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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

übertraf; Er durfte Sich getrost auf sie berufen, Gott und Menschen für sie zu Zeugen nehmen, und fand gewis dazu auch die Art, welche Seine mit Sünde beladenen Feinde darniederblitzte. Schön und hehr, groß und furchtlos stand Er unter Seinen Feinden; Sein Auge konnte von Aug zu Auge wandeln; in heiterster, stillester Ruhe, mit der liebenswürdigsten Festigkeit konnte Er sie alle einmal um das anderemal, nach jedem von ihnen gehörten Vorwurf fragen, wie Er sie Eingang unsers Textes fragt: „Welcher unter euch kann Mich einer Sünde zeihen?“

 Das Bewußtsein heiliger Unschuld sehen wir an JEsu, aber nicht bloß das, sondern wir finden Ihn auch so ganz frei von allem Ehrgeiz. Er hungert nicht nach Anerkennung und Ehrenbezeigungen der Menschen; Er überläßt es frei Seinem himmlischen Vater, Ihn zu ehren und Ihm Ehre bei den Menschen zu verschaffen. Aber freilich, auf Den beruft Er Sich auch mit zuversichtlichster Ruhe: „Ich suche nicht Meine Ehre; es ist aber Einer, der sie sucht und richtet. − So Ich Mich Selber ehre, so ist Meine Ehre nichts. Es ist aber Mein Vater, der Mich ehret, welchen ihr sprechet, Er sei euer Gott.“ So sprach Er, und allerdings, wer so sprechen konnte, wer so gewis wußte, daß der allmächtige Gott um Seine Ehre eifere, der konnte die Ehre von Menschen gering anschlagen und von ihr völlig absehen; Er konnte es völlig ruhig erwarten, ob nicht am Ende dennoch die Erde von Seiner Ehre grün und fröhlich sproßen würde, da der Himmel Ihm so treu und beständig die Ehre gab. − Zwar wir könnten auch von der Ehre bei Menschen absehen, da sie ohnehin so winzig, so wankelmüthig und ein Gut von so zweifelhaftem Werthe ist; wir könnten auch auf die Ehre bei Gott sehen und nach ihr jagen! Aber wir thun es nicht. Wir sind von der Erde, darum zieht uns die Ehre der Erde so sehr an; wir sind nicht, wie Christus, vom Himmel, darum däucht uns Thoren die Ehre bei dem hochgelobten Gotte oft nur klein. Und eben deshalb sind wir selbst so klein Christo gegenüber, und Christus steht uns gegenüber so übergroß und hehr, so ohne Vergleich, so unnachahmlich, − und ist uns doch grade hierin ein Muster und Beispiel, dem wir nachfolgen sollten.

 Wenn wir nun drittens sagen: an Christi Benehmen gegen Seine Feinde bewundern wir eine himmlische Demuth, haben wir dann nicht im Grunde dasselbe gesagt, wie wenn wir Ihn von allem Ehrgeiz frei sprachen? Ich denke nicht, geliebte Freunde! Der nicht nach Ehre geizt, muß drum nicht nothwendig demüthig sein. Christus aber ist nicht bloß frei von der Menschen Ehrgeiz, sondern Er leuchtet auch im reinsten Lichte der Demuth. − Oder müßen wir vielleicht ein anderes sagen? Wir haben zuerst an Christo das Bewußtsein der heiligsten Unschuld bemerkt: sollte vielleicht die Demuth, die wir drittens an Ihm finden, dem Bewußtsein der Unschuld widerstreiten? Hebt etwa eines das andere auf? Das würde der Fall sein, wenn Bewußtsein der Unschuld mit Hochmuth gleichbedeutend wäre, wenn man sich nicht in tiefster Demuth seiner Unschuld bewußt sein könnte. Bei Christo geht beides zusammen und gerade in Anbetracht Seiner Demuth können wir mit apostolischen Worten einander zurufen: „Gedenket an Den, der ein solches Widersprechen von den Sündern wider Sich erduldet hat!“ (Ebr. 12, 3.) Denn wie demüthig ist ER! − Demuth an den Kleinen, die nichts sind, ist begreiflich, und sie sollte sich von selbst verstehen, obwohl sie nichts weniger als häufig ist. Demuth aber an dem Hochgelobten, ein Wesen, das sich weder reizen, noch erbittern läßt, das bei der richtigen, ruhigen, einfältigsten Schätzung Seiner selbst bleibt, auch wenn Ihm kundgegebene Bosheit der andern Anlaß gibt, vieles von Sich selbst, wenn schon mit Wahrheit, doch auch mit ernster Strenge und hohem Tone zu sagen, − dabei die stillste Zufriedenheit im Leide und in großer Bitterkeit des Lebens: das ist denn doch eine wunderbare Schönheit, welche nicht von dieser Welt stammt, welche Engel und Menschen ergötzt.

 Es ist übrigens etwas ganz Eigenes, von JEsu Demuth zu reden. Es ist nicht so gar leicht, zu sagen, worin sie besteht; denn sie kann nicht eins und dasselbe mit der uns armen Sündern gebotenen Demuth sein. Unsre Demuth ist im Grunde nichts mehr als eine Art von Wahrhaftigkeit, indem wir zugestehen, was wir nicht leugnen können, die Sündhaftigkeit, Sünde und Niedrigkeit, in der wir geboren wurden, leben und weben und sind. JEsu Demuth ist nicht auf Sünde gegründet, denn Er hat keinerlei Sünde in und an Sich; nicht in Seiner Niedrigkeit, denn Er ist dennoch der Menschensohn, der vom Himmel kommen ist und auch während Seines Erdenwandels noch im Himmel ist. Wenn Er eine Sünde bekennt, ist es

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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 151. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/162&oldid=- (Version vom 28.8.2016)