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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Dazu waren Seine Worte nicht bloß wahrhaftige, sondern auch seligmachende Worte. Wer ihnen also widersprach, der widersprach seiner Seligkeit; durch Widerspruch wurde er gehindert; sie zu erfassen; er kam in große Gefahr, verloren zu gehen. Soll Ihn nun, den Freund der armen Widersprecher, der Widerspruch nicht geschmerzt haben? Er war gekommen, zu suchen und mit Seinem Worte selig zu machen, was verloren, und es sollte Ihm gleichgültig gewesen sein, wenn die Menschen boshaft die Absicht Seiner Sendung und Seines Kommens vereitelten, wenn die verlorenen, irrenden Schafe recht geflißentlich die Wüste und Irrfahrt erwählten und sich davon nicht erretten laßen mochten? Er war, wie Er ohne die mindeste Verletzung der Demuth sagen durfte und zum Preis der Wahrheit sagen mußte, sündlos − um der sündigen Menschheit zu helfen; wahrhaftig, um durch Wahrheit die Menschen aus der Lüge und ihrem finstern Reiche zu führen; − voller Lebensworte, um den Tod der armen Menschen zu tödten; − des Vaters gehorsamer Sohn, um die ungehorsame Welt voll abtrünniger Kinder zu versöhnen, − Abrahams Sehnsucht und Freude, weil Er Abraham und seinem Samen aushelfen sollte zum ewigen Leben, − ewiger Art, vor Abraham und der Welt, Gott von Art und Macht, um allmählich jedes Hindernis unsrer Seligkeit beseitigen zu können. In Ihm war Gottes Weisheit und Erbarmung leibhaftig erschienen und der ganze Gnadenwille des Allerhöchsten sollte durch Ihn vollzogen werden. Der Himmel begleitete Seinen Gang von den ewigen Höhen zur Erde, Seinen Gang durchs Leben Schritt für Schritt mit Beifall und Lobgesang; die Erde hätte Ihn mit Dankpsalmen ohne Ende begleiten sollen von der Krippe bis zum Grabe. Und nun siehe, wie wahr das Wort ist: „Er kam in Sein Eigentum, aber die Seinen nahmen Ihn nicht auf.“ Sie leugnen Ihm ja alles ins Angesicht ab, und Er soll alles nicht sein, was Er ist, nicht Gott, sondern ein Gotteslästerer, nicht Abrahams Same, sondern ein Samariter, nicht Gott gehorsam, sondern beseßen, also auch nicht wahrhaftig, nicht sündlos. Da hätte ja alle Verheißung, deren Ja und Amen Er war, umsonst auf Erfüllung gewartet, und Gottes heiliger und gnädiger Wille wäre unausgeführt, − die armen Juden und mit ihnen alle Menschen wären dem Verderben und Tod geweiht, unerlöst und unversöhnt geblieben. Begreifen wir denn nach alle dem nicht, daß dem HErrn der Juden Widerspruch ein Schmerz, ein tiefer Schmerz gewesen ist und gewesen sein muß? Ach, wer je etwas Gutes gewollt hat und ist mit seinem treuen Willen zurückgewiesen worden; wer je eine Kraft in sich getragen, etwas Herrliches vollenden zu können, und die Kraft nicht versuchen, nach seinem Ziele nicht jagen sollte; wer je mit einem Herzen voll aufopfernder Liebe und Händen voll Segens keine, oder eine lieblose Aufnahme fand, ferne gehalten, weggestoßen wurde, als wäre er ein flehender Bettler oder gar ein Dieb: der kann es einigermaßen faßen oder mindestens ahnen, wie das liebevollste aller Herzen, die je auf Erden schlugen, das reichste unter allen, unter dem beispiellosen Undank der Juden gelitten haben muß. Wenn Sich der HErr von den Juden abgewendet hätte, wenn Er ihnen nicht mehr gewesen wäre, was zu sein Er gekommen war, wenn Er ihnen nicht mehr gegeben hätte, was Er Sich vorgenommen: was wäre dann gewesen, was wäre aus ihnen geworden und aus der ganzen Welt? Sie widersprachen dem HErrn nicht bloß mit Worten, sondern auch mit der That; sie wollten Ihn steinigen: wenn Er ihnen gethan hätte, was sie verdienten, wenn Er Sein Angesicht weggewendet hätte auf Nimmerwiederkehr: wie dann? Wer hätte Ihn ungerecht nennen können? Aber freilich, in Ihm lebte mehr als nur Gerechtigkeit; Heiland ist Sein Name, drum wird Er nicht ermüdet von Undank, drum bleibt Er geduldig in all der Bosheit, die Ihn umgibt und gern umgarnt hätte, und drum ist Seine Art und Weise, dieß Ungemach und Leid des jüdischen Undanks zu tragen, so groß und so schön.


 Vor allem strahlt aus dem Benehmen JEsu das Bewußtsein der heiligsten Unschuld hervor. Keine Verwirrung, keine Schamröthe, keine auch nur leise Verlegenheit ist zu bemerken. Wenn andere Menschen angegriffen und getadelt werden, müßen sie ihre Antworten und Vertheidigungen immer auf ein Bekenntnis ihrer Sündhaftigkeit gründen und sich so verhalten, daß man nicht, indem sie sich vertheidigen, in der Vertheidigung den Stolz eigener Gerechtigkeit vermuthe. Christus hatte eine eigene Gerechtigkeit, eine glänzend schöne, welche Adams Unschuld im Paradiese bei weitem

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 150. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/161&oldid=- (Version vom 28.8.2016)