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Am Sonntage Judica.

Evang. Joh. 8, 46–59.
46. Welcher unter euch kann Mich einer Sünde zeihen? So Ich euch aber die Wahrheit sage, warum glaubet ihr Mir nicht? 47. Wer von Gott ist, der höret Gottes Wort. Darum höret ihr nicht, denn ihr seid nicht von Gott. 48. Da antworteten die Juden und sprachen zu Ihm: Sagen wir nicht recht, daß Du ein Samariter bist und hast den Teufel? 49. JEsus antwortete: Ich habe keinen Teufel, sondern Ich ehre Meinen Vater und ihr unehret Mich. 50. Ich suche nicht Meine Ehre; es ist aber Einer, der sie suchet und richtet. 51. Wahrlich, wahrlich, Ich sage euch: So jemand Mein Wort wird halten, der wird den Tod nicht sehen| ewiglich. 52. Da sprachen die Juden zu Ihm: Nun erkennen wir, daß Du den Teufel hast. Abraham ist gestorben und die Propheten, und Du sprichst: So jemand Mein Wort hält, der wird den Tod nicht schmecken ewiglich. 53. Bist Du mehr denn unser Vater Abraham, welcher gestorben ist, und die Propheten sind gestorben? Was machst Du aus Dir selbst? 54. JEsus antwortete: So Ich Mich selbst ehre, so ist Meine Ehre nichts. Es ist aber Mein Vater, der Mich ehret, welchen ihr sprechet, Er sei euer Gott, 55. Und kennet Ihn nicht. Ich aber kenne Ihn, und so Ich würde sagen. Ich kenne Ihn nicht, so würde Ich ein Lügner, gleichwie ihr seid. Aber Ich kenne Ihn und halte Sein Wort. 56. Abraham, euer Vater, ward froh, daß er Meinen Tag sehen sollte, und er sah ihn und freute sich. 57. Da sprachen die Juden zu Ihm: Du bist noch nicht fünfzig Jahre alt und hast Abraham gesehen? 58. JEsus sprach zu ihnen: Wahrlich, wahrlich, Ich sage euch, ehe denn Abraham ward, bin Ich. 59. Da hoben sie Steine auf, daß sie auf Ihn würfen. Aber JEsus verbarg Sich und gieng zum Tempel hinaus, mitten durch sie hinstreichend.

 DIe Leiden, welche unser HErr und Heiland JEsus Christus zu erdulden hatte, waren nicht alle von einer und derselben Art. Zum Theil waren es solche, welche an Art und Maß über das Leiden anderer Menschen hinausgiengen, wie z. B. Seine Seelenleiden im Garten und am Kreuze. Zum Theil waren es aber auch Leiden, wie wir sie zu erdulden haben, nur dadurch unterschieden, daß uns kein Leiden trifft, das wir nicht selbst verdienten, während alles, was ER litt, unschuldiges Leiden und unverdiente Last ist. Die Leiden der ersteren Art sind es, deren Andenken die Passionszeit insonderheit gewidmet ist; an den Sonntagen der Passionszeit aber, an diesen Freudentagen mitten in tiefer Buße, kann man nicht von diesen Leiden reden. Die eigentlichen Passionspredigten, wie wir sie an jedem wiederkehrenden Freitag der Fastenzeit halten, beschäftigen sich ganz mit den Leiden der ersteren Art. Dagegen wird es − bei aller Festhaltung des fröhlichen Charakters unserer Fastensonntage − dennoch unsträflich sein, wenn wir wenigstens an einem von allen, ich meine den heutigen, dem Tone der ganzen Zeit, in welcher wir leben, mit welcher wir der großen Woche entgegen eilen, uns in so weit ergeben, daß wir eine Predigt von den Leiden Christi der zweiten Art halten. Unser Evangelium ladet dazu ein; es spricht von solchen Leiden. Geliebts euch also, liebe Brüder, so wollen wir

1. die Leiden JEsu selbst betrachten, von denen unser Text spricht,
2. die Art und Weise, wie sie der HErr ertrug,
3. die Art und Weise, wie Er Seine Feinde behandelt, von welchen Ihm diese Leiden angethan wurden.

