrlich genug, um die tiefe Blässe auf dem Antlitz der jungen Frau zu erklären, den Schmerzenszug um den Mund, den keine Selbstbeherrschung mehr verwischen konnte, den düsteren schwermüthigen Blick, mit dem sie in die Regenlandschaft hinausschaute. Sie hatte ihrer Kraft doch wohl mehr zugetraut, als sie zu tragen im Stande war. Das Opfer war schnell gebracht im Aufflammen des Muthes und der Kindesliebe, aber die Stunden und Tage nach dem Opfer, dies thatenlose Erliegen unter dem selbsterwählten Geschick, das erst fordert den wahren Muth, die vollste Willenskraft in die Schranken, und wie viel Eugenie auch von beiden besitzen mochte, man sah es ihr doch an, wie schwer sie an diesem „Nachher“ trug.

Ihr Gatte, der in der anderen Ecke des Wagens lehnte, möglichst weit entfernt, so daß die Falten ihrer Seidenrobe kaum seinen Mantel berührten, schien nicht viel leichter an seinem Glücke zu tragen. Freilich, sein Gesicht war von jeher so bleich gewesen, das Auge immer so müde, die Haltung stets so theilnahmlos, wie eben jetzt, aber es stand doch ein Zug in seinem Antlitz, der früher nicht dagewesen war, den erst die letzten vier Wochen dort eingegraben hatten, ein bitterer, finsterer Zug, der selbst der gleichgültigsten Blasirtheit nicht mehr weichen wollte.

Er schaute gleichfalls stumm durch das Wagenfenster und machte so wenig wie Eugenie den Versuch, eine Unterhaltung zu beginnen. Sie hatten heut überhaupt erst beim Einsteigen einander zu Gesicht bekommen und dabei einige förmliche Redensarten über das Wetter, die Fahrt und den Zweck derselben ausgetauscht; dann war ein eisiges Schweigen eingetreten, das dem Anschein nach bis zur Ankunft in der Stadt fortdauern sollte. Die Fahrt war auf diese Weise nicht die angenehmste; zwar fühlte man in dem geschlossenen bequemen Wagen nichts von der Witterung draußen, aber selbst die weichsten Polster vermochten nicht ganz vor der schlechten Beschaffenheit des Weges zu schützen, auf dem die schwere Kutsche, trotz der schönen und kraftvollen Pferde, die sie zogen, nur langsam vorwärts rollte. Man hatte ungefähr die Hälfte der Fahrt zurückgelegt und befand sich mitten im Walde, als ein besonders heftiger Stoß den Wagen fast auf die Seite warf. Der Kutscher stieß einen halblauten Fluch aus [106] und hielt die Pferde an; er und der Diener stiegen eiligst vom Bock herunter und es wurde draußen ein lautes Hin- und Herreden laut.

„Was giebt es denn?“ fragte Eugenie, sich unruhig emporrichtend.

Arthur seinerseits zeigte sehr wenig Interesse zu erfahren, was es gäbe; er hätte wahrscheinlich ruhig gewartet, bis man ihm die betreffende Meldung machte, jetzt aber fühlte er sich doch bewogen, das Fenster herabzulassen und die Frage seiner Frau zu wiederholen.

„Aengstigen Sie sich nicht, Herr Berkow!“ sagte der Kutscher, der, die Zügel fest in der Hand haltend, vor den Schlag trat. „Wir sind noch glücklich genug davongekommen, aber um ein Haar hätten wir umgeworfen. An dem Hinterrade muß irgend etwas zerbrochen sein. Franz ist eben dabei, nachzusehen.“

Die Meldung, die Franz nach geschehener Untersuchung zurückbrachte, lautete nicht eben tröstlich. Das Rad war so stark beschädigt, daß es sich als eine Unmöglichkeit erwies, mit dem Wagen in diesem Zustande auch nur hundert Schritte weit zu fahren. Die beiden Diener sahen ihre Herrschaft rathlos an.

„Ich fürchte, wir müssen unter diesen Umständen auf die beabsichtigten Besuche verzichten,“ sagte Arthur gleichgültig, indem er sich zu seiner Frau wandte. „Bis Franz nach Hause zurückkehrt und mit einem neuen Wagen wiederkommt, dürfte es für die Fahrt nach der Stadt doch wohl zu spät geworden sein.“

„Das fürchte ich auch. Es bleibt uns also nichts übrig, als auszusteigen und umzukehren.“

„Auszusteigen?“ fragte Arthur mit offenbarer Verwunderung. „Beabsichtigst Du etwa den Rückweg zu Fuße anzutreten?“

„Beabsichtigst Du etwa so lange im Wagen zu bleiben, bis Franz mit einem anderen zur Stelle ist?“

Arthur schien dies in der That sich vorgenommen zu haben und er hätte es wahrscheinlich auch ausgehalten, zwei volle Stunden lang in der Ecke des Wagens zu liegen, wo er ja vor Wind und Wetter geschützt war, ehe er sich zu einer Fußtour durch den kalten nassen Wald entschloß. Eugenie mochte ihm das wohl ansehen, denn das verächtliche Lächeln trat wieder auf ihre Lippen. „Ich meinestheils ziehe den Rückweg zu Fuße diesem zwecklosen und ermüdenden Warten vor! Franz wird mich begleiten, da er ohnedies zurück muß. Du bleibst wohl jedenfalls im Wagen? Ich möchte um keinen Preis die Verantwortung auf mich nehmen, Dir eine Erkältung zuzuziehen.“

Was der ganze Unfall nicht vermocht hatte, das bewirkte die unverhüllte Ironie dieser Worte; sie scheuchten den jungen Mann aus seiner Ecke auf. Er richtete sich empor, stieß die Thür auf und stand in der nächsten Minute bereits draußen auf dem Wagentritt, ihr die Hand zum Aussteigen bietend. Eugenie zögerte.

„Ich bitte Dich, Arthur –“

„Ich bitte Dich, den Leuten wenigstens kein Schauspiel zu geben, indem Du die Begleitung des Bedienten der meinigen vorziehst. Willst Du die Güte haben?“

Die junge Frau zuckte fast unmerklich die Achseln, aber es blieb ihr nichts Anderes übrig, als die dargebotene Hand anzunehmen, denn Kutscher und Diener standen in der That in unmittelbarer Nähe; sie stieg also aus und Arthur wandte sich zu den Leuten.

„Ich werde die gnädige Frau zurückbegleiten. Seht zu, daß Ihr den leeren Wagen nach irgend einem Gehöfte bringt, wo er vorläufig bleiben kann, und Ihr folgt uns sobald als möglich mit den Pferden.“

Die Diener zogen die Hüte und machten sich daran, den erhaltenen Befehl auszuführen; es war allerdings das Einzige, was unter diesen Umständen zu thun übrig blieb. Mit einer leichten Bewegung lehnte Eugenie den dargebotenen Arm ihres Gatten ab.

„Ich fürchte, wir müssen hier auf den Promenadenschritt verzichten!“ sagte sie ausweichend. „Es muß wohl ein Jeder zusehen, wie er allein vorwärts kommt.“

Sie versuchte dies in der That, aber nur, um schon beim ersten Schritt bis an die Knöchel in dem zähen aufgeweichten Schlamm des Bodens zu versinken, und als sie erschreckt darüber nach der anderen Seite hinüberflüchtete, gerieth sie in zolltiefes Wasser, das unter ihren Füßen aufspritzte; die junge Frau stand rathlos da. So schlimm war ihr der Weg vom Wagen aus denn doch nicht erschienen.

„Hier kommen wir überhaupt nicht vorwärts!“ erklärte Arthur, der inzwischen das gleiche Experiment mit einem ähnlichen Erfolge versucht hatte. „Wir müssen durch den Wald zurück.“

„Ohne Weg und Steg zu kennen? Wir werden uns verirren.“

„Schwerlich! Ich erinnere mich noch aus meinen Knabenjahren ganz deutlich eines Fußpfades, der mitten durch den Wald über die Höhen in’s Thal führt und dabei noch den Vortheil hat, den Weg bedeutend abzukürzen. Wir müssen ihn aufsuchen.“

Eugenie zögerte noch immer, aber die thatsächliche Unmöglichkeit, den zur Hälfte überschwemmten und von den Wagengeleisen noch mehr zerwühlten Fahrweg zu passiren, ließ ihr keine Wahl. Sie folgte ihrem Gatten, der bereits nach links abbog, und wenige Minuten später umfing sie Beide das dichte, dunkle Grün der Tannen.

Auf dem Moos und den Wurzeln des Waldbodens war nun wenigstens die Möglichkeit gegeben, vorwärts zu kommen, das heißt für unverwöhnte Füße. Für einen Herrn und eine Dame, die nur das Parquet des Salons gewohnt waren, denen bei jedem Ausflug Wagen und Reitpferde zur Disposition standen, und deren ganze Fußtouren sich auf einen Spaziergang im Park bei vollendet schönem Wetter beschränkten, bot dieser Weg noch immer Schwierigkeiten genug – und dazu dieser stürmische Nebeltag! Es regnete zwar jetzt nicht mehr, aber die ganze Umgebung triefte vor Nässe, und die Wolken drohten jeden Augenblick einen neuen Schauer herabzusenden. Ueber eine Stunde vom Hause entfernt, mitten im Walde, in den sie auf’s Gerathewohl wie ein paar Abenteurer eindrangen, ohne Wagen und Diener, ohne den geringsten Schutz gegen Wind und Regen – es war in der That eine ebenso ungewohnte als verzweifelte Situation für Herrn Arthur Berkow und dessen hochgeborene Gemahlin.

Die junge Frau fand sich indessen bald mit ihrer gewöhnlichen Entschlossenheit in das Unvermeidliche. Sie hatte schon nach den ersten zehn Schritten die Unmöglichkeit eingesehen, ihr helles Seidenkleid und ihren weißen Burnus zu retten, sie gab daher beides ruhig dem nassen Moose und den tropfenden Bäumen preis und schritt muthig vorwärts. Aber so wenig ihre Toilette für eine solche Wanderung geeignet war, so wenig vermochte dieselbe sie vor der Witterung zu schützen; sie hüllte sich fröstelnd fester in den leichten Cachemir und schauerte unwillkürlich zusammen, als der kalte Wind sie berührte.

Ihr Gatte bemerkte das und blieb stehen. Er hatte, verweichlicht wie er war, trotz des geschlossenen Wagens einen Mantel umgeworfen, der ihn vollkommen schützte. Jetzt nahm er ihn schweigend ab, um ihn um die Schultern der jungen Frau zu legen, diese aber wich mit vollster Entschiedenheit zurück.

„Ich danke! Ich bedarf dessen nicht.“

„Du frierst ja.“

„Durchaus nicht! Ich bin nicht so empfindlich gegen die Witterung wie Du.“

Ohne ein Wort zu sagen, nahm Arthur den Mantel zurück, aber anstatt sich auf’s Neue darin einzuwickeln, warf er ihn nachlässig über den Arm und schritt nun in dem leichten Gesellschaftsanzuge an ihrer Seite hin. Eugenie kämpfte einen aufsteigenden Aerger nieder; sie wußte selbst nicht recht, warum dies Benehmen sie so verletzte, aber sie hätte es weit lieber gesehen, wenn er sich jetzt ängstlich in den verschmähten Mantel gehüllt hätte, um seine kostbare Gesundheit zu schonen, anstatt sich so rücksichtslos Wind und Wetter preiszugeben. Ein ruhiges, überlegtes sich Fügen in das Unvermeidliche war ihre Sache; sie konnte nicht begreifen, wie ihr Gatte dazu kam, dies Recht auch einmal für sich in Anspruch zu nehmen, konnte überhaupt nicht begreifen, wie er, der sich schon bei dem bloßen Gedanken an diese Waldpromenade entsetzt hatte, jetzt deren Unbequemlichkeiten gar nicht mehr zu empfinden schien, während sie schon halb und halb ihren Entschluß bereute. Ein Windstoß riß ihm den Hut vom Kopfe und wehte ihn einen Abhang hinunter, in dessen Tiefe er nicht mehr zu erreichen war. Gelassen sah Arthur dem Flüchtlinge nach und warf mit einer beinahe trotzigen Bewegung das lange braune Haar zurück. Sein Fuß sank bei jedem Schritt tief ein in das nasse Moos, und doch war Eugenien dieser Schritt nie so fest, so elastisch vorgekommen, wie heute. Die schlaffe Haltung ihres Gatten verlor sich mit jeder Minute mehr und [107] mehr, je tiefer sie in die grüne Wildniß eindrangen. Seine sonst so matten Augen späheten scharf nach dem gesuchten Wege umher. Der nasse, finstere Wald schien einen förmlich belebenden Einfluß auf ihn auszuüben, in so tiefen Zügen athmete er die herbe, harzige Tannenluft ein, so schnell führte er seine junge Frau unter den sausenden Wipfeln dahin. Plötzlich blieb er stehen und rief fast triumphirend aus: „Da ist der Weg!“

Sie sahen in der That einen schmalen Fußpfad vor sich, der quer durch den Wald lief und sich in einiger Entfernung zu senken schien. Eugenie schaute etwas verwundert darauf hin; sie hatte es ihrem Manne wirklich nicht zugetraut, daß er im Stande wäre, einen sicheren Führer abzugeben, und sich bereits vollständig auf’s Verirren gefaßt gemacht.

„Du scheinst sehr vertraut mit der Gegend!“ sagte sie, während sie an seiner Seite den Weg betrat.

Arthur lächelte, aber freilich galt dies Lächeln nicht ihr, sondern der Umgebung, die er jetzt forschend musterte.

„Ich werde doch meinen Wald noch kennen! Wir sind alte Freunde, wenn wir uns auch lange, sehr lange nicht gesehen haben.“

Eugenie hob verwundert das Haupt. Den Ton hatte sie noch nie aus seinem Munde gehört; es lag darin eine tief zurückgedrängte Empfindung, die sich gleichwohl in der Stimme verrieth.

„Liebst Du den Wald so sehr?“ fragte sie, unwillkürlich ein Gespräch fortsetzend, das sonst wahrscheinlich wieder in dem gewöhnlichen Stillschweigen sein Ende gefunden hätte. „Weshalb hast Du ihn denn während der ganzen vier Wochen nicht ein einziges Mal betreten?“

Arthur antwortete nicht. Sein Blick verlor sich wie träumend in den grünen nebelumschleierten Tiefen. „Weshalb?“ fragte er endlich düster, „ich weiß es nicht! Vielleicht war ich zu träge. Man verlernt ja zuletzt Alles in Eurer Residenz, sogar die Sehnsucht nach der Waldeinsamkeit.“

„In Eurer Residenz? Ich dächte, Du wärest so gut wie ich dort erzogen.“

„Gewiß! Nur mit dem Unterschiede, daß mein Leben aufhörte, als meine sogenannte Erziehung anfing. Was überhaupt des Erlebens werth war, das ließ ich hinter mir, als ich in jenen Mauern einfuhr; denn lebenswerth waren nur meine frohen sonnigen Knabenjahre.“

Es war ein halb bitterer, halb grollender Ton, mit dem er die Worte hinwarf. Aber auch in Eugeniens Innerem quoll jetzt wieder die alte Bitterkeit heiß empor. Wie durfte er es wagen, von Aufgeben, von Entsagung zu sprechen? was wußte er überhaupt davon? Für sie freilich war mit der Kindheit auch das Glück zu Ende gewesen; für sie begann mit dem Eintritte in’s Leben die ganze Stufenleiter von Sorge, Demüthigung und Verzweiflung, die sie als Vertraute ihres Vaters, als Eingeweihte in die Verhältnisse ihrer Familie durchzumachen hatte, die bittere Schule, die wohl ihren Charakter gestählt, aber ihr auch alle Freuden der Jugend geraubt hatte. Wie war dagegen die Stellung ihres Gatten, wie seine Vergangenheit gewesen! Und er sprach davon wie von einem Unglück!

Arthur schien diese Gedanken auf ihrem Gesichte zu lesen, als er sich umwandte, um einen tief niederhängenden Zweig bei Seite zu schieben, der sie sonst gestreift hätte.

„Du meinst, ich hätte am wenigsten Grund, mich zu beklagen? Möglich! Wenigstens ist mir von jeher gesagt worden, daß mein Dasein ‚beneidenswerth‘ sei. Aber ich versichere Dir, es ist bisweilen verzweifelt öde und trostlos, solch ein Leben, wo das Glück Einem all’ seine Gaben vor die Füße schüttet, die man eben deshalb mit Füßen tritt, weil man nichts weiter mit ihnen anzufangen weiß, so öde und trostlos, daß man zuletzt um jeden Preis hinaus möchte aus dieser vielgepriesenen vergoldeten Glückseligkeit, hinaus – und wäre es auch in Sturm und Unwetter!“

Die dunkeln Augen Eugeniens hingen in sprachlosem Erstaunen an seinen Zügen. Urplötzlich ergoß sich eine helle Röthe über sein Gesicht. Er schien sich auf einmal zu besinnen, daß er sich des unverzeihlichen Fehlers schuldig gemacht, vor seiner Gattin irgend ein Gefühl zu verrathen. Der junge Mann runzelte die Stirn und warf einen grollenden Blick auf den Wald, der ihn zu diesem Ausbruch verleitet, aber schon in der nächsten Secunde fiel er völlig wieder in den alten blasirten Ton zurück.

