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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

die des menschlichen Geschlechtes, dem Er in Seiner Menschwerdung verwandt geworden ist; wenn Er über Sündenjammer weint, ist es der Seiner Brüder, den Er zu dem Seinigen gemacht hat, wie es andere in Bezug auf ihre Brüder nicht vermögen; und wenn Er niedrig und gebückt einhergeht, so ist es nur, weil Er es uns zu Gefallen und zum Heile so erwählt hat, weil Er gerne mit uns klein wurde, um uns groß zu machen. Und ja, das muß es auch sein! JEsu Demuth ist eine freie, ungezwungene Herablaßung zu dem Niedrigen, welche durch keine Nothwendigkeit, sondern allein durch die vollkommen freie Neigung Seines unergründlich guten Wesens herbeigeführt wurde. Eine wunderbare Gottesdemuth, eine Demuth leutseligen Erbarmens und inbrünstiger Gnade ist Seine Demuth. Darum läßt Er Sich’s gefallen, unter den Sündern zu stehen, auf alle ihre boshaften Einreden zu merken, sie geduldigst zu widerlegen. − Jedoch hier sind wir ja bei dem dritten angekommen, wovon ich reden will, nemlich bei dem


 Benehmen JEsu gegen Seine Feinde. − Wenn ich’s im Ganzen sagen sollte, wie mir Christi Benehmen gegenüber Seinen Feinden erscheint, so finde ich, daß es ganz das Benehmen eines Hirten und Bischofs Seiner Feinde ist. Warum antwortet Er auf alle ihre Fragen, warum läßt Er Sich so genau mit ihnen ein? An Seiner Vertheidigung ihnen gegenüber konnte es Ihm doch nicht liegen; Er dachte gewis in einem noch viel höheren Grade, wie St. Paulus, welcher an die Corinther schrieb: „Mir ist es ein Kleines, daß ich von euch gerichtet werde, oder von irgend einem menschlichen Tage.“ Was ist es denn also, das Ihn zu einem so eingehenden Gespräche mit Seinen Feinden treibt? Heilen möchte Er sie von ihren schädlichen Gedanken, fürs Reich Gottes wollte Er sie gewinnen. Nur sie, ihrer Seelen ewiges Wohlergehen, ihrer Leiber selige Auferstehung hat Er im Auge. Darum ist es wahr: ruhiger in Sich und friedenvoller konnte der HErr mit Seinen Feinden nicht handeln, aber auch nicht lebendiger, nicht eifriger für ihre Rettung, nicht segensreicher. Recht wie ein göttlicher Hirte, der nichts will, als heilen, stillen, trösten und armen Seelen als Freund begegnen, redet und handelt Er.

 Freilich, wer Hirtenliebe nicht vereinbar findet mit der lauteren Wahrhaftigkeit, welche keine Lüge an den Schafen dulden kann; wer die Herbeiführung der verlorenen Schafe durch Uebersehen und stillschweigendes Uebergehen selbst der ausgesprochensten Irrthümer eher zu erreichen wähnt, als durch friedenvolles Bemerken, Bereden und Bestrafen, der wird mir nicht beistimmen können, wenn ich vor andern in diesem Texte ein herrliches Beispiel von Hirtenliebe und Hirtenweisheit finde. Denn das ist ja wahr, unser HErr geht in diesem Evangelium gegen Seine Feinde gerade heraus. Ihr „unehret Mich,“ ihr „kennet den nicht,“ welchen ihr euern Gott nennet, ihr „seid Lügner“ − das sagt Er ihnen, und sagt es ihnen so unverholen, so nachdrücklich, so einschneidend eben durch Seine große Ruhe, daß von jener falschberühmten, weichlichen Liebe eines Hohenpriesters Eli nicht die Spur zu finden ist. Aber, laßt uns doch Wahrheit sagen! Sucht denn ein verständiger und weiser Mann bei einem Eli’sbenehmen die rechte Vater- und Hirtenliebe? Der heilt nicht, der Geschwür und Wunde schont, und wer die Krankheit nicht entfernt, führt keine Genesung herbei. Gewis ist das die reinste, die selbstverleugnendste, die aufopferndste Liebe, die weh thut, um wohl zu thun, die nicht das Ansehen und Gerücht großer Schärfe scheut, wenn sie nur hoffen kann, grade so ihre Schafe zur Reinigung und Vollendung zu führen.

 Könnte man doch auch noch eine andere Seite an diesem Evangelium aufzeigen, welche dem gewöhnlichen, menschlichen Urtheil über rechte Hirtenliebe eben so wenig entspricht. Christus stellt Sich selbst in unserm Evangelium als Hirten, als Propheten, als Gottessohn und Gott hin und erhöht Sein Ansehen über alles Ansehen der Menschen und andern Creaturen. Ist das Hirtenliebe, sich selbst erhöhen? könnte man fragen. Aber die Frage wäre falsch. Ehe eine Antwort erfolgte, müßte sie beßer und richtiger gestellt werden; denn Christus hat Sich nicht selbst erhöhet; Er hat nicht über das Maß, das Ihm der Vater zugemeßen, von Sich geurtheilt, sondern das Große, das Ihm eigen angehörte, im einfachsten, mildesten Worte geoffenbart. Stell also die Frage lieber so: „Ist das Hirtenliebe, wenn sich der Hirte den Schafen gegenüber in seiner ganzen Würde zeigt?“ Und dann ist die Antwort: Ja, das ist Hirtenliebe. Der Hirte muß wißen, daß er Hirte ist; wie sollen es sonst die Schafe erfahren, die doch an ihn gewiesen

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 152. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/163&oldid=- (Version vom 28.8.2016)