 Es ist für den HErrn ein schmerzliches Leiden, daß Er ein Zeichen sein muß, dem widersprochen wird, widersprochen in dem, was Er sagt, widersprochen in dem, was Er ist. − Wenn einer nicht ist, was er soll, und nicht thut, was recht ist, ist es für ihn selbst und für die Sache, welche er vertritt, ein Glück, wenn er Widerspruch und Widerstreben erfährt. Aber wenn einer Recht hat und es mit allem Ernste meint, dann ist der Widerspruch nicht bloß für seine Sache, sondern noch mehr für diejenigen ein Unglück, welche widersprechen, und es kann kommen, daß auch der selbst, dem widersprochen wird, ein tiefes Leid über den Widerspruch empfindet. Je treuer und redlicher ein Mann es meint, ein je schöneres Ziel er im Auge hat, desto wahrer wird das sein, desto tieferes Leid wird er empfinden. Das gilt insonderheit vom HErrn und für Ihn in dem Falle, in welchem wir Ihn heute sehen. Seine Feinde widersprechen Ihm, Er mag sagen, was Er will. Redet Er von Sich, so widersprechen sie; redet Er von Abraham, sie widersprechen; von den Juden selbst, sie widersprechen; und redet Er von Seinem Vater, so widersprechen sie auch. Und nicht bloß Seinen Worten, auch Seiner Person widersprechen sie. Sie können Ihn keiner Sünde zeihen, dennoch nennen sie Ihn einen Samariter, der den Teufel habe, und einen Uebermüthigen, der sich selbst zu Gott mache, der deshalb des Todes würdig sei. Kann nun dieß Widersprechen, diese Feindschaft dem HErrn angenehm gewesen sein? Wie Er selbst vor Pilato Zeugnis gab, war Er dazu geboren und in die Welt gekommen, daß Er von der Wahrheit zeugete; Seine Worte waren lautere Wahrheit, − und nun nahm man sie nicht an! Die Wahrheit nicht angenommen, sondern verachtet zu sehen, kann Ihn, den König der Wahrheit, das freuen?| Dazu waren Seine Worte nicht bloß wahrhaftige, sondern auch seligmachende Worte. Wer ihnen also widersprach, der widersprach seiner Seligkeit; durch Widerspruch wurde er gehindert; sie zu erfassen; er kam in große Gefahr, verloren zu gehen. Soll Ihn nun, den Freund der armen Widersprecher, der Widerspruch nicht geschmerzt haben? Er war gekommen, zu suchen und mit Seinem Worte selig zu machen, was verloren, und es sollte Ihm gleichgültig gewesen sein, wenn die Menschen boshaft die Absicht Seiner Sendung und Seines Kommens vereitelten, wenn die verlorenen, irrenden Schafe recht geflißentlich die Wüste und Irrfahrt erwählten und sich davon nicht erretten laßen mochten? Er war, wie Er ohne die mindeste Verletzung der Demuth sagen durfte und zum Preis der Wahrheit sagen mußte, sündlos − um der sündigen Menschheit zu helfen; wahrhaftig, um durch Wahrheit die Menschen aus der Lüge und ihrem finstern Reiche zu führen; − voller Lebensworte, um den Tod der armen Menschen zu tödten; − des Vaters gehorsamer Sohn, um die ungehorsame Welt voll abtrünniger Kinder zu versöhnen, − Abrahams Sehnsucht und Freude, weil Er Abraham und seinem Samen aushelfen sollte zum ewigen Leben, − ewiger Art, vor Abraham und der Welt, Gott von Art und Macht, um allmählich jedes Hindernis unsrer Seligkeit beseitigen zu können. In Ihm war Gottes Weisheit und Erbarmung leibhaftig erschienen und der ganze Gnadenwille des Allerhöchsten sollte durch Ihn vollzogen werden. Der Himmel begleitete Seinen Gang von den ewigen Höhen zur Erde, Seinen Gang durchs Leben Schritt für Schritt mit Beifall und Lobgesang; die Erde hätte Ihn mit Dankpsalmen ohne Ende begleiten sollen von der Krippe bis zum Grabe. Und nun siehe, wie wahr das Wort ist: „Er kam in Sein Eigentum, aber die Seinen nahmen Ihn nicht auf.“ Sie leugnen Ihm ja alles ins Angesicht ab, und Er soll alles nicht sein, was Er ist, nicht Gott, sondern ein Gotteslästerer, nicht Abrahams Same, sondern ein Samariter, nicht Gott gehorsam, sondern beseßen, also auch nicht wahrhaftig, nicht sündlos. Da hätte ja alle Verheißung, deren Ja und Amen Er war, umsonst auf Erfüllung gewartet, und Gottes heiliger und gnädiger Wille wäre unausgeführt, − die armen Juden und mit ihnen alle Menschen wären dem Verderben und Tod geweiht, unerlöst und unversöhnt geblieben. Begreifen wir denn nach alle dem nicht, daß dem HErrn der Juden Widerspruch ein Schmerz, ein tiefer Schmerz gewesen ist und gewesen sein muß? Ach, wer je etwas Gutes gewollt hat und ist mit seinem treuen Willen zurückgewiesen worden; wer je eine Kraft in sich getragen, etwas Herrliches vollenden zu können, und die Kraft nicht versuchen, nach seinem Ziele nicht jagen sollte; wer je mit einem Herzen voll aufopfernder Liebe und Händen voll Segens keine, oder eine lieblose Aufnahme fand, ferne gehalten, weggestoßen wurde, als wäre er ein flehender Bettler oder gar ein Dieb: der kann es einigermaßen faßen oder mindestens ahnen, wie das liebevollste aller Herzen, die je auf Erden schlugen, das reichste unter allen, unter dem beispiellosen Undank der Juden gelitten haben muß. Wenn Sich der HErr von den Juden abgewendet hätte, wenn Er ihnen nicht mehr gewesen wäre, was zu sein Er gekommen war, wenn Er ihnen nicht mehr gegeben hätte, was Er Sich vorgenommen: was wäre dann gewesen, was wäre aus ihnen geworden und aus der ganzen Welt? Sie widersprachen dem HErrn nicht bloß mit Worten, sondern auch mit der That; sie wollten Ihn steinigen: wenn Er ihnen gethan hätte, was sie verdienten, wenn Er Sein Angesicht weggewendet hätte auf Nimmerwiederkehr: wie dann? Wer hätte Ihn ungerecht nennen können? Aber freilich, in Ihm lebte mehr als nur Gerechtigkeit; Heiland ist Sein Name, drum wird Er nicht ermüdet von Undank, drum bleibt Er geduldig in all der Bosheit, die Ihn umgibt und gern umgarnt hätte, und drum ist Seine Art und Weise, dieß Ungemach und Leid des jüdischen Undanks zu tragen, so groß und so schön.
 Vor allem strahlt aus dem Benehmen JEsu das Bewußtsein der heiligsten Unschuld hervor. Keine Verwirrung, keine Schamröthe, keine auch nur leise Verlegenheit ist zu bemerken. Wenn andere Menschen angegriffen und getadelt werden, müßen sie ihre Antworten und Vertheidigungen immer auf ein Bekenntnis ihrer Sündhaftigkeit gründen und sich so verhalten, daß man nicht, indem sie sich vertheidigen, in der Vertheidigung den Stolz eigener Gerechtigkeit vermuthe. Christus hatte eine eigene Gerechtigkeit, eine glänzend schöne, welche Adams Unschuld im Paradiese bei weitem| übertraf; Er durfte Sich getrost auf sie berufen, Gott und Menschen für sie zu Zeugen nehmen, und fand gewis dazu auch die Art, welche Seine mit Sünde beladenen Feinde darniederblitzte. Schön und hehr, groß und furchtlos stand Er unter Seinen Feinden; Sein Auge konnte von Aug zu Auge wandeln; in heiterster, stillester Ruhe, mit der liebenswürdigsten Festigkeit konnte Er sie alle einmal um das anderemal, nach jedem von ihnen gehörten Vorwurf fragen, wie Er sie Eingang unsers Textes fragt: „Welcher unter euch kann Mich einer Sünde zeihen?“