„Sturm und Unwetter haben wir freilich mehr, als uns lieb ist!“ sagte er nachlässig und im Vorwärtsschreiten ihr völlig den Rücken zuwendend, „das tobt ja entsetzlich auf der freien Höhe da oben! Wir werden warten müssen, bis das ärgste Wehen vorüber ist; so können wir nicht hinunter.“

In der That überfiel sie beim Heraustreten aus dem Walde der Sturm mit einer solchen Gewalt, daß sie Mühe hatten, sich auf den Füßen zu halten. Es war augenblicklich unmöglich, aus dem Wege, der sich jetzt steil und offen in’s Thal hinabsenkte, weiter vorwärts zu kommen; man gerieth in Gefahr, von dem Winde erfaßt und in die Tiefe geschleudert zu werden. So blieb vorläufig nichts übrig, als hier im Schutze der Bäume zu warten, bis eine Pause in dem Toben der Lüfte eintrat.

Sie standen unter einer mächtigen Tanne, die am Saume des Waldes aufragte. Der Sturm wühlte in ihren grünen Armen, die sie schützend über ihre jüngeren Gefährten ausbreitete, und auch sie schwankte ächzend auf und nieder; aber der riesige weißgraue Stamm bot doch immerhin einen Halt und einen Schutz für Eugenie, die sich daran lehnte. Es wäre zur Noth dort Platz für zwei Personen gewesen, aber dann hätten sie sich eng aneinander drücken müssen, und diese Erwägung war es vermuthlich, die Arthur bestimmte, einige Schritte von ihr entfernt stehen zu bleiben, obgleich er dort nur sehr unvollkommen geschützt war, und die auf- und niederwehenden Zweige ihre beim letzten Regenschauer vollauf empfangene Nässe reichlich auf ihn niederschüttelten. Sein Haar flatterte im Wind, und die Tropfen rannen ihm von der unbedeckten Stirn nieder. Dennoch machte er nicht den geringsten Versuch, seinen Platz zu ändern.

„Willst Du – willst Du nicht lieber hierher kommen?“ fragte Eugenie zögernd, während sie sich seitwärts drückte, um ihm auf der einzigen trockenen Stelle etwas Raum zu geben.

„Ich danke! Ich möchte Dir mit meiner Nähe nicht beschwerlich fallen!“

„So nimm wenigstens den Mantel um!“ Es klang diesmal fast wie eine Bitte. „Du wirst ja völlig durchnäßt!“

„Durchaus nicht. Ich bin nicht so empfindlich gegen die Witterung, wie Du glaubst.“

Die junge Frau biß sich auf die Lippen. Es ist nicht angenehm, mit seiner eigenen Waffe geschlagen zu werden, aber noch weit mehr als dies reizte sie der Trotz, mit dem er Wind und Wetter über sich ergehen ließ, einzig um ihr eine Lehre zu geben. Sie fand freilich diesen Trotz unbeschreiblich lächerlich; sie litt doch wahrlich nicht darunter und ihr war es beinahe gleichgültig, ob er sich dadurch eine Erkältung, eine Krankheit zuzog, oder nicht, aber es reizte sie nun einmal, daß er so gelassen dastand und mitten im Sturm seinen Platz behauptete, vielleicht mit Anstrengung, aber doch behauptete, er, der eine halbe Stunde vorher noch schläfrig und fröstelnd in den Polstern des bequemen Wagens gelegen hatte und jeden Luftzug, der etwa durch die Glasfenster eindrang, peinlich zu empfinden schien. Brauchte er wirklich erst Sturm und Unwetter, um ihr zu zeigen, daß er doch nicht so ganz der Weichling war, für den sie ihn gehalten?

Arthur sah indessen nicht aus, als ob er ihr überhaupt irgend etwas zu zeigen beabsichtige; er schien im Augenblick ihre Nähe ganz vergessen zu haben. Mit verschränkten Armen stand er da und schaute auf das Waldgebirge, dessen größten Theil man von der Höhe hier übersah. Langsam schweifte sein Auge von einer Bergspitze zur anderen, und Eugenie machte dabei auf einmal die überraschende Entdeckung, daß ihr Gatte doch eigentlich sehr schöne Augen habe. Das überraschte sie in der That, sie hatte bisher nur gewußt, daß dort unter den halbverschleiernden Lidern etwas Müdes, Schläfriges ruhe, und sich nie die Mühe genommen, es weiter zu beachten. Wenn er einmal aufschaute, so geschah es ja stets so langsam, so träge, als koste ihm der Blick eine unendliche Mühe und sei doch nicht der Mühe werth; und doch war dieser Blick wohl werth, gesehen zu werden. Man hätte, nach dem Ausdrucke des Gesichtes zu urtheilen, unter den meist gesenkten Wimpern ein mattes kaltes Blau vermuthen sollen; statt dessen leuchtete dort ein klares, tiefes Braun, zwar auch noch matt, auch noch leblos, aber es schien doch, als könnten diese Augen einmal aufleuchten in Energie und Leidenschaft, als sei eine längst versunkene und vergessene Welt tief hinter diesem dunklen Blick gebannt und warte nur auf das erlösende Wort, um wieder heraufzusteigen aus der Tiefe. – In der jungen [108] Frau zuckte wieder die Ahnung empor, die sie schon vorhin im Walde überkam, als er sich so plötzlich von ihr wandte, der Argwohn, als habe der Vater mit seiner Erziehung hier viel, unendlich viel verschuldet und zerstört, mehr als er je verantworten, mehr als er je wieder gut machen konnte.

Sie standen beide einsam da oben auf der Höhe. Im Nebelschleier lag der Wald da, dicht umflort von den grauen Schatten, die sich bald fest an die dunklen Tannen klammerten, bald in flatternden Streifen an ihren Wipfeln hingen, bald gespenstig über den Boden hinschwebten. Und die gleichen Nebelschleier schwebten und flatterten auch über dem Gebirge drüben, bald zerreißend, bald sich zusammenballend, um die dunklen Gipfel und in den dampfenden Thälern. Es war ein Wallen und Wogen ohne Ende, ein Sinken und Steigen, jetzt als wollten Berge und Wälder sich aufthun in ihren fernsten Tiefen, jetzt als wollten sie sich verschließen vor jedem Menschenauge. Ringsum brauste der Sturm und wühlte in den hundertjährigen Tannen wie in einem Kornfelde; ächzend schwankten die mächtigen Stämme auf und nieder; sausend bogen sich die Wipfel, und über ihnen dahin jagten die grauen Wolken, gährende, gestaltlose Massen, in wilder regelloser Flucht. Es war ein Unwetter, wie nur je eins im Schooße des Gebirges emporstieg, und doch waren es Frühlingsstürme, die da oben brausten! Auf diesen sausenden Schwingen kam der Frühling gezogen, nicht sonnig lächelnd wie drunten in der Ebene; hier kam er rauh, wild und gewaltsam, aber es war doch sein Athem, der in diesem Sturme wehte, sein Ruf, der aus diesem Brausen klang. Es liegt etwas in dem Wesen der Frühlingsstürme, wie eine Verheißung all’ des Sonnenglanzes und Blüthenduftes, der sich nun bald über die Erde ausgießen wird, wie eine Ahnung all’ des mächtig schaffenden Lebens, das schon seine tausend Keime empor zum Lichte ringt. Und sie hörten den Ruf und antworteten ihm, die brausenden Wälder, die stürzenden Bäche und dampfenden Thäler. In diesem Brausen und Schäumen und Toben, da klang doch nur das Aufjauchzen der Natur, die nun endlich die letzten Fesseln des Winters abwarf, klang ihr Jubelruf, mit dem sie den nahenden Retter begrüßte: Der Frühling kommt!

Es ist etwas Geheimnißvolles, solch eine Frühlingsstunde, und die Sagen des Gebirges leihen ihr einen eigenen, romantischen Zauber. Sie erzählen von dem Berggeiste, der dann durch sein Reich hinschreitet und dessen Macht in einer solchen Stunde auch segnend oder verheerend in das Leben der Menschen tritt, die in diesem Reiche weilen. Was sich da findet, das gehört zusammen für immer, und was sich da trennt, das trennt sich für alle Ewigkeit. Sie brauchten sich freilich nicht erst zu finden, die Beiden auf der Höhe da oben; sie waren verbunden durch das festeste Band, das zwei Menschen nur einigen kann, und doch standen sie sich so fern, und doch waren sie einander so fremd, als lägen Welten zwischen ihnen. Das Stillschweigen hatte bereits eine geraume Zeit gedauert. Eugenie brach es zuerst.

„Arthur!“

Er schreckte wie erwachend auf und wandte sich zu ihr.

„Du wünschest?“

„Es ist so kalt hier oben – willst Du mir jetzt nicht – Deinen Mantel leihen?“

Wie vorhin stieg wieder eine helle Röthe auf in dem Antlitz des jungen Mannes, als er sie in sprachloser Verwunderung anblickte. Er wußte, daß die stolze Frau lieber erstarrt wäre in dem eisigen Winde, als daß sie sich herabgelassen hätte, um die einmal verschmähte Hülle zu bitten, und dennoch that sie es jetzt in diesem stockenden Tone, mit diesen niedergeschlagenen Augen, mit denen man ein begangenes Unrecht eingesteht. In der nächsten Minute schon stand er neben ihr und bot ihr den Mantel hin. Sie ließ es schweigend geschehen, daß er ihn um ihre Schultern legte; aber als er nun wieder an seinen Platz zurückkehren wollte, traf ihn ein Blick stummen, ernsten Vorwurfs. Arthur schien noch eine Secunde lang zu zögern; aber hatte sie nicht etwas gethan, das beinahe einer Abbitte glich? Er ließ gleichfalls seinen Trotz fahren und blieb an ihrer Seite.

Aus dem Thale war eine Nebelwand aufgestiegen und lagerte jetzt so dicht um die Beiden, als wollte sie dieselben festhalten an diesem Orte. Berge und Wälder verschwanden in dem grauen Dunst; nur die Tanne ragte mächtig daraus empor und blickte ernst nieder auf die zwei Menschen, die sich in ihren Schutz geflüchtet. Ueber ihnen rauschten und wehten die dunklen Zweige wie mit tausend seltsamen geheimnißvollen Stimmen, und dazwischen brausten die volleren Accorde des Waldes – es war so angstvoll beklemmend in diesem Nebel, unter diesem Wehen und Rauschen. Eugenie fuhr plötzlich auf, als müsse sie sich einer Gefahr entreißen, die sie umstrickt hielt.

„Der Nebel wird immer dichter,“ sagte sie gepreßt, „und das Wetter immer unheimlicher! Glaubst Du, daß irgend eine Gefahr für uns auf diesem Wege vorhanden ist?“

Arthur blickte in die wogende Dunstmasse und strich sich mit der Hand die Tropfen aus dem feuchten Haar.

„Ich kenne unsere Berge nicht genug, um zu wissen, in wieweit ihre Stürme gefährlich werden können. Und wenn es nun der Fall wäre, würdest Du Dich fürchten?“

„Ich bin nicht furchtsam, und doch zagt man immer, wo es sich um das Leben handelt.“

„Immer? Ich dächte, das Leben, das wir in diesen vier Wochen geführt haben, wäre nicht derart gewesen, daß man zittern müßte, es auf’s Spiel zu setzen, zumal für Dich nicht!“

Die junge Frau senkte das Auge. „Ich bin Dir, so viel ich weiß, noch mit keiner Klage lästig gefallen,“ erwiderte sie leise.

„O nein! Ueber Deine Lippen kommt gewiß keine Klage. Wenn Du nur so gut wie die Klagen der Lippen auch die Blässe der Wangen zurück zwingen könntest! Du thätest es sicher, aber daran scheitert selbst Deine Willenskraft. Glaubst Du, daß es mir so große Freude macht, zu sehen, wie mein Weib sich an meiner Seite schweigend verblutet, weil das Schicksal sie nun einmal an diese Seite gezwungen hat?“

Jetzt war es Eugenie, die tief und glühend erröthete; aber es war nicht der Vorwurf in seinen Worten, der diese Gluth auf ihre Wangen rief, nur der seltsame Ausdruck, den er zum ersten Male ihr gegenüber gebrauchte. „Mein Weib!“ hatte er gesagt. Ja freilich, sie war ihm angetraut, aber es war ihr noch niemals eingefallen, daß er ein Recht haben konnte, sie „sein Weib“ zu nennen.

„Weshalb berührst Du denn jetzt diesen Punkt wieder?“ fragte sie sich abwendend. „Ich hoffte, es sei mit jener ersten nothwendigen Erklärung zwischen uns für immer abgethan.“

„Weil Du Dich in dem Irrthume zu befinden scheinst, ich wolle Dich zeitlebens in den Fesseln halten, die mir wahrlich so drückend sind, wie sie Dir nur je waren.“

Der Ton klang eisig kalt, und doch blickte Eugenie rasch zu ihm auf, aber sie vermochte nicht das Geringste in seinem Gesichte zu lesen. Warum verschleierten sich denn diese Augen immer wieder, sobald sie es versuchte, darin zu forschen? Wollten sie ihr nicht Rede stehen oder fürchteten sie sich davor?

„Du sprichst von einer – Trennung?“

„Meinst Du, ich hätte eine dauernde Ehe zwischen uns für möglich gehalten nach jenen Ausdrücken von Hochachtung, die ich am ersten Abende aus Deinem Munde hören mußte?“

Eugenie schwieg. Ueber ihrem Haupte rauschten und wehten wieder die grünen Tannenarme; die Waldesstimme drang mahnend und warnend herab zu den Gatten, die eben im Begriff standen, das Trennungswort auszusprechen, denn Keiner von Beiden wollte die Warnung verstehen.


(Fortsetzung folgt.)




Ein Sänger von Gottesgnaden.


Es giebt ganze Sänger, dazu aber nur halbe Schauspieler. Es giebt ganze Schauspieler, dazu aber nur halbe Sänger. Endlich giebt es auch ganze Sänger und ganze Schauspieler. Der letzten Art einer ist der Leipziger Sänger und Schauspieler Eugen Gura.

Eugen Gura, dessen treues Bild die Gartenlaube bringt, ist seit zwei Jahren als erster Baritonist am Leipziger Stadttheater angestellt, „ein Sänger von Gottesgnaden“, wie ihn zuerst Andere, nicht ich, genannt haben, welche Bezeichnung ich aber vollständig acceptire, wie gewiß Alle, die seine Leistungen kennen,

[109]

Eugen Gura.
Originalzeichnung von Adolf Neumann.

und wie Diejenigen zugeben werden, welche der folgenden, nach Möglichkeit treuen objektiven Schilderung Glauben schenken wollen.

Er trat zum ersten Mal in Leipzig auf am 5. November 1870 als Wolfram von Eschenbach in Wagner’s „Tannhäuser“. Einen größeren Beifall, als er an jenem Abend fand, kann es nicht geben. „Aber Herr, wie lange?“ fragt der Theatererfahrene bei solchen Gelegenheiten, und wenn er ein gutes Herz hat, nicht ohne Anflug von Mitleid. Solche, mit dem lärmendsten Beifall aufgenommene Debuts sind in der Bühnenwelt nichts so gar Seltenes. Da zeigt der Schauspieler oder Sänger seine beste Seite, das heißt die Rolle, die den Culminationspunkt seines relativen Könnens bildet. Eine oder ein paar gute Rollen bringt allenfalls auch ein mäßiges Talent fertig, wie ja, nach Lichtenberg’s Versicherung, jeder Mensch einmal im Jahre ein Genie ist. Was wird man aber sagen, wenn ich bemerke, daß Eugen Gura in allen Partien, die er seit zwei Jahren ausgeführt hat, ohne Ausnahme dieselben glänzenden Erfolge, denselben enthusiastischen Beifall fort und fort genossen hat und genießt!

Die hauptsächlichsten Rollen, welche derselbe bis jetzt in Leipzig gespielt, sind folgende: Hans Heiling, Vampyr, Templer, Tristan d’Acunha (Jessonda), Jäger (im Nachtlager zu Granada), Pizarro (Fidelio), Fliegende Holländer, Hans Sachs, Almaviva (in Mozart’s Figaro’s Hochzeit), Don Juan, Jakob (Mehul’s Joseph in Aegypten), Graf Rudolph (Nachtwandlerin), St. Bris (Hugenotten), Graf Telramund (Lohengrin) Wolfram von Eschenbach (Tannhäuser), Wilhelm Tell, Relusko (Afrikanerin), Graf Lima (Troubadour), Seneschall (Johann von Paris), Belisar (in der gleichnamigen Oper), Hanmet (Thomas), Graf Lysian (Euryanthe), Kühleborn (Undine). Ueber alle diese Rollen lauten die öffentlichen Urtheile ohne Ausnahme ebenso günstig, wie die beim ersten Auftreten. Freilich ist Eugen Gura von Leipzig aus als dramatischer Sänger auf keiner einzigen auswärtigen Bühne wieder aufgetreten, wohl aber in verschiedenen anderen Städten als Concertsänger, vorzüglich mit dem Vortrag von Liedern und Balladen. Aber auch in diesem Punkte lauten die Kritiken aus allen Orten, wo er gesungen, Frankfurt a. M., Köln, Düsseldorf etc., ganz ähnlich. In Zürich sang er am […] und 7. November 1871 in Schumann’s „Faust“; die in dem Bericht darüber ihn betreffende Stelle lautet:

„In Herrn Gura lernten wir einen Bariton kennen, der Eigenschaften eines vortrefflichen Sängers in sich vereinigt: metallreiche und doch weiche und elastische Stimme mit gleichmäßigem Anschlag in allen Lagen, eine so deutlich, articulirte Aussprache, daß man in den entferntesten Theilen den Saales jede Silbe versteht, dazu einen fein durchdachten und fein nüancirten Vortrag voll Wärme und Innigkeit. Seine Darstellung des Faust war unübertrefflich schön und an manchen Stellen geradezu bezaubernd.“ Als eben so unübertrefflich schön und charakteristisch wird überall, [110] wo er gehört worden, sein Vortrag der Lieder und Balladen gerühmt. – „In ihm begrüßten wir einen Rivalen Stockhausen’s, und das will viel sagen,“ heißt es in einem andern Bericht aus derselben Stadt.

Hierzu noch einige ergänzende Bemerkungen. Man ersieht aus dem mitgetheilten Rollenverzeichniß zunächst, daß unserem dramatischen Sänger Aufgaben von der größten Mannigfaltigkeit und Verschiedenheit zufallen. Er tritt in tragischen, hochleidenschaftlichen und dämonischen Partien auf, nicht weniger in heiteren, graziösen, humoristischen, und zwar in deutschen, französischen und italienischen Opern. Allen diesen Aufgaben wird er in gleich vorzüglicher Weise gerecht; das vermögen aber nur die Künstler, welche ihre Subjectivität zu verleugnen und sich in jede fremde Person, die ihnen der Dichter vorzeichnet, zu verwandeln verstehen, nämlich die objectiven Schauspieler. Darauf war und ist Gura’s Streben von Anfang seiner theatralischen Laufbahn an mit allen Sinnen gerichtet; und diesem Streben kam ein höchst glücklicher Umstand erleichternd zu Hülfe. Gura hatte sich früher der Malerei gewidmet; er studirte drei Jahre auf der Münchener Akademie und mit solchem Ernst und Fleiß, daß er auch in diesem Fach als ein tüchtiger Meister hervorging. Sein reiches Album trefflicher Genre- und Charakterbilder liefert einen interessanten Beweis dafür. Der Historien- und Genremaler aber ist vor Allem auf die schärfste Beobachtung des Menschen in allen seinen verschiedenen Gestalten, Trachten, Handlungen und Charakteren angewiesen, und wie sich deren innere Empfindungen durch äußere Zeichen ankündigen. Hieraus erklärt sich Gura’s überaus mannigfaltiges Gestenspiel und seine nüancenreiche Mimik, die überall dem Charakter und der Situation naturgetreu nachgebildet sind.

Als einen besonderen Vorzug betrachte ich Eugen Gura’s sorgfältige Beachtung und Ausarbeitung des stummen Spiels. Im wirklichen Leben bleibt das niemals aus, auf der Bühne nur gar zu oft. Es giebt viele Mimen, die nur agiren zu müssen glauben, so lange sie reden, aber ganz gemüthlich ruhen, sobald Andere sprechen. Man hört und sieht ja nicht mehr auf dich, wenn Andere reden und handeln, denken solche Leutchen, was sollst du dir vergebliche Mühe mit einem besonderen stummen Spiele machen? Mag aber die Kette der leidenschaftlichen Momente äußerlich durch die Reden Anderer unterbrochen werden, im Innern jeder Person läuft sie ununterbrochen fort, und wenn die Zunge schweigen muß, reden die Mienen und Bewegungen des Körpers und der Glieder weiter. – Wie Gura überall nach objectiver Wahrheit strebt und nach den Lehren Hamlet’s „die Gebehrde zu den Worten und die Worte zur Gebehrde passen läßt“, so thut er dieses nicht blos zu seinen Worten, sondern auch zu den Worten und Gebehrden der Mithandelnden und Redenden. Hierdurch gewinnen seine Darstellungen jene durchgängige Harmonie, d. h. jene Einheit der Gestalt und des Charakters, sowie jene objective Eigenthümlichkeit, wodurch sich jede seiner Rollen von der anderen scharf abscheidet.

Freilich hat es die Natur mit Gura ganz besonders gut gemeint. Sie hat ihm eine reiche Einbildungskraft, ein leicht erregbares Gemüth, einen scharfen Verstand und dazu eine männlich schöne, kräftige Gestalt verliehen, endlich ein Antlitz, – nun, das haben ja die Leser und Leserinnen der Gartenlaube jetzt in einem ganz vortrefflich gelungenen, treuesten Abbilde vor Augen, und ich glaube, daß Niemand unter den Millionen, die es betrachten, ihm Geist und Liebenswürdigkeit absprechen wird.

Eben nun, als ich zum Schluß die Lebens- und Bildungsgeschichte unseres Künstlers zu skizziren mich anschicke, fällt mir noch ein Gedanke ein, den ich nicht zurückhalten will. Wie viele Theatergänger haben wohl schon einmal daran gedacht, welche Schwierigkeiten alle der dramatische Sänger zu überwinden hat, bevor er mit seiner Darstellung auf der Bühne erscheinen kann, und die noch viel größeren Schwierigkeiten, wenn er wirklich darauf erscheint?

Ich meine den Unterschied der geistigen Prozeduren bei Entwurf und Ausführung der Aufgabe des Schauspielers, und der viel größeren Schwierigkeiten, die er zu besiegen hat, verglichen mit dem Verfahren der Schaffenden in allen anderen Kunstgebieten. Der Dichter, der Maler, der Bildhauer, der Componist, der Architekt, sie alle können mit ihrer Einbildungskraft und ihrem Verstande über ihrer Idee brüten, so lange, bis sie ihnen fertig und klar vor dem Geiste steht. Zur Ausführung, zur äußeren Veranschaulichung derselben aber stehen ihnen nach Belieben Wochen, Monate, Jahre zu Diensten; sie arbeiten an dem Werke, wenn sie Lust und Stimmung haben, und setzen aus, wenn jene fehlen. Ihr Hauptvortheil jedoch ist, sie dürfen ändern, zusetzen, wegstreichen, feilen und verbessern, bis sie mit dem Ganzen zufrieden sind.

Nun aber, der Schauspieler! – Es heißt freilich, seine Aufgaben seien leichter, denn er schaffe ja nicht, er reproducire nur. Er empfange ja vom Dichter seine Aufgabe. Der schreibe ihm Alles vor, Charakter, Handlung, Reden der Person, die er vorzustellen habe.

So? Und also wäre das Was beim Kunstwerke die Hauptsache? Man sollte meinen, es wäre das Wie – der Ausführung! Nicht der Gegenstand macht es, sondern die Behandlung desselben. In der Behandlung, der Ausführung aber kann sich der echte Schauspieler ebenso selbstschöpferisch zeigen, wie jeder andere Künstler, und zeigt sich oft schöpferischer als der dramatische Dichter selbst. So ist, um nur ein Beispiel anzuführen, der Carlos in Goethe’s Clavigo jahrelang für eine unbedeutende Nebenpartie gehalten worden, bis Seydelmann kam und sie – reproducirte? nein, wahrlich, durch seine nach der Natur aufgefaßte Ausführung zu einer höchst dankbaren Gastrolle umschuf.

Damit ist aber die Hauptschwierigkeit der Schauspielerkunst noch nicht berührt. Diese liegt darin, daß der Künstler sein zu Hause in der Einbildungskraft nur entworfenes Menschen- und Charakterbild durch sich selbst, an seiner eigenen Person zur Darstellung und Anschauung bringen, fix und fertig, lebendig in wenigen Stunden hinstellen und ausprägen muß. Er kann nicht, wie jeder andere Künstler, ändern, was ihm nicht im Augenblick gelungen, er kann nicht inne halten und etwa zum Publicum sagen: „Hochverehrte Zuschauer, mit der eben gespielten Scene bin ich nicht zufrieden, die ist mir nicht gelungen. Ich muß für heute aufhören; bitte, kommen Sie gefälligst morgen wieder, da hoffe ich sie besser auszuführen.“ Es ist dies nicht ganz Fiction. Ich weiß aus unseres Gura eigenem Munde, daß er nach manchem Momente, das in seinen Augen nicht seiner Intention genügt, gern so zum Publicum spräche.

Und wieder mehr noch als der bloße Schauspieler hat der dramatische Sänger mit Schwierigkeiten zu kämpfen, denn wenn jener doch mit der Bestimmung seiner Gesten und Bewegungen gewissermaßen noch ein freier Mann ist, insofern er nur den Vorschriften des Dichters zu gehorchen hat, so ist dieser zugleich ein Sclave des Componisten, der ihn durch die ganze Partie an der Leine des Tactes und Tempos führt, nach welcher er alle seine Bewegungen auf’s Minutiöseste einzurichten und zu berechnen hat. Welch ein anhaltendes, anstrengendes, geistiges Vorherdenken aber und Vorherberechnen aller Momente unter jenen strengen Bedingungen gehört beim Einstudiren einer Singpartie dazu, bis alles Dieses in der Phantasie festgestellt und dem Gedächtniß sicher eingeprägt ist! Wer aber von allen den Zuschauern und Zuhörern denkt nun an diese Schwierigkeiten, wenn er den armen, an allen Ecken und Enden gefesselten Sclaven seine Rolle bei der Aufführung so leicht und sicher hinspielen sieht, als wäre er der freieste Mann unter der Sonne? Es sind nur leise und unvollständige Andeutungen, die ich in der Eile über diesen Punkt gebe, denn noch lange nicht sind damit die Schwierigkeiten des Theaterspiels erschöpft, die noch weiter entstehen, z. B. durch die Mitspieler etc. Und erst wenn alle dem Publicum zum Bewußtsein kommen, würde die rechte Schätzung der Schauspielkunst gegenüber den anderen Künsten gewonnen werden können.

Mögen nun diesen Artikel einige Notizen über die Lebens- und Bildungsgeschichte unseres Künstlers vervollständigen.

Gura, ein Deutsch-Böhme, ist am 8. November 1842 in dem weit vom Weltverkehr abgelegenen Dorfe Pressern bei Saatz geboren, wo sein Vater noch heute als Volksschullehrer lebt. Vom fünften Jahre an ertheilte der musikalisch tüchtig gebildete Vater dem Knaben neben den gewöhnlichen Schulstunden regelmäßigen Clavierunterricht, und mit so gutem Erfolge, daß der kleine Gura in seinem achten Jahre schon von den benachbarten Schulmeistern in Betreff des Clavierspiels als eine Art Wunderkind angestaunt wurde.

In seinem zwölften Jahre wurde er nach Komotau in die [111] Realschule geschickt. Er sollte Mechaniker oder Chemiker oder Baumeister werden. Aber weder die hier verbrachten drei Jahre, noch die ebensolange Studienzeit auf der Oberrealschule in Rakonitz, einem altersgrauen Städtchen im Prager Kreise, konnten ihm die fehlende Liebe für die trockenen mathematischen Formeln beibringen. Dennoch folgte er dem väterlichen Gebot, das ihn im Herbst des Jahres 1860 nach Wien in das polytechnische Institut wies. Dort zeigten Theater und Bildergallerie erst recht ihm seinen Lebensgang, und obwohl schon damals ihm der Beruf eines dramatischen Sängers als das beneidenswertheste Loos erschien, so war er doch schon glücklich, als sein Vater mit schwerem Herzen seinem dringenden Wunsche, Maler zu werden, nachgab und ihn die Akademie in Wien besuchen ließ. Nach einem Jahre siedelte er nach München über. Dort machte er bald die erfreulichsten Fortschritte und glaubte nun auf dem ihm bestimmten Lebens- und Kunstpfade zu wandeln. Da ward durch ein an und für sich geringfügiges Ereigniß in seinem Leben der wichtigste und für immer entscheidende Wendepunkt herbeigeführt. Schon längst hatten Bekannte und Freunde sich an dem wohllautenden Bariton erfreut, mit welchem er die Lieder vortrug. Bei Gelegenheit eines heitern Weihnachtsfestes, welches eine Künstlergesellschaft anstellte, der auch der junge Maler angehörte, sang er, nach Beendigung einer tragikomischen Ritterkomödie, worin er den grausamen Vater der „Kunigunde“ spielte, mehrere Lieder, wodurch er die Aufmerksamkeit seines Lehrers Anschütz erregte, der Art, daß er ihm sogleich ernstlich rieth, einen umfassendern Gebrauch von seiner Gesangsgabe zu machen, ja vielleicht einst seinen Beruf darin zu suchen.

Diesem Winke folgte er, nachdem ihm jener bei dem damaligen Director des Münchener Conservatoriums für Musik, Franz Hauser, einen Freiplatz in erwähntem Institute ausgewirkt, und nachdem er etwa zwei Jahre das Conservatorium besucht hatte, entschloß er sich endlich fest, auf der Bühne als dramatischer Sänger sein Glück zu versuchen. Generalmusikdirector Franz Lachner forderte ihn zu einem Probegesang auf dem Münchener Hoftheater auf, und nachdem dieser zur Zufriedenheit ausgefallen, wurde Gura im April des Jahres 1865 für die königliche Hofbühne auf die Dauer von drei Jahren engagirt.

Am 14. September 1865, an seinem dreiundzwanzigsten Jahre, betrat Gura zum ersten Male die Bühne als Graf Liebenau in Lortzing’s „Waffenschmied“. Trotz des großen Beifalls, den er erhielt, fühlte er recht gut, wie viel ihm noch fehlte. Seine Stimme reichte damals kaum für die großen Räume des Hoftheaters aus. Spiel und Bewegungen waren zaghaft und schüchtern. Im September 1867 ging er nach Breslau, wo er von dem Director Lobe an dem neuerbauten Stadttheater ein vortheilhaftes Engagement erhielt. Dort erreichte er, nachdem er vorher noch manche herbe Täuschung erlebt, nach Verlauf eines Jahres, durch beharrlichstes Studium, durch häufige mannigfache Beschäftigung auf den Brettern, eine bedeutend höhere Stufe und errang Erfolge, die er sich früher nie hätte träumen lassen. Ein Glück für ihn war, daß der Director Lobe, selbst ein trefflicher Schauspieler, die Befähigung des neuengagirten Mitgliedes sogleich erkannte und Gura allmählich in immer bedeutenderen Rollen vorführte und selbst im Schauspiel verwandte; Gura spielte zum Beispiel den Talbot in der „Jungfrau von Orleans“ etc. Dadurch gewann er schließlich seine Sicherheit des Auftretens, seine Beherrschung in den Bewegungen, seine Deutlichkeit in der Declamation. Außerdem nahm sein Organ durch fortgesetzte Uebung bedeutend an Kraft, Glanz und zäher Ausdauer zu, so daß er leicht an zwei aufeinander folgenden Tagen die Baßpartie des Gaveston in der „Weißen Dame“ und die schwierige hochliegende Partie des Bois Guilbert in Marschner’s „Templer und Jüdin“ singen konnte.

In Folge des ausbrechenden Krieges von 1870 sah sich der Breslauer Director genöthigt, die Verträge mit sämmtlichen Mitgliedern zu lösen, und so konnte Gura einen Contract auf zwei Jahre mit dem Leipziger Stadttheater abschließen. Mit diesem Moment waren die Lehrjahre Gura’s vorbei, und der Meister stand fertig da.

Wie er nun am 5. September 1870 den Wolfgang von Eschenbach und als zweite Partie den „Tell“ sang, was er von da an bis heute gewirkt, und wie das Publicum ihn als einen seiner größten Lieblinge betrachtet, habe ich oben bereits berichtet.

Schließlich will ich noch eine Bemerkung machen, welche mir manche wirkliche und viele eingebildete Genies übel nehmen werden. Ich bin gegen die Forderung, daß man den Künstler vom Menschen scheiden müsse. Nur was Jener zeige, gehöre vor die Oeffentlichkeit, das Privatleben gehe Niemanden was an. Nun meinetwegen: decke man den Mantel der christlichen Liebe über die Schwächen und Gebrechen aller der Künstler, die des Zudeckens bedürfen. Ich darf aber doch wohl sagen, und es wird den sämmtlichen Lesern der Gartenlaube kein unangenehmes Gefühl erwecken, daß unser Eugen Gura ein liebevoller, dankbarer Sohn, ein braver Gatte und Vater ist, ein Mann von Ehre, der niemals wortbrüchig aus seinem Contract herausspringen wird, wenn er auch in fremden Welttheilen Millionen gewinnen könnte; der seine besten aufopferndsten Freunde nicht mit dem schwärzesten Undank belohnt; kurz ein Mann, der abermals ein Beispiel liefert, daß man ein ausgezeichneter Künstler und zugleich ein rechtschaffener Mensch sein kann.
J. C. Lobe.


Ueber Hypnotismus bei Thieren,[1]

nebst gelegentlichen Bemerkungen über Naturwissenschaft und Spiritismus, Geistermanifestationen u. dergl.
Von Prof. Joh. Czermak.

Hochverehrte Anwesende! Der Gegenstand, welchen ich in meinen beiden Vorträgen zu behandeln gedenke, dürfte in doppelter Hinsicht von allgemeinem Interesse sein.