 Das Bewußtsein heiliger Unschuld sehen wir an JEsu, aber nicht bloß das, sondern wir finden Ihn auch so ganz frei von allem Ehrgeiz. Er hungert nicht nach Anerkennung und Ehrenbezeigungen der Menschen; Er überläßt es frei Seinem himmlischen Vater, Ihn zu ehren und Ihm Ehre bei den Menschen zu verschaffen. Aber freilich, auf Den beruft Er Sich auch mit zuversichtlichster Ruhe: „Ich suche nicht Meine Ehre; es ist aber Einer, der sie sucht und richtet. − So Ich Mich Selber ehre, so ist Meine Ehre nichts. Es ist aber Mein Vater, der Mich ehret, welchen ihr sprechet, Er sei euer Gott.“ So sprach Er, und allerdings, wer so sprechen konnte, wer so gewis wußte, daß der allmächtige Gott um Seine Ehre eifere, der konnte die Ehre von Menschen gering anschlagen und von ihr völlig absehen; Er konnte es völlig ruhig erwarten, ob nicht am Ende dennoch die Erde von Seiner Ehre grün und fröhlich sproßen würde, da der Himmel Ihm so treu und beständig die Ehre gab. − Zwar wir könnten auch von der Ehre bei Menschen absehen, da sie ohnehin so winzig, so wankelmüthig und ein Gut von so zweifelhaftem Werthe ist; wir könnten auch auf die Ehre bei Gott sehen und nach ihr jagen! Aber wir thun es nicht. Wir sind von der Erde, darum zieht uns die Ehre der Erde so sehr an; wir sind nicht, wie Christus, vom Himmel, darum däucht uns Thoren die Ehre bei dem hochgelobten Gotte oft nur klein. Und eben deshalb sind wir selbst so klein Christo gegenüber, und Christus steht uns gegenüber so übergroß und hehr, so ohne Vergleich, so unnachahmlich, − und ist uns doch grade hierin ein Muster und Beispiel, dem wir nachfolgen sollten.