Einmal sind die physiologischen Erscheinungen, welche ich besprechen will und vor Ihren Augen an verschiedenen Thieren hervorzurufen und zu demonstriren bemüht sein werde, an und für sich außerordentlich überraschend und wunderbar; sodann aber bieten sie Gelegenheit zu allgemeinen Betrachtungen von culturhistorischem Interesse, indem sie uns den werthvollen Nachweis zu liefern gestatten, wie urtheilslos sich der naturwissenschaftlich ungeschulte Mensch bei der Beobachtung von Naturvorgängen einem trügerischen Augenschein gefangen zu geben pflegt und Dinge und Geschehnisse thatsächlich und unmittelbar wahrgenommen zu haben steif und fest überzeugt ist, welche sich in Wirklichkeit gar nicht ereignet haben!

Diese Urtheilslosigkeit und diese Hartnäckigkeit sind geradezu erstaunlich und lassen erkennen, wie wenig Gewicht der Naturforscher auf das aufrichtigste Zeugniß der glaubwürdigsten und ehrenhaftesten Personen legen darf, wenn es sich um die Constatirung von noch unaufgeklärten Naturerscheinungen und ihres ursächlichen Zusammenhanges handelt, – selbst wenn jene Personen eine hervorragende allgemeine, und vielleicht auch naturwissenschaftliche Bildung besitzen, vom Geiste der exacten Naturforschung aber doch nicht völlig durchdrungen sind. Wie oft muß man nicht von ernsten und aufrichtigen Berichterstattern über ungewöhnliche oder zweifelhafte Naturvorgänge die mit steigender Gereiztheit und Entrüstung vorgebrachte Versicherung hören: „Ich bin aber doch selbst dabei gewesen! – ich habe ja selbst Alles mit meinen eigenen Augen mit angesehen, mit meinen eigenen Ohren mit angehört! Was ich berichte, ist eine Thatsache!“

[112] Nun ja! – Der Mann ist ja selbst dabei gewesen; er hat Alles selbst mit angesehen und mit angehört; er spricht im vollen Ernst, und er spricht die volle Wahrheit – und doch! – was er berichtet, es hat sich niemals ereignet, und der Naturforscher hat vollkommen Recht, sein Zeugniß in den Wind zu schlagen und ihm nicht zu glauben, trotzdem er an seiner Wahrhaftigkeit nicht im Mindesten zweifelt. Dies klingt paradox genug, aber der unlösbar scheinende Widerspruch steigert sich noch, löst sich aber auch sofort durch die beschwichtigende Bemerkung, daß der fast schon beleidigte Augen- und Ohrenzeuge ja auch wirklich vollkommen Recht hat – insofern er nämlich wahrheitsgemäß nach bestem Wissen und Gewissen eine Thatsache berichtete, aber freilich nur eine „ungenau beobachtete Thatsache“!

Er hat in seiner naiven Urtheilslosigkeit, in der er sich gegenüber der Beobachtung und Ermittelung des Zusammenhanges von Naturvorgängen befindet, ein bloßes Nach- oder Miteinander, d. h. eine einfache zeitliche Sucession oder Coïncidenz von Erscheinungen, für ein Aus- oder Durcheinander, d. h. für einen ursächlichen Zusammenhang derselben genommen. Er hat zwar factisch eine Thatsache berichtet – nämlich zeitliche Aufeinanderfolge oder Coïncidenz von gewissen wirklichen Dingen und Geschehnissen; – indem er aber dieses einfache zeitliche Verhältniß ohne Weiteres, d. h. ohne genaue und vollständige Beobachtung und Prüfung – wozu ihm entweder überhaupt, oder gerade in diesem Falle sowohl der Sinn, als die specielle Schulung fehlt – für einen ursächlichen Zusammenhang nahm, berichtete er Etwas, was keine Thatsache mehr ist, er berichtete also ein thatsächliches Ereigniß, welches sich so, wie er meint, in Wirklichkeit niemals zugetragen hat.

Ein Ereigniß dieser Art kann man kaum anders und besser benennen, als eine „unvollständig geprüfte“ oder „ungenau beobachtete Thatsache“, und ich glaube, man ist nicht nur logisch berechtigt, sondern auch dringend veranlaßt, unter den Thatsachen der Naturbeobachtung eine neue und besondere Kategorie, die Kategorie der „ungenau beobachteten Thatsachen“ aufzustellen und zu unterscheiden, denn die Thatsachen dieser Kategorie sind es, welche eine so ungeheure Rolle in der Geschichte der menschlichen Geistesentwickelung spielen. Ohne den Begriff dieser Kategorie von vermeintlichen Thatsachen wären wir niemals im Stande, gewisse dunkle Erscheinungen und Richtungen des öffentlichen Geistes und die Hartnäckigkeit, mit welcher dieselben, kaum im Verschwinden, immer wieder auftauchen und sich erhalten, zu verstehen und zu erklären.

Ich habe den Nachweis der unglaublichen Urtheilslosigkeit, in welcher sich der vom Geiste der exacten Naturforschung nicht völlig durchdrungene, wenn auch sonst hoch gebildete Mensch den Naturvorgängen gegenüber befindet, werthvoll genannt – und die schon an und für sich interessanten physiologischen Erscheinungen, die uns hier beschäftigen sollen, deshalb und insofern als sie Gelegenheit bieten, jenen Nachweis, an den sich gewisse culturhistorische Betrachtungen wie von selbst anknüpfen, zu liefern, in doppelter Hinsicht für interessant erklärt; – weil ich der Ueberzeugung bin, daß man es nicht oft und eindringlich genug sagen kann, wie erst der Geist der strengen Naturforschung, ja die Gewohnheit, in echtem Sinne Naturbeobachtung zu treiben, eine Schärfe der Kritik, eine Strenge des Beweises und der Prüfung fordern lehrt, ohne welche die Herrschaft und das Umsichgreifen der beiden culturfeindlichen Mächte, der Leichtgläubigkeit und des Aberglaubens, weder zu brechen noch zu hemmen sind! –

Wir Kinder des neunzehnten Jahrhunderts sind nicht wenig stolz auf unsere Civilisation, Cultur und Aufklärung. Und in der That läßt sich bei einer Vergleichung des im Mittelalter herrschenden Geistes mit dem, der in jüngerer Vergangenheit und Gegenwart herrschte und herrscht, ein mächtiger Fortschritt auf der Bahn der Aufklärung nicht verkennen.

Indessen wir haben keinen Grund, die Höhe der Entwickelung, auf der wir heute stehen, zu überschätzen, so lange noch bis in die jüngste Zeit herab und in der Gegenwart selbst auf den verschiedensten Gebieten gewisse Geistesrichtungen und Erscheinungen zu Tage treten und sich geltend machen können, welche geradezu undenkbar und unmöglich wären, wenn die Resultate und insbesondere die Methode der Naturforschung, oder auch nur die Achtung vor beiden, der lebenden Generation bereits so zu sagen in Fleisch und Blut übergegangen wären.

Es würde mich viel zu weit von meinem Gegenstande abführen, wollte ich auch nur eine ganz flüchtige Umschau über alle diese Richtungen und Erscheinungen halten, welche als dunkle Flecken und schwarze Punkte auch noch die jüngste Phase unseres relativ mächtig aufgeklärten Culturlebens verunzieren. Für unsern Zweck mag es genügen, hier zunächst nur beiläufig auf die Manie des Tischrückens, des Tischschreibens, des Geisterklopfens, an den ganzen wunderlichen Spuk des Spiritismus, des thierischen Magnetismus, der Hellseherei und der verwandten Gebiete zu erinnern. Ich werde morgen, am Schlusse des zweiten Vortrages, so zu sagen als Nutzanwendung der vorgeführten Beobachtungen und Versuche diesen Gegenständen eine nähere allgemeine Betrachtung widmen.

Mit dem bisher Gesagten wollte ich überhaupt nur eine Einleitung zu meinen Mittheilungen über die merkwürdigen, an’s Zauberhafte grenzenden physiologischen Erscheinungen gegeben haben, welche – obschon zum Theil längst bekannt – noch immer keine eingehendere wissenschaftliche Untersuchung erfahren haben und deshalb auch noch immer nicht unter die eigentlich „zünftigen“ nervenphysiologischen Thatsachen aufgenommen sind. –

Doch gestatten Sie, meine hochverehrten Anwesenden! daß ich Ihnen erst noch in Kürze erzähle, durch welchen Zufall ich dazu gekommen bin, diesen Erscheinungen meine Aufmerksamkeit zuzuwenden und dieselben zum Gegenstande einer eingehenderen und noch lange nicht abgeschlossenen wissenschaftlichen Untersuchung zu machen! – –

Es war im Herbst des vorigen Jahres, als ich während eines Landaufenthaltes in Böhmen die Bekanntschaft eines Herrn machte, der mir im Laufe eines unserer, meist naturwissenschaftliche Gegenstände betreffenden Gespräche die frappante Notiz mittheilte, daß er es nicht nur oft mit angesehen, sondern auch selbst mit Erfolg versucht habe, Krebse zu – „magnetisiren“! Um nähere Auskunft gebeten, was er damit meine, sagte mir jener Herr, daß die Sache ungemein einfach sei.

Man halte den Krebs mit der einen Hand fest und mit der anderen führe man „magnetische“ Striche vom Schwanzende gegen das Kopfende des Thieres, indem man beim Streichen in der angegebenen Richtung die Fingerspitzen dem Rücken des Thieres, jede Berührung sorgfältig vermeidend, bis auf etwa einen Viertelzoll nähere, beim Zurückführen der Hand aber einen weiten Bogen beschreibe. Unter dieser Manipulation werde der Krebs nach kurzer Zeit ruhig und lasse sich nun senkrecht auf den Kopf stellen, wobei ihm sein Nasenstachel und die beiden einwärts geschlagenen Scheeren als Unterstützungspunkte dienten. In dieser absonderlichen und unnatürlichen Stellung verbleibe das Thier nun regungslos, bis man es durch entgegengesetzte, vom Kopf gegen das Schwanzende gerichtete Striche „entmagnetisire“, worauf es sich wieder zu bewegen anfange, das Gleichgewicht zu verlieren suche, endlich umschlage und davonkrieche.

Da mir mein Berichterstatter als ein intelligenter Mann und völlig glaubwürdiger, ehrenhafter Charakter bekannt geworden war, so durfte ich wohl keinen Zweifel an der Wahrhaftigkeit seines einfachen und klaren – wenn auch absonderlichen Berichtes hegen, und einen solchen am wenigsten in einer schroffen Weise aussprechen; allein mein Naturforschergewissen verpflichtete mich, ihm sofort zu sagen, daß ich zwar seiner Mittheilung den vollsten Glauben schenkte, daß ich aber der Meinung sei, er habe mir da doch nur eine „ungenau beobachtete Thatsache“ mitgetheilt.

Zwar, daß die Krebse sich hätten auf den Kopf stellen lassen, und regungslos in dieser Stellung geblieben wären, nachdem sie gestrichen worden waren, sei gewiß eine wirkliche Thatsache, da er mit seinem Zeugniß dafür einstehe; daß aber die sogenannten „magnetischen“ Striche mit den Fingerspitzen und ein durch dieselben wirksam werdender „Magnetismus“ die thatsächliche Ursache des auffallenden Verhaltens der Krebse gewesen seien, das könnte für mich, trotz der Glaubwürdigkeit seines Zeugnisses und ohne ihm irgend nahetreten zu wollen, noch lange keine wirkliche Thatsache sein, die ich auf Treu und Glauben annehmen oder überhaupt nur einer ernsten Beobachtung werth halten müßte, weil sie ja gar nicht Gegenstand seiner Wahrnehmung und Prüfung gewesen sei.

Uebrigens werde er mich sehr verbinden, wenn er mir, seinem freundlichen Anerbieten entsprechend, den interessanten Versuch zeigen wolle, nicht etwa, weil ich ein Mißtrauen in seine thatsächlichen [113] Angaben setzte, sondern weil ich im Augenblick nichts Besseres zu thun wüßte, und weil ich glaubte versprechen zu können, ihm bei dieser Gelegenheit, als einen kleinen Gegendienst, einen klareren Begriff von nüchterner Naturbeobachtung beibringen und an einem Beispiel zeigen zu können, was eine „ungenau beobachtete Thatsache“ sei! Gesagt, gethan. Es wurde sofort der Auftrag gegeben, aus dem nahen Bache Krebse herbeizuschaffen, und bald hatten wir ein Körbchen voll vor uns stehen.

Was nun weiter geschah, will ich Ihnen durch dieselben Versuche erläutern, welche wir damals anstellten, denn ich habe in diesem Gefäß hier ebenfalls eine Anzahl frischer Krebse vorräthig.

Mein freundlicher Gesellschafter ergriff, seines Erfolges sicher, eines der Thiere und begann seine sogenannten „magnetischen“ Striche vom Schwanzende gegen das Kopfende, gerade so, wie ich es jetzt vor Ihren Augen thue. Der anfänglich widerstrebende Krebs beruhigte sich allmählich, und nun hat er sich in der That, den gekrümmten Schwanz hoch in der Luft, auf den Kopf stellen lassen und verharrt regungslos, wie schlafend, in dieser gezwungenen, unnatürlichen Stellung, indem er an dem Nasenstachel und den beiden untergeschlagenen Scheeren die nöthigen drei Stützpunkte findet.

Es ist wahrlich ein überraschender Anblick!

Während wir damals, wie jetzt, dem Gelingen des Versuches mit Befriedigung und Interesse zusahen, hatte ich jedoch meinerseits ein Thier ergriffen in der Absicht, sofort zu versuchen, dasselbe ohne alle vorhergehenden magnetischen Striche auf den Kopf zu stellen und damit jeden vernünftigen Gedanken an einen geheimnißvollen „magnetischen“ Einfluß der Luftstriche auszuschließen.

Und siehe da! – mein Krebs stand wirklich nach einigem, durch mein Festhalten vereiteltem Widerstreben ebenso regungslos frei auf dem Kopfe, wie der sogenannte „magnetisirte“ meines Gesellschafters und wie dieser hier, den ich soeben vor Ihren Augen ohne allen magnetischen Hocuspocus unmittelbar auf den Kopf gestellt habe.

Und wie verhielt es sich mit den sogenannten „entmagnetisirenden“ Strichen in der Richtung vom Kopf- gegen das Schwanzende? Mein Gesellschafter bearbeitete eifrig, schon während ich den schlagenden Gegenversuch anstellte, seinen „magnetisirten“ Krebs mit aufwärts geführten Kopfschwanzstrichen. Es dauerte ziemlich lange, bis sich der Krebs zu regen begann und endlich umkippte und fortkroch.

Sie sehen, auch meine Kopfschwanzstriche hier an diesem Krebs sind noch immer wirkungslos, fast muß ich fürchten, daß Sie die Geduld verlieren. In der That! unterbrechen wir getrost die sogenannte „entmagnetisirende“ Manipulation, und stellen wir lieber noch die übrigen vorhandenen Krebse ohne magnetischen Hocuspocus auf ihre Köpfe, um die frappante Thatsache wiederholt zu constatiren.

Je länger wir warten, um die „entmagnetisirenden“ Kopfschwanzstriche wieder aufzunehmen, desto sicherer sind wir, dieselben endlich erfolgreich zu finden. Es ist damit, wie mit jenem feierlichen Bittgang, welchen eine fromme katholische Gemeinde in Oesterreich von ihrem Pfarrer verlangte, um Regen auf die dürren Felder vom Himmel herabzuflehen, welchen aber der aufgeklärte „Josephiner“ mit den Worten auf später zu verschieben rieth: „Ja, Kinder! gern – aber schaut’s, jetzt no’ nit, der Barometer steht halt no’ all’weil viel z’ hoch!“

Befolgen denn auch wir den guten Rath des klugen Pfarrers, Sie würden, wenn wir es abwarten wollten, selbst sehen, daß nach und nach alle die auf ihren Köpfen regungslos dastehenden Krebse ganz von selbst, ohne irgend eine mysteriöse Manipulation, wieder beweglich werden! Also auch mit dem „entmagnetisirenden“ Einfluß der Kopfschwanzstriche ist es nichts, höchstens mögen sie auf ganz mechanische Weise durch Erregung von Luftströmungen, von Abkühlungen und Erwärmungen oder sonstigen natürlichen Störungen den Vorgang des Wiedererwachens, das heißt die Wiederherstellung der normalen Functionsfähigkeit des alterirten Krebsnervensystems etwas beschleunigen!

Sie sehen also, meine hochverehrten Anwesenden! unsere damaligen und jetzigen Versuche verliefen genau so, wie ich es vorhergesehen hatte, und ich hoffe, Sie werden jetzt, wie mein Gesellschafter von damals, die Ueberzeugung gewonnen haben, daß das sogenannte „Magnetisiren“ der Krebse zwar eine Thatsache ist, aber, wie ich es nenne, eine „ungenau beobachtete“ Thatsache, also keine! Zugleich wird Ihnen der eigentliche Begriff, welchen ich mit der Bezeichnung „ungenau beobachtete Thatsache“ verbinde, und der Grund, warum ich gerade diese Bezeichnung für Etwas, was eben keine Thatsache ist, dennoch wähle, klar und deutlich geworden sein.

Das allein wirklich Thatsächliche beim sogenannten „Magnetisiren“ der Krebse ist die auf die Luftstriche nachfolgende Regungslosigkeit der Thiere; indem man aber diese thatsächliche, zeitliche Succession ohne alle Prüfung für einen durch ein mysteriöses, sogenanntes „magnetisches“ Agens vermittelten ursächlichen Zusammenhang nimmt, so glaubt man diesen in Wirklichkeit gar nicht existirenden Zusammenhang als thatsächliches Ereigniß unmittelbar wahrgenommen zu haben. Deshalb nenne ich eben solche vermeintliche Ereignisse, wie das „Magnetisiren“ der Krebse, die sich in Wirklichkeit niemals zugetragen haben, nichtsdestoweniger Thatsachen, aber zum Unterschiede von wirklichen – „ungenau beobachtete“, um zugleich den charakteristischen Umstand anzudeuten, daß ihnen stets etwas wirklich Thatsächliches zu Grunde liegt und ihnen einen Schein von Realität giebt, der den Urtheilslosen unwiderstehlich bestrickt und gefangen nimmt, und der nur bei nüchterner Prüfung und genauerer Beobachtung in sein Nichts verschwindet. Diese letzteren sind aber nicht Jedermanns Sache, und hieraus erklärt sich die alle Schranken der Vernunft und Besonnenheit durchbrechende Macht, welche die „ungenau beobachtete Thatsache“ ausübt, und die ungeheuer wichtige Rolle, die sie in der Geschichte des menschlichen Irrthums spielt!

(Schluß folgt.)


Ein glücklicher Griff.

Die preußische Conflictszeit stand in voller Blüthe. Mit schmerzlicher Aufmerksamkeit folgte man den Verhandlungen und Vorfällen des Abgeordnetenhauses, und nur mit stillem Ingrimm oder mit lauter Verwünschung ward von Vielen der Name genannt, der heute einer der gefeiertsten und populärsten nicht blos Preußens, sondern Deutschlands, ja der Welt geworden ist, der Name, an den sich die Hoffnungen des vollendlichen Ausbaues des deutschen Reiches knüpfen. Galt doch der Mann, welcher ihn trug, der zeitweilige Einsiedler in der Schmollzelle von Varzin, für den Typus des specifischen märkischen Junkerthums, der die Errungenschaften der mit der Regentschaft aufsteigenden „neuen Aera“ wieder über den Haufen zu werfen und das Gottesgnadenthum in seiner volksfeindlichkeit Ausschließlichkeit neu aufzurichten trachtete.

Indeß übermächtig, wie sie auch die Seelen der modernen Menschen beschäftigt, die alleinige Theilnahme konnte die Politik doch nicht in Anspruch nehmen. Auch andere Interessen machten ihre Rechte geltend, Kunst und Wissenschaft, geistige und sinnliche Genüsse der mannigfaltigsten Art, zumal in einer Stadt von der Bedeutung Berlins. Trotz der parlamentarischen Kämpfe und Zerwürfnisse florirten nach wie vor die Theater, die Concerte und Bälle, die Ausstellungen und die von verschiedenen Vereinen, wie in anderen Wintern, veranstalteten gemeinnützigen und literarischen Vorträge.

Von den letzteren erregte plötzlich einer eine weit über das gewöhnliche Niveau von Beifall und Anerkennung hinausgehende Sensation. Es war ein Vortrag im Concertsaale des königlichen Schauspielhauses; der Vorlesende war schon durch frühere ähnliche Leistungen als eleganter und klarer Redner und zugleich als ein Mann von seltenem Wissen bekannt und darum der Besuch ein sehr zahlreicher. Im Vorjahre bereits hatte er seinem Publicum viele anregende Erheiterung dargeboten, indem er die Eigennamen des Berliner Wohnungsanzeigers oder Adreßkalenders einer sprachgelehrten und geistvollen Analyse und Gruppirung unterzog. Diesmal hatte er sich ein allgemeineres hochbedeutsames Thema gewählt – den Citatenschatz des deutschen Volkes, jene „von geschichtlich nachweisbaren [114] Personen geschriebenen oder gesprochenen Worte“, welche „durch die Gunst der Umstände“ im Munde des Volkes sich zu „landläufigen Schlagwörtern und stehenden Redensarten“ aufgeschwungen haben und als solche fortleben. Mit den allgemein bekannten und beständig angeführten Aeußerungen unserer großen Dichter beginnend, hatte er im Verlaufe seines Vortrags auch einer Reihe von Aussprüchen Erwähnung gethan, welche erst in den jüngsten Tagen aus Parlamentsreden und öffentlichen Blättern in volksthümlichen Gebrauch übergegangen und augenblicklich thatsächlich in Aller Munde waren. Schier endlos erscholl der Applaus, als er der „angenehmen Temperatur“ des Herrenhauses und des mittlerweile unsterblich gewordenen „Blut und Eisen“ gedachte.

Auch eine noch jugendliche Dame auf den dem königlichen Hause reservirten Plätzen schien in den allgemeinen Jubel mit einzustimmen. Jählings aber winkte ihr eine der hinter ihr sitzenden älteren Begleiterinnen und gab ihr zu verstehen, daß ihre Ohren dergleichen Hohnphrasen der das Königthum bedrohenden liberalen Partei nicht mit anhören dürften. Und die junge Prinzessin – es war die Tochter des inzwischen verstorbenen Prinzen Albrecht von Preußen, die jetzt mit dem Herzog Wilhelm von Mecklenburg vermählte Prinzessin Alexandrine – verließ, obschon mit ersichtlichem Widerstreben, den Saal. Seit langer Zeit hatte kein Mitglied der Königsfamilie eine dieser Vorlesungen mit seinem Besuche beehrt, und nun, da endlich einmal wieder ein solches erscheint, muß es sich so plötzlich und gezwungener Maßen entfernen!

Wie man sich denken kann, durchlief die Kunde von dem Intermezzo alsbald die ganze Stadt; über Nacht war der Name des Vortragenden, des Dr. Georg Büchmann, den man wohl immer als vorzüglichen Lehrer einer der höheren Berliner Schulanstalten geschätzt und in engeren Kreisen als ausgezeichneten Gelehrten seines Fachs verehrt, den das große Publicum bisher jedoch kaum gekannt hatte, eine Tagesberühmtheit geworden. Dies würde an sich für uns und für die Leser der Gartenlaube nichts Wesentliches bedeuten – dergleichen Celebritäten sinken ja meist ebenso schnell wieder in das Dunkel zurück, wie sie aus diesem aufgetaucht sind – hätten Vorlesung und Vorfall nicht den nächsten Anstoß zu einer literarischen Schöpfung gegeben, die nicht nur in unserem eigenen, sondern auch im Schriftenthum anderer Nationen einzig dasteht und sich mit gutem Grund das Prädicat „berühmt“ vindiciren darf. Ist doch schon der Titel des Buches selbst, das eigenste Werk seines Verfassers, sofort in den Citatenschatz übergegangen und mehr vielleicht als mancher andere der in jenem gesammelten Aussprüche zu dem geworden, wofür der Autor einen so überaus gelungenen Ausdruck gefunden hat. War die Leistung überhaupt[2] ein glücklicher Griff, so viel mehr noch der gewählte Titel derselben – „Geflügelte Worte“. Mit Blitzesschnelle hat er sich Bürgerrecht erworben, soweit die deutsche Zunge klingt, als eine der werthvollsten Bereicherungen, welche unserer Sprache in neuer Zeit zu Theil geworden ist, und mit vollem Rechte darf Büchmann von ihm sagen: „der Name deckt jetzt vollkommen die bezeichnete Sache“.

Der Erfolg des im Jahre 1864 in der Haude- und Spener’schen Buchhandlung in erster Auflage erschienenen Büchmann’schen Buches war von Anfang an ein die kühnsten Autor- und Verlegerhoffnungen weit übersteigender. In der Vorrede hatte Büchmann aufgefordert, ihm behufs Erweiterung und Berichtigung des Werkes in einer vielleicht nothwendig werdenden zweiten Auflage mitzutheilen, was Diesem oder Jenem an ferneren einschlagenden Citaten bekannt sei, und eine wahre Fluth von Beiträgen brach in Folge dieser Bitte auf ihn herein – ein Beweis, welchen außerordentlichen Anklang der Gedanke des Buches gefunden hatte. Mehr als zweihundert Menschen aller Stände und Berufsclassen, Schriftsteller und Kaufleute, Aerzte und Officiere, Geistliche und Gymnasiasten, insbesondere aber Juristen, vom Obertribunalsrath bis zum Auscultator herab, schickten ihm „geflügelte Worte“ ein. Nur die eigentlichen Männer der Wissenschaft, die Sprachforscher und Germanisten, die doch sonder Zweifel das reichhaltigste und gediegenste Material hätten beisteuern und das wärmste Interesse für das Unternehmen bethätigen sollen, verhielten sich, bis auf einzelne glänzende Ausnahmen, diesem gegenüber mit einer Gleichgültigkeit, welche sich schwer würde erklären lassen, wäre es nicht eine beklagenswerthe Thatsache, daß der Mehrzahl der gelehrten Herren jedes Popularisiren der Wissenschaft für eine unwürdige Entweihung derselben gilt.

Begreiflicher Weise ist nicht alles eitel Gold gewesen, was dergestalt dem Verfasser zugeflossen. Wie viele höchst wunderliche und drollige Einsendungen haben ihm im Gegentheile Post und Buchhandel gebracht! Echte Berliner „Kalauer“, Redensarten, Fremd- und Sprüchwörter etc. – das Alles hat sich ihm als „geflügeltes Wort“ präsentirt und, meist unter Namhaftmachung des Spenders, in die Sammlung aufgenommen sein wollen. Den bunten Reichthum dieser seltsamen Blüthenlese zu mustern, welche in einem eigenen Pulte des Autors wohl verwahrt lagert, hat etwas überaus Ergötzliches, und fast kann man bedauern, daß die Discretion des Verfassers den vergnüglichen Schatz der Oeffentlichkeit entzieht.

Sehen wir von diesen verfehlten Gaben ab, bei denen wir indeß immer den guten Willen und die Theilnahme für die Sache schätzen müssen, so dürfte sich wohl selten ein literarisches Erzeugniß aus dem Publicum selbst heraus einer so regen Förderung durch Rath und That zu erfreuen gehabt haben wie das Büchmann’sche Buch. Mit jeder neuen Auflage desselben aber ist diese Popularität und mit ihr, um uns so auszudrücken, die Zahl der Mitarbeiter gewachsen. Wie manche ihrer Mittheilungen hat der Verfasser fast Wort für Wort seinem Texte einverleiben können! Wie viele Andere sind ihm mit den dankenswerthesten Winken und Andeutungen an die Hand gegangen! Das Beste freilich hat bei alledem der Autor selbst gethan, und man muß ihn auf seinem Studirzimmer aufsuchen, um den Fleiß zu bewundern, mit dem er unablässig an der Vervollständigung und Vervollkommnung seines Werkes arbeitet, wie er fort und fort die Schätze der alten und neuen Literatur durchforscht, eine etwa zweifelhafte Quelle irgend eines Citats festzustellen oder nach frischer Ausbeute zu suchen, und mit welcher scrupulösen Ordnung er Buch und Rechnung führt über seine Lesefrüchte und die im Interesse des Buches kommende und gehende Correspondenz, die, wie man sich denken kann, bereits zu sehr hohen Nummern angewachsen ist und fast täglich sich um neue Ziffern bereichert, darunter gar viele Stücke, welche das Herz des Autographensammlers mit scheelem Neide erfüllen dürften.

„Sehen Sie,“ sagte er mir vor Kurzem, als ich eine Nachmittagsstunde bei ihm zubrachte, „da hat man immer geglaubt, die gebratenen Tauben, welche Einem in’s Maul fliegen, seien uns vom Nürnberger Schuhmacher und Meistersinger Hans Sachs bescheert worden. Behüte der Himmel! sie fliegen schon viel länger umher. Hier, der alte griechische Schriftsteller Trochäus spricht bereits von ihnen.“ Und nun las er mir die Verse vor, welche darthun, daß man lange vor Hans Sachs schon von einem Schlaraffenlande mit in der Luft umherfliegenden gebratenen Tauben gefabelt hat. Dies nur ein Beispiel von dem unermüdlichen Eifer und der Gründlichkeit, mit denen Büchmann bei der Ergänzung und Berichtigung seiner „Geflügelten Worte“ zu Werke geht. Wie er selbst in dem Buche nachgerade eine Lebensaufgabe erblickt, so ist gewiß, daß er damit den gebildeten Kreisen der Nation ein Vermächtniß hinterlassen wird, welches auf einen bleibenden Platz in unserer Literatur und in unseren Bücherschränken rechnen darf.

Büchmann ordnet die „geflügelten Worte“ nach den Nationen, denen sie entstammen; er bietet uns deutsche, französische, englische, italienische, griechische und lateinische, außerdem biblische und geschichtliche Citate, und erleichtert uns das Aufsuchen jedes Ausspruchs durch ein Register von seltener Genauigkeit und Vollständigkeit. Der Hauptwerth der Arbeit, die nur das Ergebniß eines wahrhaft riesigen Fleißes sein konnte, besteht in dem Nachweise der Quellen oder wenigstens in den mühevollen Versuchen, diesen nachzuspüren; denn von gar vielen im Laufe der Zeit entstandenen geflügelten Worten, sobald diese nicht bestimmten Schriftwerken entlehnt sind, läßt sich der Ursprung nicht mehr ergründen. Selbst von diesen bestimmten Autoren entnommenen Citaten aber sind, wie das oben angeführte Beispiel von den gebratenen Tauben lehrt, nicht wenige der bekannten und meistgebrauchten uns, sozusagen, erst aus zweiter und dritter Hand überkommen, und nicht allemal wird es der Forschung möglich, die erste Hand aufzufinden.

Um eine Probe davon zu geben, was das vortreffliche Werk Alles darbietet, nennen wir das Wort „Chauvinismus“, [115] welches seit Jahren in allen Zeitungen spukt. Wem von unseren Lesern ist erinnerlich, woher der Ausdruck stammt? Wie sehr die Meinungen über den Ursprung des Wortes auseinander gehen, erhellt aus den verschiedenen Auslegungen, die nach und nach die Bezeichnung zu erklären versucht haben. Schlagen wir nun Büchmann’s „Geflügelte Worte“ auf, so lesen wir Seite 83 (der siebenten Auflage): „Der zur Bezeichnung eines bis zur Lächerlichkeit leidenschaftlichen Anhängers des französischen Kaiserthums dienende Ausdruck ‚Chauvinismus‘ beruht auf der Rolle des Chauvin in dem Scribe’schen Lustspiele ‚Le Soldat laboureux‘.“ Damit ist sofort jeder Zweifel gelöst.

Unter den lateinischen Citaten sind uns wenige geläufiger als das in Aller Mund befindliche: „Tempera mutantur, et nos mutantur in illis“ (die Zeiten ändern sich und wir mit ihnen.). Wer, fragen wir wieder, weiß die Quelle anzuführen, der dies beschwingte Wort entspringt? Oft hören wir Ovid als seinen Urheber nennen, und doch ist es ein englischer Schriftsteller des siebenzehnten Jahrhunderts, Owen, welcher, allerdings mit Anlehnung an den erwähnten römischen Dichter, den Vers verfaßt hat.

Wer kennt nicht das vielgebrauchte, im letzten Kriege von Neuem mannigfach verwerthete. „Der König rief, und Alle, Alle kamen,“ ohne daß er sich träumen läßt, daß es vom Autor der „Mimili“, dem berüchtigten Clauren, zuerst ausgesprochen worden ist? Oder wer denkt daran, daß wir den „überwundenen Standpunkt“, der uns Allen so häufig in Mund und Feder schlüpft, dem verstorbenen Redacteur der „Neuen Zeitschrift für Musik“ Franz Brendel in Leipzig, dem glühenden Wagnerverehrer, verdanken, der sich in den fünfziger Jahren des Ausdrucks bediente, um damit die alten Formen der Arie und des Recitativs preiszugeben?

Wem wäre gar geläufig, daß das „Tempi passati!“ gewissermaßen einen Pendant zu Bismarcks ebenso unsterblichem „Nach Canossa gehen wir nicht!“ bildet und auf Kaiser Joseph den Zweiten zurückzuführen ist? Dieser besuchte bei seiner Anwesenheit in Venedig den Dogenpalast. Aus Zartgefühl glaubte man dem Monarchen ein daselbst befindliches Gemälde nicht zeigen zu dürfen, welches Friedrich den Rothbart darstellt, wie er, vom Papst Alexander vom Banne losgesprochen, zu den Füßen des Kirchenfürsten liegt, um knieend die Absolution zu empfangen. Der Kaiser gewahrt, daß man seine Aufmerksamkeit von dem Bilde abzulenken strebt, und läßt sich dadurch, um so weniger von der Betrachtung desselben zurückhalten, um dann lächelnd zu sagen: „Ah, tempi passati!“

Wer vermag zu präcisiren, wem er wohl das „Sie haben nichts gelernt und nichts vergessen“ nachspricht? Büchmann belehrt uns, daß ein Chevalier de Panat es in einem Briefe an den nachmaligen französischen Gesandten in Berlin, Mallet du Pan, im Jahre 1796 zuerst angewendet habe.