 Wenn wir nun drittens sagen: an Christi Benehmen gegen Seine Feinde bewundern wir eine himmlische Demuth, haben wir dann nicht im Grunde dasselbe gesagt, wie wenn wir Ihn von allem Ehrgeiz frei sprachen? Ich denke nicht, geliebte Freunde! Der nicht nach Ehre geizt, muß drum nicht nothwendig demüthig sein. Christus aber ist nicht bloß frei von der Menschen Ehrgeiz, sondern Er leuchtet auch im reinsten Lichte der Demuth. − Oder müßen wir vielleicht ein anderes sagen? Wir haben zuerst an Christo das Bewußtsein der heiligsten Unschuld bemerkt: sollte vielleicht die Demuth, die wir drittens an Ihm finden, dem Bewußtsein der Unschuld widerstreiten? Hebt etwa eines das andere auf? Das würde der Fall sein, wenn Bewußtsein der Unschuld mit Hochmuth gleichbedeutend wäre, wenn man sich nicht in tiefster Demuth seiner Unschuld bewußt sein könnte. Bei Christo geht beides zusammen und gerade in Anbetracht Seiner Demuth können wir mit apostolischen Worten einander zurufen: „Gedenket an Den, der ein solches Widersprechen von den Sündern wider Sich erduldet hat!“ (Ebr. 12, 3.) Denn wie demüthig ist ER! − Demuth an den Kleinen, die nichts sind, ist begreiflich, und sie sollte sich von selbst verstehen, obwohl sie nichts weniger als häufig ist. Demuth aber an dem Hochgelobten, ein Wesen, das sich weder reizen, noch erbittern läßt, das bei der richtigen, ruhigen, einfältigsten Schätzung Seiner selbst bleibt, auch wenn Ihm kundgegebene Bosheit der andern Anlaß gibt, vieles von Sich selbst, wenn schon mit Wahrheit, doch auch mit ernster Strenge und hohem Tone zu sagen, − dabei die stillste Zufriedenheit im Leide und in großer Bitterkeit des Lebens: das ist denn doch eine wunderbare Schönheit, welche nicht von dieser Welt stammt, welche Engel und Menschen ergötzt.