Ist es allen unseren Lesern wohl im Augenblick gegenwärtig, daß das so viel gebrauchte

„Das Unvermeidliche mit Würde tragen“

einem fast verschollenen neueren Dichter, dem Uebersetzer des großen italienischen Poeten, Karl Streckfuß, entstammt? Es steht in der im Jahre 1809 verfaßten schönen Strophe:

„Im Glück nicht stolz sein und im Leid nicht zagen,
Das Unvermeidliche mit Würde tragen,
Das Rechte thun, am Schönen sich erfreuen,
Das Leben lieben und den Tod nicht scheuen.
Und fest an Gott und bessre Zukunft glauben.
Heißt leben, heißt dem Tod sein Bitt’res rauben!“

Und wahrscheinlich ist’s nur ein sehr kleines Häuflein, das über den Ursprung der allbekannten lebensphilosophischen Verse:

„Glücklich ist,
Wer vergißt,
Das, was nicht zu ändern ist“

Aufschluß zu ertheilen vermag. Georg Büchmann wird deshalb sicher den Meisten eine Neuigkeit offenbaren, wenn er erzählt, daß der genannte Spruch zuerst in ein Studentenstammbuch eingezeichnet wurde, welches ursprünglich einem gewissen Daelhausen aus Oldenburg angehörte und sich jetzt im Besitze des Justizraths Strackerjahn daselbst befindet. Die Verse tragen das Datum „Jena, den 12. September 1753“.

Wo kommt ferner die leider unvergängliche „Salbaderei“ her? Aus einem obscuren Städtchen unweit Naumburgs an der Saale, aus dem Orte Stößen, an dessen Rathhause noch heute die stolze Inschrift prangt: „Respublica Stoessensis“. Dort ward einst ein wohlehrsamer Bader von einem der Pfalzgrafen zum kaiserlichen Dichter gekrönt, Jacob Vogel mit Namen. Seine endlosen Reimereien scheinen indeß nichts als Blödsinn zu Tage gefördert zu haben, und so ward nachmals jedes unsinnige Gewäsch mit Bezug auf Vogel’s Handwerk und Vaterstadt als „Salbaderei“ bezeichnet.

Welcher Poet hat sich durch das classische

„Des Lebens Unverstand mir Wehmuth zu genießen
Ist Tugend und Begriff“

Unsterblichkeit errungen? Wir fürchten, auch auf diese Frage bleibt die Mehrzahl unserer Leser die Antwort schuldig, daß das köstliche Wort oberhofmarschalligen Ursprungs ist, dem genialen Haupte des erst 1851 zu Kassel als General und Oberhofmarschall verstorbenen Hans Adolf von Thümmel entflossen, der, wie es in unserer unversiechlichen Quelle heißt, „viele ähnliche Verse beging.“

Wer endlich kann im Augenblicke Rechenschaft ertheilen über die Entstehungsgeschichte des weltberühmten und unvergänglichen: „Der Karnickel hat angefangen“? Auch hierüber giebt uns Büchmann gründlichen Aufschluß. Ein Kupferstecher Lami in Berlin (1843 verstorben), der in seinen Mußestunden sich mit der Reimerei befaßte, hatte ein Gedicht geschrieben, in welchem ein Pudel eine Rolle spielt, der, im Gefolge seines Herrn über den Markt wandelnd, ein von einer Hökerin feil gebotenes lebendiges Kaninchen zerreißt. Die zornmüthige Händlerin besteht darauf, daß der Gebieter des blutdürstigen Köters mit ihr „auf die Obrigkeit“ gehen soll. Da kommt dem bedrängten Herrn ein Beistand in der Person eines Schusterjungen, der die Scene mit angeschaut hat und gegen ein Trinkgeld verspricht, zu bezeugen, „dat der Karnickel hat angefangen.“

Wir haben diese Beispiele bunt aus der Fülle der „geflügelten Worte“ herausgegriffen, glauben indeß, sie werden genügen, von Art, Bedeutung und Reichthum des Buches eine Vorstellung zu geben und in Vielen den Wunsch nach dem Besitze des ausgezeichneten, ebenso lehrreichen wie unterhaltenden Werkes rege zu machen, welches im ausgezeichnetsten Sinne des Wortes ein Haus- und Sprachschatz genannt werden darf, zugleich ein Zeugniß von der hohen Bildungsstufe, zu welcher die deutsche Nation sich erhoben hat.

Wie sehr auch das Ausland dem Werth des Buches gerecht geworden ist, bekundet die Thatsache, daß schon vor Jahren die geflügelten Worte als „Gevleugelde Woorden“ in holländischem Gewande erschienen sind – freilich arg verballhornt und ohne die Ermächtigung des Verfassers – und daß im Augenblicke, wo wir diese Zeilen schreiben, mit Genehmigung desselben, eine Uebertragung in das Magyarische vorbereitet wird.

„Voll weiser Sprüch’“, so lautet nach Shakespeare das Motto auf dem Titelblatte des Werkes. Sicherlich wird Niemand das Buch aus der Hand legen, ohne von Herzen zu bestätigen, daß dieser Schildspruch ein wohlberechtigter ist.

H. Scheube.


Erinnerungen aus dem Indianeraufstand in Minnesota.
1. Der Ausbruch
(Schluß.)

Der Morgen des 18. August brach klar an. Ich hatte mich früh erhoben, da ich in Folge der Unterhaltung vom vorigen Abend doch etwas unruhig geschlafen hatte, und stand vor dem Agenturgebäude neben dem alten Dolmetscher, Philander Prescott. „Es ist merkwürdig“, sagte er zu mir, „wie viel bemalte Indianer sich heute so früh um den Ort sammeln; das ist zwar um diese Zeit nichts gerade Ungewöhnliches, aber dennoch scheinen sie heute etwas Besonderes vorzuhaben.“ In diesem Augenblicke kam Little Crow die Straße herunter auf uns zu. Prescott redete ihn an und fragte, was denn los sei, daß sich so viele Krieger so früh sammelten. [116] „Geh’ in Dein Haus und bleib drinn!“ war die Antwort, und mit diesem Worte ging der Häuptling weiter auf das Haus des Missionars Herrn R. zu, den die ungewöhnliche Unruhe ebenfalls vor die Thür getrieben hatte. Auch dieser fragte Little Crow nach der Ursache, bekam aber keine Antwort, obwohl er mit ihm auf dem besten Fuße gestanden hatte; der Häuptling wandte stumm sein Gesicht ab und ging mit niedergeschlagenen Augen vorüber. Die fürchterliche Wahrheit begann jetzt plötzlich in Prescott’s Seele zu tagen. „Herr,“ sagte er zu mir mit dumpfer Stimme, „Sie sind zu einer unglücklichen Stunde zu uns gekommen; es ist etwas Blutiges im Werk, und wir sind ganz unvorbereitet. Es ist nur Ein Weg übrig: augenblickliche Flucht. Hinunter zur Fähre, und dann nach Fort Ridgley! ohne Verzug! in einer Viertelstunde kann Alles zu spät sein.“ Kaum hatte er ausgeredet, als der erste Schuß fiel. Ein Fuhrmann, der gerade aus dem Regierungsstalle trat, war das erste Opfer. Ihm folgte der Superintendent der Farmen, der auf Little Crow’s Befehl niedergeschossen wurde. Jetzt zögerte Herr R. nicht länger. Schnell floh er durch die Hinterthür seines Hauses, erreichte die Fähre glücklich, und eilte dann in der Richtung des Forts weiter. Dem Doctor, dessen Frau krank war, glückte es ebenfalls mit ihr und seinen drei Kindern über den Fluß zu entkommen. Doch sollte der Arme das Fort nie erreichen. Er und seine ganze Familie, bis auf den ältesten Knaben, der wie durch ein Wunder entkam, wurden auf dem Wege dahin auf’s Gräßlichste ermordet. Der Major hatte mich bei den ersten Schüssen sogleich aufgesucht, um mir den Weg zur Flucht zu zeigen; da ich aber das Haus schon verlassen hatte fand er mich nicht mehr in meinem Zimmer und mußte mich, da er für sein eigenes Leben zu fliehen hatte, meinem Schicksale überlassen.

Ich war in einen der nächsten Kaufläden, einem Herrn Forbes gehörig, getreten und befand mich mit fünf oder sechs Personen in dem unteren Raum desselben, als das schauerliche Kriegsgeheul der Wilden die Luft erfüllte. Alles eilte zur Thür, um zu sehen, was vor sich gehe; kaum aber waren wir in der Thür sichtbar geworden, als ein Kugelregen uns traf und Alle bis auf mich und einen Mann, Namens Spencer, tödtete. Spencer, der leicht verwundet ward, und ich rannten nun nach der Treppe, die auf eine Kammer im zweiten Stock führte. Als wir uns umsahen, hatte der Laden sich schon halb mit Indianern gefüllt, von denen einer uns fast bis zur Treppe gefolgt war. Ich sah, wie er auf uns anlegte, und gab mich schon verloren; zum Glück versagten ihm aber beide Büchsenläufe, und in einigen Sätzen waren wir in der oberen Kammer. Die Hoffnung, unser Leben zu retten, war nur sehr schwach; aber wir wollten es wenigstens so theuer wie möglich verkaufen und verriegelten und verrammelten deshalb die Thür, so gut wir konnten. Dann warfen wir uns, von der Aufregung erschöpft, auf ein paar Betten und horchten, was die Wilden wohl nun beginnen würden.

Wir vernahmen bald, daß sie eifrig beschäftigt waren, die Waarenkisten zu öffnen und zu entleeren, und schöpften schon ein wenig Muth, hoffend, daß sie über ihrer Beute uns vielleicht vergessen würden. Zu unserm Schrecken fingen sie aber sehr bald an sich zu berathen, ob sie das Haus nicht sofort anzünden sollten, und mein Gefährte, der ihre Sprache verstand und redete, hörte, daß sie schnell zu dem Entschluß kamen, dies sogleich auszuführen. Die Aussicht, lebendig verbrannt zu werden, war keine gerade sehr erfreuliche, und wir dachten sofort an einen Fluchtversuch. Leise lösten wir die Schnüre von den Bettstellen, banden sie zusammen und befestigten das eine Ende an den Bettpfosten, während wir uns mit dem anderen Ende an das Fenster postirten und nun der Dinge warteten, die da kommen würden. Es dauerte kaum eine Viertelstunde, bis wir die Wilden Anstalten treffen sahen, das Haus in Brand zu stecken. Trockenes Reisig wurde herbeigeschleppt und in den unteren Lagerraum hineingeworfen, und in wenigen Minuten prasselten die Flammen unter uns und erfüllten bald alles mit dichtem Qualm. Wir sahen, daß der Augenblick der Entscheidung gekommen war; uns blieb die Wahl zwischen gewissem Tode durch Ersticken und Verbrennen, oder wahrscheinlichem Tode durch die Kugel oder das Tomahawk. Wir zögerten nicht lange, rissen das Fenster auf, schwangen uns hinaus und glitten schnell am Seile hinunter. Schon hofften wir, unbemerkt entkommen zu können, da sich in diesem Augenblick Niemand an der Seite des Hauses befand; kaum aber hatten wir den Boden berührt, als zwei Indianer um die Ecke kamen und sofort sich unter Wuthgeheul auf uns stürzten. In einem Augenblicke waren wir von einer ganzen Schaar rother Teufel umringt, und ihr Geschrei gellte uns in die Ohren. „Tödtet sie! nieder mit ihnen!“

Da sprang plötzlich eine mächtige Gestalt zwischen die Wüthenden, stellte sich mit hochgeschwungenem Tomahawk vor Spencer und rief mit funkelnden Augen in die tobende Menge hinein: „Dem ersten, der diesen hier anrührt, spalte ich den Schädel; ihr kennt Wakinyatawa und dieser weiße Mann ist sein Camerad. Hättet ihr ihn getödtet, ehe ich ihn sah, dann wäre es recht gewesen; aber wir sind Freunde und Cameraden seit zehn Jahren, und jetzt, da ich ihn gesehen habe, will ich ihn und seinen Freund (indem er auf mich deutete) schützen oder mit ihnen sterben! Ihr kennt Wakinyatawa; drum hütet euch und laßt mich mit ihm gehen!“

Ohne weiter auf die Menge zu achten, schob er sie bei Seite und führte uns unbelästigt weg. Als er aus ihrem Bereiche gekommen war, übergab er uns zweien Indianerfrauen, um uns nach seinem vier Meilen entfernten Hause zu geleiten. Ehe wir es erreichten, wurden wir wiederholt angehalten und die Squaws ausgefragt. Die einfache Antwort jedoch: „Dies sind Wakinyatawa’s Freunde, und er hat ihnen das Leben geschenkt,“ genügte, um uns überall freie Bahn zu schaffen.

„Was hat uns denn eigentlich die wunderbare Hülfe dieser ritterlichen Rothhaut verschafft?“ fragte ich unterwegs Spencer, nachdem ich mich einigermaßen von dem Erstaunen erholt hatte, in das mich dieser deus ex machina versetzt hatte.

„Das will ich Ihnen erklären,“ sagte Spencer. „Wakinyatawa ist der erste und vornehmste von Little Crow’s Kriegern und hochangesehen, ja gefürchtet unter seinen Stammesgenossen. Er war vor fünf Jahren einer der Gesandten, die zum ‚Großen Vater‘ nach Washington geschickt wurden, und ist seitdem fast wie ein Häuptling geachtet. Was meine ‚Cameradschaft‘ mit ihm betrifft, so ist das ein Verhältniß, welches häufig unter den Sioux und wohl auch bei andern Stämmen gefunden wird, eine Art Freimaurerei oder Brüderschaft, die überaus heilig gehalten wird, und zu der auch zuweilen Weiße, die lange unter ihnen gewohnt haben, zugelassen werden. Als ich seine Stimme erkannte, wußte ich, daß wir gerettet werden würden.“

Daß ich im innersten Herzen für den Segen dieser Freimaurerei dankte, wird man mir wohl glauben; es war wenigstens Ein Beweis gegen die Ansicht des Doctors, daß es gar keine besseren Indianer gäbe; es war doch in diesem Einen wenigstens ein Rest von Treue übrig geblieben. Er erschien bald darauf in seiner Wohnung, wusch und verband die Wunden seines „Cameraden“ und versicherte uns seines Schutzes, so lange wir in seinem Wigwam bleiben würden. Spencer fragte ihn, was dieser fürchterliche Ausbruch eigentlich zu bedeuten habe, konnte aber wenig von dem schweigsamen Indianer erfahren. Das Einzige, was er aus ihm herausbekommen konnte, war, daß Wakinyatawa gegen Little Crow’s Plan gewesen sei, aber nichts gegen die Ueberzahl im Rathe habe ausrichten können; daß er in seiner Stellung nicht habe zurückbleiben können, aber versuchen werde, ohne dabei sein eigenes Leben zu gefährden, das Blutbad zu beschränken, und entschlossen sei, selbst seine Hand womöglich mit keines Weißen Blut zu beflecken. Er überließ es uns, entweder bei ihm zu bleiben, oder auf eigne Gefahr hin die Flucht nach dem Fort zu versuchen. Dann verließ er uns wieder und begab sich nach dem Schauplatz des Mordes zurück.

Ich überlegte nun, was weiter zu thun. Spencer fühlte sich schwach; seine Wunde war bedeutender, als er in der Aufregung bemerkt hatte. Auch war er, der mit Sprache und Sitten der Indianer vertraut und Wakinyatawa’s „Camerad“ war, verhältnißmäßig sicher; er beschloß also, vor der Hand zu bleiben. Für mich dagegen war die Gefahr des Bleibens viel größer. Wer konnte sagen, wie lange die Freundschaft Wakinyatawa’s mit Spencer sich auch auf mich ausdehnen würde, oder wie lange er mich gegen seine Genossen würde schützen können? Wie leicht konnte ich, bei meiner völligen Unbekanntschaft mit den Gebräuchen der Wilden, durch irgend etwas die Wuth der gereizten Bestien auf mich lenken und so ihrer Rache zum Opfer fallen! Außerdem war ich unverwundet und hatte mich durch Speise und Trank, die uns die gutmüthigen Squaws gegeben

[117]

„Bitte – bitte!“
Nach dem Oelgemälde von L. Güterbock in Berlin.

[118] hatten, gestärkt; ich beschloß daher, mein Glück zu versuchen und nach dem Fort zu fliehen, das ich im besten Falle in drei bis vier Stunden erreichen konnte.

Ich nahm schnellen, aber herzlichen Abschied von meinem Unglücksgefährten und trat dann meinen gefahrvollen Weg in Gottes Namen an.

Dicke Rauchwolken, die in südöstlicher Richtung aufstiegen, bekundeten, daß das Werk der Zerstörung an der Agentur seinen Anfang genommen habe; dies ließ mich aber auch hoffen, einen guten Vorsprung zu gewinnen, ehe die Wilden nach vollendeter Arbeit sich weiter zerstreuen würden. Ein Canoe, das nahe bei Wakinyatawa’s Hause im Flusse lag, brachte mich in wenigen Minuten auf das nördliche Ufer des Minnesota, und ich begann nun in nordöstlicher Richtung meine Flucht, um dadurch, wie ich hoffte, mehr aus dem Bereich der Mordbanden zu kommen.

Ich war etwa zwei Stunden mehr gelaufen als gegangen, als ich eine Partie Flüchtender gewahr wurde, die demselben Ziele wie ich zustrebten. Als ich sie erreichte, fand ich, daß es Herr Nairs, der Regierungs-Zimmermann war, der bei Beginn des Angriffs seine Frau und vier Kinder ergriffen und mit ihnen in die Prairie hinausgeflohen war. Ihm hatten sich Alexander Hunter und seine junge Frau angeschlossen; beide Männer hatten sich durch Rechtlichkeit und Zuvorkommenheit die Freundschaft vieler Indianer erworben. Wir hatten jetzt die Agentur etwa fünf Meilen hinter uns, als ein Trupp Indianer zu Pferde sichtbar wurde, der eine gefangene weiße Frau mit sich führte und rasch auf uns zukam. Schon gaben wir uns für verloren; denn an Widerstand war nicht zu denken. Zum Glück aber hatten wir uns getäuscht. Als sie Nairs und Hunter erkannten, sprachen sie dieselben freundlich an, unterhielten sich einige Zeit mit ihnen und riethen ihnen schließlich, die offene Prairie und die Straßen zu vermeiden und lieber im dichten Ufergebüsch des Flusses zu bleiben. Frau Nairs hatte sich unterdeß der gefangenen Frau genähert und erfuhr von ihr das tragische Ende des treuen alten Dolmetschers. Prescott war mit ihrem Manne und ihr selbst gleich bei den ersten Schüssen über den Fluß geflohen; schon waren sie ungefähr zehn Meilen von der Agentur entfernt und meinten, die größte Gefahr überstanden zu haben, als ein starker Trupp Wilder plötzlich auf sie lossprengt und ihnen zu halten befahl. „Wir sahen jetzt,“ erzählte sie, „daß unser Schicksal besiegelt war; doch versuchte der siebzigjährige, silberhaarige Philander noch ein Letztes. ‚Ich bin ein alter Mann,‘ sagte er, ‚ich habe jetzt fünfundvierzig Jahre unter Euch gelebt; mein Weib und meine Kinder sind bei Euch und sind von Euerm eigenen Blute; ich habe Euch nie ein Leid gethan und bin Euer treuer Freund gewesen in allen Euren Nöthen; warum wollt Ihr mich jetzt tödten?‘ Ihre Antwort war kurz: ‚Wir würden Dein Leben schonen, wenn wir könnten; aber die weißen Männer müssen sterben; wir können Dein Leben nicht schonen; wir haben Befehl, alle weißen Männer zu tödten; Du bist ein weißer Mann; wir können Dich nicht retten.‘ Als der alte Mann sah, daß Alles vergebens und seine letzte Stunde gekommen war, wandte er sich ruhig und würdevoll ab und empfing, ohne zu zucken, den Todesstreich. Einen Augenblick drauf lag mein Mann todt zu meinen Füßen; mich schleppten sie fort.“ Hier brach die arme Frau zusammen. Glücklich, wenn sie an der Seite ihres Mannes todt in der Prairie gelegen hätte; das Schicksal, das ihrer wartete, war gräßlicher als der Tod. Wir wandten uns nun dem Flusse zu, um womöglich den eigentlichen Mördern Prescott’s zu entgehen, die, nachdem sie die Reiter, denen wir begegnet, mit der Gefangenen nach ihrem Dorfe zurückgeschickt hatten, unter ihrem Häuptling neue Opfer suchen gegangen waren.

Unsere Flucht wurde durch den Umstand ziemlich verzögert, daß Hunter, der vor einigen Jahren die Zehen durch Frost verloren hatte, nur langsam gehen konnte. Als wir in die Nähe eines kleinen Dorfes kamen, begegnete uns ein Indianer, der Hunter gut kannte und ihm freundlich gesinnt war; er drang in ihn, in’s Dorf zu kommen, wo er ihm einen Wagen und Pferde verschaffen wollte, um so das Fort schneller zu erreichen. Hunter ließ sich bewegen und bat mich, ihn doch nicht zu verlassen, weil seine Füße ihm im Fortkommen hinderlich waren. Ich konnte es ihm nicht abschlagen, und so wandten wir uns dem Dorfe zu, während Nairs und seine Familie weiter eilte, und das Dorf[3] auch glücklich erreichte. Im Dorfe angekommen, fanden wir indeß, daß unser indianischer Freund sein Versprechen nicht halten konnte oder wollte. Weder Wagen noch Pferd war zu sehen; das Dorf schien überhaupt wie ausgestorben zu sein, alles war fort bis auf einige Weiber und Kinder; auch unser Rathgeber ließ sich nicht mehr blicken. Im Dorfe zu bleiben, durften wir natürlich nicht wagen; wir schlugen uns also in die hohen, dichten Gebüsche, die sich in ziemlicher Breite häufig längs dem Flusse hinziehen. Wir hatten kaum eine Meile zurückgelegt; ich war gerade ein wenig vorausgegangen, um die dichten Gebüsche etwas zu recognosciren, als ich einen Schuß fallen hörte. Ich selbst war im Buschwerk versteckt, konnte aber deutlich sehen, was hinter mir vorging. Ein Indianer mußte plötzlich von hinten her an Hunter herangeritten sein. Er hatte ihn, ohne ein Wort zu sagen, wie einen Hund niedergeschossen. Nairs lag zu den Füßen seines verzweifelnden Weibes todt hingestreckt. Das Weib selbst wurde von der blutenden Leiche ihres Gatten weggerissen, auf’s Pferd geworfen und dem entsetzlichen Schicksal der übrigen gefangenen Weiber entgegengeführt. Alles dies geschah schneller, als es erzählt werden kann.

Schaudernd sank ich in meinem Verstecke zusammen. Die furchtbare Aufregung dieses Tages, die mehrmaligen schroffen Wechsel von fast gewissem Tode und wunderbarer Rettung und endlich diese letzte gräßliche Scene hatten meine ohnehin nicht starken Nerven dergestalt erschüttert, daß ich einige Zeit halb bewußtlos dalag. Als ich wieder zu mir kam, näherte die Sonne sich schon dem westlichen Horizonte, und ich hielt es für gerathener, bis zur einbrechenden Nacht in meinem Verstecke zu bleiben. Als es dunkel wurde, erhob ich mich vorsichtig, wagte mich wieder aus den Ufergebüschen an den Prairierand hinaus und eilte nun, so rasch ich konnte, dem rettenden Fort zu. Bald sah ich auch die Gebäulichkeiten sich von der Ebene abheben, und in einer guten halben Stunde befand ich mich hinter den schützenden Palissaden und für den Augenblick wenigstens in Sicherheit bei meinen alten Freunden von der Agentur. Aber leider waren sie nicht alle da. Der Major und Herr R., sowie des Letzteren Familie begrüßten mich, den schon Verlorengeglaubten, aber unser armer Doctor fehlte.

Erst den folgenden Tag erfuhren wir sein schreckliches Schicksal aus dem Munde seines allein von der ganzen Familie übriggebliebenen Sohnes. Nachdem er mit seiner kranken Frau und seinen drei Kindern ungefähr vier Meilen von der Agentur entfernt war, wurde Frau H. so schwach, daß sie nicht weiter konnte. Mit Mühe erreichten sie ein Haus am Wege, das von seinen Bewohnern verlassen worden war. Frau H. wurde auf’s Bett gelegt, und der älteste Sohn lief zu einer nahen Quelle, um Wasser für die schmachtende Mutter zu holen, während der Vater sich in die Hausthür setzte, um über sein armes Weib und die zwei Kleinen zu wachen. Als der Knabe zur Quelle gekommen war, hörte er das Kriegsgeheul der Rothhäute in der Nähe des Hauses erschallen, und im nächsten Augenblicke verkündete ihm das Krachen der Flinten das Schicksal seiner Lieben. Entschlossen machte er sich auf den Weg nach dem Fort, begegnete unterwegs dem Commando des Capitain Marsh, der am Nachmittag des verhängnißvollen Tages vom Fort aus nach der Agentur geschickt wurde, und kehrte mit ihnen zurück. Als sie in die Nähe des Hauses kamen, fanden sie nur noch rauchende Trümmer, vor welchen der Doctor erschossen und halb verbrannt lag. Bei Durchsuchung der Ruinen fand man in denselben die verkohlten Ueberreste der Mutter und der zwei kleinen Kinder. Das kleinste Mädchen hielt noch in seinen verbrannten Händchen den Rest einer Porcellanpuppe, von der die Aermste selbst im Tode nicht hatte lassen wollen. Allen Anzeichen nach hatten die Ungeheuer Mutter und Kinder lebendig mit dem Hause verbrannt. Die Leichen wurden in’s Fort zurückgeschafft und dort beerdigt.

Als ich am Abend des 19. August wieder beim Major saß, hatten wir wenig Worte; die furchtbaren Scenen der letzten sechsunddreißig Stunden lagen wie Blei auf unseren Gemüthern.

„Unser armer Doctor hatte schließlich doch Recht,“ sagte der Major nach einer langen, düstern Pause. „Der Indianer ändert seine Natur so wenig wie der Tiger. Hat er einmal Blut gesehen, dann zerreißt er Freund und Feind. Das hat unser armer H. erfahren müssen; denn trotz aller seiner Theorien haben doch seine Mörder keinen bessern Freund in der Noth gehabt, und [119] die, welche den Kranken und Armen unter ihnen die liebreichste Helferin gewesen ist, hat dafür den Märtyrertod in den Flammen sterben müssen! Sollen die Sünden Anderer denn so an den Besten und Edelsten heimgesucht werden?“

„Die Vergeltung kann und wird nicht ausbleiben,“ erwiderte ich. „Die Nachricht von diesen Gräueln wird wie ein Flugfeuer durch den Staat gehen, und bald werden Truppen genug hier sein, die Mordbanden zu Paaren zu treiben.“

„Schließlich wohl,“ antwortete der Major, „aber diese wilden Teufel sind auch schnell wie der Blitz, und ehe genug Mannschaft hier sein wird, wird viel, viel Unheil angerichtet werden; Hunderte werden abgeschlachtet werden und des Gräßlichen wird mehr geschehen, als in Jahren wieder gut gemacht werden kann. Auch wir hier im Fort müssen uns auf eine Belagerung gefaßt machen; und Sie, lieber Freund, werden sich’s wohl gefallen lassen müssen, als Freiwilliger sich uns anzuschließen.“

„Sie werden mich auf meinem Posten finden,“ rief ich, indem ich die Hand des braven Majors herzlich schüttelte; „hier ist meine Hand zu treuer Waffenbrüderschaft, sei’s nun zum Siege oder zum Tode!“




Blätter und Blüthen.

Noch einmal der Fluchtversuch des Prinzen Friedrich. Zu dem „alten Familienbild, Hermann von Katte“ in Nr. 39 des Jahrg. 1872 der Gartenlaube ist ihnen vielleicht ein keiner Zusatz mit Beziehung auf den Zusammenhang des dort erzählten Fluchtversuches Friedrich’s des Großen mit dem Dorfe Steinsfurth im badischen Amtsbezirke Sinsheim nicht unangenehm. Auf Seite 635 wird die Reise des Königs mit seinem Sohne nach Süddeutschland angeführt, die Richtung über Ansbach, Ludwigsburg und dann über Mannheim nach Frankfurt angegeben und dabei gesagt: „man konnte die Stadt nicht mehr erreichen und mußte im kleinen Städtchen Sinsheim übernachten“. Hier liegt ein Irrthum hinsichtlich der Oertlichkeit vor. Die Stadt, welche nicht mehr erreicht werden konnte, war nicht Mannheim, welches eine Tagereise von Sinsheim entfernt liegt, und der Ort, wo man übernachten mußte, war nicht das Städtchen Sinsheim, sondern das Dorf Steinsfurth, welches, an der Landstraße von Heilbronn nach Mannheim gelegen, eine kleine Stunde vor Sinsheim von den Reisenden erreicht wurde, daher sie wegen eingetretener Nacht sich gezwungen sahen, in Steinsfurth zu übernachten.

Der Kronprinz hatte schon in Ansbach den Herzog, seinen Schwager, um eines seiner besten Reitpferde angeblich zu einem tüchtigen Spazierritte, eigentlich aber zu einem Fluchtversuche gebeten, was dieser, der den wahren Grund ahnte, nicht bewilligte, weshalb die Ausführung der Flucht bis zum späteren vermuthlichen Nachtquartier in Sinsheim verschoben wurde. Da aber schon in Steinsfurth übernachtet wurde, sah sich der Kronprinz gezwungen, an diesem Orte sein Fluchtvorhaben auszuführen. Die Lage schien gut geeignet; die Reisenden wurden in verschiedenen Scheunen gleich am Anfange des Ortes untergebracht; der Kronprinz schlief mit dem Obersten von Rochow und seinem Kammerdiener gemeinschaftlich in einer Scheune des Jakob Lerch und bewog den königlichen Leibpagen unter dem Vorgeben eines Liebesabenteuers, am frühen Morgen ihn still zu wecken und Pferde bereit zu halten. Dieser verfehlte in der dunkeln Scheune das Lager des Prinzen und weckte den Kammerdiener, der, über die Sache sehr verwundert, sich ruhig verhielt, um das Weitere abzuwarten. Der Kronprinz hatte den Pagen bemerkt und bekleidete sich leise, aber nicht mit der gewohnten Uniform, sondern mit einem französischen rothen Rock, den er sich auf der Reise angeschafft hatte. Kaum hatte er die Scheune verlassen, so erhob sich auch der Kammerdiener, weckte den Obersten und folgte mit diesem, der noch schnell andere Officiere geweckt hatte, dem Kronprinzen nach, den sie an einem Wagen, den Pagen mit den Pferden erwartend, trafen. Der Oberst bat denselben dringend, doch ja sogleich umzukehren und die Kleider zu wechseln, um nicht den König auf’s Höchste aufzubringen. Der Prinz, über die Störung seines Planes verzweiflungsvoll erregt, wollte zuerst die Officiere durch barsches Entgegentreten irre machen, und war schon im Begriffe, sich schnell auf eines der vom Pagen eben herbeigeführten Pferde zu schwingen, als die Officiere ihn ergriffen und trotz der Gegenwehr in die Scheune zurückführten. So war der lange gefaßte Fluchtplan gescheitert. Der Oberst erstattete am Morgen dem König Bericht über das Vorgefallene, ohne über die eigentliche Bedeutung Aufschluß geben zu können. Erst nach der Ankunft in Frankfurt erhielt der König die Meldung des Erlanger Werbe-Officiers von Katte mit dem aus Versehen an diesen statt an den Berliner Vertrauten Hermann von Katte gelangten Schreiben des Kronprinzen mit seinen Anordnungen wegen der vorhabenden Flucht und wurde so von dem wirklichen Vorhaben in Kenntniß gesetzt. Von dem weiteren Verlaufe der nun erfolgten Gefangennehmung des Kronprinzen kann ich im Hinblicke auf die Erzählung der Gartenlaube schweigen, aber über die Oertlichkeit in Steinsfurth möchte ich noch weitere Meldung machen.

Die Scheune, in welcher der Kronprinz geschlafen und von welcher aus er die Flucht versucht hat, steht mit dem anstoßenden alterthümlichen Wohnhause heute noch. In der Familie des jetzigen Besitzers hat sich die Ueberlieferung von Geschlecht zu Geschlecht mündlich fortgeerbt, daß diese Scheune, von Jakob Lerch, einem etwas älteren Zeitgenossen des Kronprinzen, erbaut worden und später der Schauplatz des oben Erzählten wurde. In der Familie vererbte sich auch die Erzählung, der König habe bei der Abreise dem Jakob Lerch ein beträchtliches Geldgeschenk gegeben mit der Aufforderung, die Scheune besser herzustellen, daß es, wenn er wiederkomme, nicht mehr hineinregne. Ja, ich weiß von Einwohnern der zwei ganz naheliegenden Orte Steinsfurth und Rohrbach, deren Quellen jedenfalls hundert Jahre zurückreichen, daß man schon in der frühesten Zeit scherzweise erzählte, wie der König oder Kronprinz zu Steinsfurth in einem Lerchenneste übernachtet habe.

Mit diesem Nachtrage zu Nr. 39 der „Gartenlaube“ wollte ich nur Kenntniß geben für weitere Kreise, daß die interessante Localität noch unverändert existirt und deren geschichtliche Bedeutung von Niemandem aus der Umgegend bezweifelt wird.

Sinsheim bei Heidelberg, im Januar 1873.

Hack, Medicinalrath.

Verkehrserleichterungen und Zeitersparnisse gehören unter die großen Tagesfragen. Seitdem wir Eisenbahnen, Telegraphie, Stenographie, Nähmaschinen, Schnellpressen etc. haben, regt sich’s allerwärts, alte, schwerfällige Formen abzuwerfen und neue Einrichtungen zu schaffen, welche, den gesteigerten Anforderungen der Gegenwart entsprechend, den Weg zu den verschiedensten Zielen ebnen und abkürzen. Daß der Umgestaltungsproceß in allen Gebieten so ungemein lebhaft geworden, ist aber die Ursache, daß vom Publicum viel Einzelnes, obwohl fast Jeder Nutzen daraus ziehen könnte, unbeachtet bleibt und eine Reihe von Jahren dazu gehört, um es allgemeiner einzubürgern. Hier nur ein Pröbchen aus dem Postgebiete.