 Es ist übrigens etwas ganz Eigenes, von JEsu Demuth zu reden. Es ist nicht so gar leicht, zu sagen, worin sie besteht; denn sie kann nicht eins und dasselbe mit der uns armen Sündern gebotenen Demuth sein. Unsre Demuth ist im Grunde nichts mehr als eine Art von Wahrhaftigkeit, indem wir zugestehen, was wir nicht leugnen können, die Sündhaftigkeit, Sünde und Niedrigkeit, in der wir geboren wurden, leben und weben und sind. JEsu Demuth ist nicht auf Sünde gegründet, denn Er hat keinerlei Sünde in und an Sich; nicht in Seiner Niedrigkeit, denn Er ist dennoch der Menschensohn, der vom Himmel kommen ist und auch während Seines Erdenwandels noch im Himmel ist. Wenn Er eine Sünde bekennt, ist es| die des menschlichen Geschlechtes, dem Er in Seiner Menschwerdung verwandt geworden ist; wenn Er über Sündenjammer weint, ist es der Seiner Brüder, den Er zu dem Seinigen gemacht hat, wie es andere in Bezug auf ihre Brüder nicht vermögen; und wenn Er niedrig und gebückt einhergeht, so ist es nur, weil Er es uns zu Gefallen und zum Heile so erwählt hat, weil Er gerne mit uns klein wurde, um uns groß zu machen. Und ja, das muß es auch sein! JEsu Demuth ist eine freie, ungezwungene Herablaßung zu dem Niedrigen, welche durch keine Nothwendigkeit, sondern allein durch die vollkommen freie Neigung Seines unergründlich guten Wesens herbeigeführt wurde. Eine wunderbare Gottesdemuth, eine Demuth leutseligen Erbarmens und inbrünstiger Gnade ist Seine Demuth. Darum läßt Er Sich’s gefallen, unter den Sündern zu stehen, auf alle ihre boshaften Einreden zu merken, sie geduldigst zu widerlegen. − Jedoch hier sind wir ja bei dem dritten angekommen, wovon ich reden will, nemlich bei dem

 Benehmen JEsu gegen Seine Feinde. − Wenn ich’s im Ganzen sagen sollte, wie mir Christi Benehmen gegenüber Seinen Feinden erscheint, so finde ich, daß es ganz das Benehmen eines Hirten und Bischofs Seiner Feinde ist. Warum antwortet Er auf alle ihre Fragen, warum läßt Er Sich so genau mit ihnen ein? An Seiner Vertheidigung ihnen gegenüber konnte es Ihm doch nicht liegen; Er dachte gewis in einem noch viel höheren Grade, wie St. Paulus, welcher an die Corinther schrieb: „Mir ist es ein Kleines, daß ich von euch gerichtet werde, oder von irgend einem menschlichen Tage.“ Was ist es denn also, das Ihn zu einem so eingehenden Gespräche mit Seinen Feinden treibt? Heilen möchte Er sie von ihren schädlichen Gedanken, fürs Reich Gottes wollte Er sie gewinnen. Nur sie, ihrer Seelen ewiges Wohlergehen, ihrer Leiber selige Auferstehung hat Er im Auge. Darum ist es wahr: ruhiger in Sich und friedenvoller konnte der HErr mit Seinen Feinden nicht handeln, aber auch nicht lebendiger, nicht eifriger für ihre Rettung, nicht segensreicher. Recht wie ein göttlicher Hirte, der nichts will, als heilen, stillen, trösten und armen Seelen als Freund begegnen, redet und handelt Er.

 Freilich, wer Hirtenliebe nicht vereinbar findet mit der lauteren Wahrhaftigkeit, welche keine Lüge an den Schafen dulden kann; wer die Herbeiführung der verlorenen Schafe durch Uebersehen und stillschweigendes Uebergehen selbst der ausgesprochensten Irrthümer eher zu erreichen wähnt, als durch friedenvolles Bemerken, Bereden und Bestrafen, der wird mir nicht beistimmen können, wenn ich vor andern in diesem Texte ein herrliches Beispiel von Hirtenliebe und Hirtenweisheit finde. Denn das ist ja wahr, unser HErr geht in diesem Evangelium gegen Seine Feinde gerade heraus. Ihr „unehret Mich,“ ihr „kennet den nicht,“ welchen ihr euern Gott nennet, ihr „seid Lügner“ − das sagt Er ihnen, und sagt es ihnen so unverholen, so nachdrücklich, so einschneidend eben durch Seine große Ruhe, daß von jener falschberühmten, weichlichen Liebe eines Hohenpriesters Eli nicht die Spur zu finden ist. Aber, laßt uns doch Wahrheit sagen! Sucht denn ein verständiger und weiser Mann bei einem Eli’sbenehmen die rechte Vater- und Hirtenliebe? Der heilt nicht, der Geschwür und Wunde schont, und wer die Krankheit nicht entfernt, führt keine Genesung herbei. Gewis ist das die reinste, die selbstverleugnendste, die aufopferndste Liebe, die weh thut, um wohl zu thun, die nicht das Ansehen und Gerücht großer Schärfe scheut, wenn sie nur hoffen kann, grade so ihre Schafe zur Reinigung und Vollendung zu führen.