Lange hat es gedauert, bis man sich gewöhnte, die Frankirung der Briefe nicht durch Einzahlung am Schalter, sondern durch Aufklebung von Freimarken zu bewirken. Auch der Gebrauch von Postanweisungen für kleinere Geldsendungen, sowie von offenen Correspondenzkarten für kurze Nachrichten fängt bereits an, sich weiter auszubreiten, selbst in ländlichen Kreisen. Sehr selten benutzt, ja fast ganz unbekannt im großen Publicum ist aber zur Zeit noch die seit Jahr und Tag bestehende Form dieses Vehikels mit angebogener Karte für die Antwort.

In jeder Postanstalt sind nämlich zusammengefaltete Karten zu haben, auf deren oberer, für die Adresse bestimmter, gedruckt steht:

Correspondenz-Karte.
(Rückantwort bezahlt.)
An . . . . . . . . . . . . . .
     in . . . . . . . .

darunter Gebrauchserklärung. Die Rückseite dieses Blattes dient, wie bei der einfachen Postkarte, für die Mittheilung Seitens des Absenders. Die angebogene untere Karte, „bezahlte Rückantwort“ überschrieben, kann der Letztere mit seiner eigenen Adresse versehen, um seinem Correspondenten die Mühe zu ersparen. Beide Karten, die obere wie die untere, werden jede mit einer halben Groschenmarke beklebt.

Der Hauptvortheil dieser Einrichtung liegt nicht sowohl darin, daß beiden Theilen die Mühe und das Porto zweier Briefe erspart wird, als vielmehr in dem Umstande, daß der Adressat in einer sanften, aber unwiderstehlichen Art zu einer Antwort, und zwar zu einer raschen, kurzhändigen, bewogen wird. Referent hat nicht nur selbst in dieser Weise viele glückliche Versuche gemacht mit hartnäckig säumigen Briefschreibern, von denen die Welt wimmelt, sondern auch mehrfach Bekannten, die gesprächsweise über ausbleibende Antworten verzweifelten, den Rath gegeben, jenen Modus anzuwenden, und – nicht ein einziges Mal blieb derselbe ohne Erfolg!

Die Erklärung ist einfach genug. Erstens übt schon die Neuheit der Sache einen spornenden Reiz aus. Sodann wird selbst bei einem verhärteten, mit Briefschulden aller Art belasteten Gemüthe ein Rest von Gefühl sich regen, wenn solch schmuckes Kärtchen als Bittsteller vor ihm erscheint. Das artige kleine Ding wirbt ja nur um wenige Zeilen. Der Befragte braucht sich nicht den Kopf zu zerbrechen, welche Form der Anrede er wählen, ob er „hochachtungsvoll“ oder „freundschaftlich ergebenst“ zeichnen soll, sondern kann, Hegel zum Trotze, den Beweis führen, daß es doch „Inhalt ohne jedwede Form“ in der Welt giebt. So wird denn flugs Bleistift und Scheere genommen, in drei Minuten ist die Sache erledigt und einem hülfsbedürftigen Nebenmenschen ein Dienst erwiesen.

Wie geht’s dagegen mit Briefen? – Hand auf’s Herz! fast Keiner von uns hat da ein ganz sauberes Gewissen. Es ist eine alte Geschichte, doch wem sie just passiret, dem reißt die Geduld entzwei und er ärgert sich (was sehr übel gethan ist), anstatt zu bedenken, daß er selber früher schon Anderen ähnliches Aergerniß gab, den Fall als Sühne zu betrachten und sich zu bessern.

Der „offenen Fragen“, politischer, socialer, confessioneller, giebt’s in der That genug, um einen erklecklichen Theil der vierzig Millionen Deutschen zu beschäftigen und zu beunruhigen. Preis und Dank also unserm unermüdlichen Stephan in Berlin, der durch seine rosenfarbigen Doppelzettel uns hilft, Hunderttausende von kleinen Fragen des Privatverkehrs aus der Welt zu schaffen.

Arthur Michelis.

Zeitungsjungen in New-York. Wer Victor Hugo’s „Les Misérables“ gelesen hat, weiß, was die Pariser Straßenjungen treiben, hat darum aber noch lange die New-Yorker Zeitungsjungen nicht kennen gelernt. In New-York ist bekanntlich eine Zeitung dem einigermaßen gebildeten Publicum ebenso unentbehrlich wie das tägliche Brod. Das Erste beim Erwachen ist ein Verlangen nach der Zeitung; diese so früh zu liefern ist nicht sehr leicht, denn Depeschen werden noch bis drei oder vier Uhr gedruckt, vor fünf Uhr kann also das Blatt die Presse nicht verlassen. Ein Zeitungsträger muß seine Assistenten haben, wovon einige die verschiedenen Zeitungen zusammenbringen und auf bereitstehende Fuhrwerke werfen; [120] mit möglichster Schnelligkeit befördern diese dieselben nach den obern Stadttheilen, wo dann Andere bereitstehen, um sie zu empfangen und an die Abonnenten auszutheilen. Da dieses Austheilen, welches die Morgenzeitungen betrifft, Capital erheischt, wird es gewöhnlich nur von Erwachsenen unternommen. Erst mit den Abendzeitungen kommt die Jugend in’s Spiel. Die während des Tages passirten Neuigkeiten werden spät am Nachmittag durch Abendzeitungen bekannt gemacht, welche ungefähr ebenso zahlreich wie die Morgenzeitungen sind, aber weniger in die Wohnungen geliefert, als auf der Straße verkauft werden. Hier gilt es bei jedem Träger der Erste zu sein: wie ein wildes Heer stürzen gegen ein Uhr Kinderschaaren mit Zeitungsbündeln aus den Druckereien, um, sich gegenseitig überrufend und überlaufend, die belebtesten Straßen zu erreichen; einige haben die Füße entblößt, um rascher laufen zu können; andere hängen sich an vorüberfahrende Wagen, theils um den Insassen Zeitungen zu verkaufen, theils um schnell vorwärts zu kommen. Ueberall tönen bald die gellenden Stimmen, Mordfälle, Brände oder Kriege verkündend – ohne solchen Inhalt wären die Blätter langweilig. Vorsichtig wird nur so viel ausgerufen, daß man nichts Bestimmtes daraus entnehmen kann, ohne das Blatt zu kaufen. Der Preis der verschiedenen Zeitungen variirt von ein bis fünf Cents, woran der Träger dreiunddreißig und ein Drittel Procent Commission verdient. Die billigsten haben die größte Circulation. Nach einer Stunde, also um zwei Uhr, erscheint die zweite Auflage; die erste muß bis dahin abgesetzt sein, weil sie nachher unverkäuflich bleibt. Das Rennen und Drängen geht nun von Neuem los, um sich jede Stunde zu wiederholen, bis endlich um fünf Uhr die letzte Auflage vertheilt wird.

Das Capital dieser Jungen hat sich nach vollendeter Tagesarbeit in der Regel verdoppelt: waren sie am Morgen 25 Cents werth, so besitzen sie am Abend 50 Cents. Manche sind sparsam und werden im Laufe einiger Jahre angesehene Geschäftsmänner; Andere verjubeln in der Nacht ihre ganze Baarschaft und müssen mit geliehenem Gelde am Morgen wieder beginnen. Einige speculiren in Lotterien oder an Spieltischen. Gerieben und lebhaft werden sie alle; schreiben und lesen können aber nur die Wenigsten; trotzdem ist ihnen der Inhalt der Zeitungen stets bekannt. Wie sie sich mit demselben vertraut machen, bleibt ein Räthsel.

Häufig kennen diese Kinder ihre Eltern nicht und besitzen keine Heimath; ihr Nachtlager befindet sich in diesem Falle auf den Straßen oder unter den Schiffswerften. Am Morgen, ehe ihre Arbeit beginnt, belustigen sie sich, Jeder nach seinem Geschmack; eine Balgerei oder ein Feuer zieht sie von allen Seiten herbei und gewährt ihnen das größte Gaudium. Können sie durch kleine Dienstleistungen einen Penny verdienen, so sind sie bei der Hand; können sie im Gedränge ein Taschentuch oder einen Handschuh entwenden, um das „gefundene“ Stück gegen eine Belohnung wieder auszuliefern, so sind sie auch bei der Hand. Wittern sie dann auf hundert Schritte einen Polizisten, so sind sie rein verschwunden. Um eine treffende Antwort sind sie selten verlegen. Neulich sprach ein Vorübergehender, der sich nicht zurecht finden konnte, einen Zeitungsjungen also an: „Ich möchte gerne nach der Pearl-Straße gehen.“ „Nun, gehen Sie ungenirt hin!“ lautete die Antwort. Vor Kurzem kaufte ein ältlicher Herr eine Zeitung, deren Werth vier Cents betrug; er gab dem Jungen ein Fünf-Centsstück, womit sich dieser davon machen wollte. Den Jungen einholend, nahm ihm der Käufer das Geldstück wieder ab, gab ihm das Blatt zurück, rief einen andern Jungen herbei und kaufte diesem, zur Bestrafung des Ersteren, die Zeitung ab. Seinen Zweck hatte der Mann aber nicht erreicht, denn ganz lustig rief ihm der erste Junge nach: „Ich danke Ihnen, Sir, der und ich sind associirt.


Noch einmal der Heiligenschein. Herr Dr. J. Schnauß in Jena schreibt uns anläßlich des Artikel „Ueber den Heiligenschein“ von Carus Sterne in Nr. 3 der Gartenlaube über eine ähnliche eigenthümliche Erscheinung, welche dem größeren Publicum wohl kaum bekannt sein dürfte. Während nämlich in dem genannten Artikel nur von subjectiven Lichterscheinungen, die in einer optischen Täuschung bestehen, die Rede ist, handelt es sich hier um einen wirklichen Lichteffect, der jeden Augenblick von Jedermann gesehen werden kann, in seinem naturgetreuen photographischen Abbild wenigstens. Die Sache ist folgende: Man bemerkt an manchen Photographien, besonders solchen, die in früheren Jahren noch nach den alten Collodiumrecepten (ohne oder mit nur wenig Bromsalzen) angefertigt wurden, schon auf den negativen Bildern einen eigenthümlichen Lichthof um die dunkelsten Partien des Portraits, aber nicht bloß der Person, sondern auch des Stuhles, Tisches u. s. w. Im Negativ stellt sich dieser Lichthof natürlich als ein dunkler, allmählich heller werdender Umriß dar, im positiven Papierabdruck erscheint derselbe folglich hell und macht ganz den Effect einer phosphorescirenden Lichthülle um die Figur.

Schon in Sutton’s „Dictionary of Photography“ ist dieser Erscheinung als einer bei Anfertigung von Daguerreotypen und Glaspositiven besonders häufig beobachteten gedacht. Da nicht anzunehmen, daß von den abgebildeten Gegenständen ein besonderes, für das Auge unsichtbaren Licht ausgegangen sei, so mag die Ursache dieses Phänomens wohl in einer eigenthümlichen Beschaffenheit des gerade verwandelten Jodsilbers zu suchen sein, bleibt jedoch immer von wissenschaftlichem Werthe. Sicher ist, daß dieselbe nicht in einer fehlerhaften Lichtzerstreuung der photographischen Linsen ihren Ursprung hat. Wäre es möglich, diesen eigenthümlichen Lichthof beliebig hervorzubringen, so dürfte sich wohl schon irgend ein speculativer Kopf diesen Mittels bemächtigt haben, um Leichtgläubige wirklich hinters Licht zu führen und auf Verlangen mit einem Heiligenschein zu umgeben. Ein Wink für die im Humbug so starken Yankees, denen Geisterphotographien ja schon längst ein wichtiges Beweismittel der Spiritisten abgeben!


Für einen Todten die Eltern gefunden. Die Aufforderung, welche auf Ersuchen der großherzoglich hessischen Polizeiverwaltung in Gießen in Nr. 41 des vorigen Jahrgangs der „Gartenlaube“ in Betreff eines todt Aufgefundenen erlassen worden ist, nachdem die obrigkeitlichen Ausschreiben erfolglos gewesen waren, hat ihre Erledigung gefunden. Die „Main-Zeitung“ berichtet, daß, fast ein Jahr nach dem erschütternden Todesfalle, die Nachricht davon erst durch die „Gartenlaube“ in den Kreis der angesehenen Berliner Familie drang, die vergeblich die Spur des „vermißten“ Sohnes verfolgt hatte.



Kleiner Briefkasten.

A. J. zu H. Das erste Quartal 1872 der „Deutschen Blätter“ können Sie durch jedes Postamt beziehen. Als populäre Weltgeschichte empfehlen wir Ihnen diejenige von C. Wernicke, namentlich wegen ihrer Preiswürdigkeit.

L. L. St. Ihre Erzählung ist nicht zu verwenden. Das Manuscript steht zu Ihrer Verfügung.

S. R. Haben Sie die Güte, uns die betreffenden Nummern des uns genannten Wochenblattes zur Beförderung an die erwähnte Schriftstellerin zugehen zu lassen.

M. S. in Wesel. Danken für freundliche Berichtigung. Würden Sie sich nicht entschließen können, Ihre interessanten Erinnerungen für die Gartenlaube niederzuschreiben?

S. in Br. Auf Ihre Anfrage die Mittheilung, daß „Rückert’s Kindertodtenlieder“ bei J. D. Sauerländer in Frankfurt a. M. erschienen sind.

J. G. Br. Vernichtet.

V. in B. Nicht verwendbar. Das Manuscript steht zur Verfügung.

W. Lff. in Apolda. Bei der Weglassung der Seitenzahl über den Illustrationen haben wir uns lediglich durch Rücksichten des guten Geschmacks leiten lassen und werden diesen Gebrauch möglichst auch beibehalten.

B. Günther. Verfügen Sie gefälligst über das Manuscript Ihrer Novelle „Dornröschen“, welches wir nicht verwenden können.

F. O. in Waltershausen. In wöchentlichen Nummern wird die Gartenlaube in 166,000 Exemplaren ausgegeben, der Rest der Auflage in Monatsheften.

K. W. in Königsberg. Ihr Manuscript liegt auf der Post.



Zur Beachtung!

Von einer großen Anzahl neuer Abonnenten ist mir wiederum der Wunsch ausgesprochen worden, die früheren noch vorräthigen Bände der „Gartenlaube“, zur Erleichterung der Anschaffung, unter dem Ladenpreise abzulassen. Ich habe mich daher entschlossen, den Preis der

drei Jahrgänge 1867 bis 1869,

welche außer den interessantesten unterhaltend-belehrenden Artikeln das Gediegenste der neueren Novellistik enthalten, wie:

     Herm. Schmid, Die Brautschau – Der Habermeister – Süden und Norden – Die Gasselbuben,
     E. Marlitt, Das Geheimniß der alten Mamsell – Reichsgräfin Gisela,
     Lev. Schücking, Der Schatz des Kurfürsten – Verlassen und Verloren,
     Edm. Höfer, Die Herrin von Dernot,
     Paul Heyse, Lorenz und Lore – Vetter Gabriel,
     Louise Mühlbach, Prinz und Schlossergeselle,
     Ad. Wilbrandt, Heimath – Die Brüder,
     Max Ring, Im Hause der Bonaparte,
     F. L. Neimar, Getrennt – In sengender Gluth,
     A. Godin, Das Erkennungszeichen,
     A. Bernstein, Aus vollem Menschenherzen,
     Ad. v. Auer, Jedem das Seine,
     Friedr. Bodenstedt, Das Mädchen von Liebenstein,
     Friedr. Gerstäcker, Zu wirthschaftlich,

zusammengenommen bis Ende März d. J., von 6 Thlr. auf 2 Thlr. 20 Ngr. zu ermäßigen, mache aber ausdrücklich darauf aufmerksam, daß diese Ermäßigung nur bis Ende März und bei Zusammenkauf der drei Jahrgänge gilt. Einzelne Jahrgänge behalten den alten Preis von 2 Thlr.
Ernst Keil.



Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Obige Vorträge wurden den 24. und 25. Januar 1873 im Amphitheater des physiologischen Privatlaboratoriums an der Universität Leipzig gehalten. – Zur Erklärung des Wortes Hypnotismus bemerken wir, daß es von dem griechischen „ὕπνος“ (der Schlaf) abgeleitet ist. Der schottische Chirurg Mr. Braid hat dasselbe im Jahre 1841 in die Wissenschaft eingeführt; er hat damit jene eigenthümlichen schlafartigen Zustände und sonstigen Nervenerscheinungen bezeichnen wollen, welche sich bei manchen Menschen in Folge länger fortgesetzten starren Fixirens selbst eines kleinen leblosen Gegenstandes einstellen und welche man früher als Phänomen des Mesmerismus, Somnambulismus, thierischen Magnetismus betrachtete. Die Worte Hypnotismus und Braidismus sind daher gleichbedeutend.
    D. Red.
  2. Vorlage: „überhanpt“
  3. [170] Berichtigung. In dem Artikel „Erinnerungen aus dem Indianeraufstand in Minnesota“ in Nr. 7 der Gartenlaube ist Seite 118, erste Spalte, letzte Zeile unten statt „und das Fort auch glücklich erreichte“ zu lesen: „und das Dorf auch glücklich erreichte“.