 Könnte man doch auch noch eine andere Seite an diesem Evangelium aufzeigen, welche dem gewöhnlichen, menschlichen Urtheil über rechte Hirtenliebe eben so wenig entspricht. Christus stellt Sich selbst in unserm Evangelium als Hirten, als Propheten, als Gottessohn und Gott hin und erhöht Sein Ansehen über alles Ansehen der Menschen und andern Creaturen. Ist das Hirtenliebe, sich selbst erhöhen? könnte man fragen. Aber die Frage wäre falsch. Ehe eine Antwort erfolgte, müßte sie beßer und richtiger gestellt werden; denn Christus hat Sich nicht selbst erhöhet; Er hat nicht über das Maß, das Ihm der Vater zugemeßen, von Sich geurtheilt, sondern das Große, das Ihm eigen angehörte, im einfachsten, mildesten Worte geoffenbart. Stell also die Frage lieber so: „Ist das Hirtenliebe, wenn sich der Hirte den Schafen gegenüber in seiner ganzen Würde zeigt?“ Und dann ist die Antwort: Ja, das ist Hirtenliebe. Der Hirte muß wißen, daß er Hirte ist; wie sollen es sonst die Schafe erfahren, die doch an ihn gewiesen| sind? Das Bewußtsein seines Amtes und seiner Aufgabe muß ihn durchdringen. Mit einem Ansehen, wie es nur aus diesem Bewußtsein und der vollen richtigen Erkenntnis seiner Stellung kommt, muß er seinen Schafen gegenüber und unter ihnen stehen. Das bleibt im Allgemeinen, das bleibt auch bei JEsu wahr. Der thut den Schafen weder Ehre, noch Liebe, noch Barmherzigkeit, noch irgend etwas Gutes, der sie im Ungewissen läßt, ob er der sei, den sie bedürfen, oder nicht. Christus ist Hirte, ist Prophet, ist Gottes Sohn, d. i. Er ist grade das, was die Schafe haben müßen, wenn ihnen geholfen werden soll, und drum sagt Ers ihnen auch und naht Sich ihnen so, wie Er ist. Das ist wahrlich große Liebe, um so mehr, je weniger sich die Schafe selbst erkennen, je verlaßener und verlorener sie sind. Gerade dadurch, daß Christus den Juden ihre Irrthümer zeigt, Sich ihnen als Hirten und Führer erbietet, bereitet Er sie vor, den Dienst von Ihm anzunehmen, den Er ihnen vor allem erzeigen will. Denn Er will sie auf den Weg zum ewigen Leben führen.

 „So Jemand Mein Wort wird halten, der wird den Tod nicht sehen ewiglich!“ Das heißt ganz einfach und klar den Weg zeigen, den alle Schafe gehen müßen, wenn sie ewiges Leben finden wollen. Sein Wort hören, halten im Glauben und Gehorsam, darauf kommt es an. Irrenden Schafen, die dem Verschmachten und dem Tode nahe sind, kann man nicht einfacher und nicht faßlicher und nicht befriedigender den Lebensweg zeigen, als wenn man es ganz übernimmt, sie zu leiten und zu führen bis zum sicheren Leben und zur vollen Genüge, − als wenn man weiter nichts von ihnen verlangt, als Acht auf Wort und Zuruf.

 Brüder, armer Schafe Haupttugend ist also „aufs Wort achten, das Wort halten.“ So ehrwürdig der HErr ist durch die Wahrhaftigkeit Seiner Worte, so nahe kommen wir Ihm, wenn wir, was Er sagt, als unverbrüchliche Wahrheit aufnehmen, halten und bewahren. Unsre ganze Wahrhaftigkeit steht und geht in der gläubigen Aufnahme und dem treuen Halten des Wortes JEsu. Unsre Wahrhaftigkeit beginnt zu sterben, und die Lüge beginnt über uns zu herrschen, so wie wir mit dem Herzen, den Gedanken, dem Urtheil von den Worten JEsu weichen. Sein ganzes Wesen ist Wahrheit, und das unsrige wird zu Seinem Bilde verklärt, wenn wir Seine Wahrheit faßen und behalten. Sein Wort ist Geist und ist Leben, und wir werden selbst Erben Seines Geistes und Lebens, wenn wir Sein Wort aufnehmen und behalten; wir werden des ewiglich leben, den Tod ewiglich nicht sehen.

 Brüder, kein größerer König der Schrecken als der Tod. Alles fürchtet sich vor ihm. Und doch, was ist der Tod, vor welchem sich die Leute fürchten? Er ist ein Augenblick, ein schnelles Ende des Zeitlichen, das voll Qual ist, − ein längst vorhergesehenes, alle Secunden durch andere Tode gepredigtes, schnell vorüberrauschendes Ereignis. Das ist der Tod nicht, der einem schwer werden sollte. Es haben ihn selbst viele Heiden, die doch keine Hoffnung hatten, leicht ertragen. Ein Wahn hat ihn oft zum fröhlichen Gang gemacht. Es gibt aber einen andern Tod, eine Seelenleere jenseits der Zeitlichkeit, eine ewige Reue über unwiderbringliche Vergeudung der Zeit, eine Qual des Geistes, der keine Hoffnung mehr hat, einen Unmuth der Gottverlaßenheit, ein Sterben ohne Aufhören, ein grausames, unbegriffenes, schauderhaftes Etwas ohne Namen (denn es sagt es kein Name aus, auch kaum der Name Tod!), einen ewigen Fluch des Allmächtigen, für welchen kein Versöhnblut mehr rinnt. Davor sollte man sich fürchten, davor beben, fliehen, eilen, um zu entrinnen, − ja, dagegen sollte man beten, alle Mittel sollte man dagegen ergreifen.

 Doch sieh, wie die Furcht, die auch mich ergriffen, mich vergeßen machte! Es ist ja das Mittel gefunden, den Tod nicht zu sehen und nicht zu erfahren. „Wer Mein Wort hält, der wird den Tod nicht sehen ewiglich,“ so spricht der Hirte. Sein Wort halten − im Glauben und Gehorsam, das heißt den Tod nicht sehen ewiglich. − O des guten Hirten, der auch den Feinden, die Ihn haßen, so die Straße zeigt, und ihre Bosheit so mit Güte und Treue vergilt! Daß wir doch Seine Hirtentreue recht erkenneten, damit hätten wir erkannt, was auch wir bedürfen. Ist Er ein geduldiger, hehrer, treuer Hirte Seiner Feinde gewesen, hat Er für sie alles gethan und mehr, als unser Evangelium erkennen läßt, ist Er für sie gestorben, auferstanden, betete Er auch jenseits der Sterne, im ewigen Heiligtum noch für sie: dann sind auch wir aus Seiner allwißenden, allmächtigen Liebe nicht verstoßen gewesen und sind es auch jetzt nicht, dann ist Er auch unser| Opfer geworden in Seinem Tode, unsre Hoffnung in Seiner Auferstehung, unser König und betender Hoherpriester in Seiner Auffahrt. Denn wir sind ja bedürftig, wie Seine Feinde, − und Ihm näher, seitdem wir aus Mutterleib gezogen sind, denn wir sind mit Seiner Taufe getauft.
Laßet uns beten!

 Guter Hirte, HErr JEsu, wahrhaftiger, hehrer, barmherziger Freund unsrer Seelen, erfülle uns mit Deinem Geiste, daß wir Dir nachfolgen. Gib uns ein gutes Gewißen, himmlische Gesinnung und Demuth, wenn auch wir, wie Du, bei treuer Liebe nichts finden als Hohn, Verachtung, Feindschaft. Dann laß uns sein, wie Du hier gewesen: beständig in der Liebe, aufrichtig, unerschrocken, treu − und Dein Wort vom Glauben und Gehorsam Deiner Gebote komme nicht aus unserm Herzen, nicht von unsern Lippen, bis wir am Ende stehen, bis der Glaube zum Schauen und der Gehorsam vollkommen wird. HErr JEsu! Amen.




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