Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres | |
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Opfer geworden in Seinem Tode, unsre Hoffnung in Seiner Auferstehung, unser König und betender Hoherpriester in Seiner Auffahrt. Denn wir sind ja bedürftig, wie Seine Feinde, − und Ihm näher, seitdem wir aus Mutterleib gezogen sind, denn wir sind mit Seiner Taufe getauft.
Guter Hirte, HErr JEsu, wahrhaftiger, hehrer, barmherziger Freund unsrer Seelen, erfülle uns mit Deinem Geiste, daß wir Dir nachfolgen. Gib uns ein gutes Gewißen, himmlische Gesinnung und Demuth, wenn auch wir, wie Du, bei treuer Liebe nichts finden als Hohn, Verachtung, Feindschaft. Dann laß uns sein, wie Du hier gewesen: beständig in der Liebe, aufrichtig, unerschrocken, treu − und Dein Wort vom Glauben und Gehorsam Deiner Gebote komme nicht aus unserm Herzen, nicht von unsern Lippen, bis wir am Ende stehen, bis der Glaube zum Schauen und der Gehorsam vollkommen wird. HErr JEsu! Amen.
Am Palmensonntage.
- 1. Da sie nun nahe bei Jerusalem kamen gen Bethphage an den Oelberg, sandte JEsus seiner Jünger zween, 2. Und sprach zu ihnen: Gehet hin in den Flecken, der vor euch liegt, und bald werdet ihr eine Eselin finden angebunden und ein Füllen bei ihr; löset sie auf und führet sie zu mir. 3. Und so euch Jemand etwas wird sagen, so sprechet: Der HErr bedarf ihrer! sobald wird er sie euch laßen. 4. Das geschah aber alles, auf daß erfüllet würde, das gesagt ist durch den Propheten, der da spricht: 5. Saget der Tochter Zion: Siehe, dein König kommt zu dir sanftmüthig, und reitet auf einem Esel, und auf einem Füllen der lastbaren Eselin. 6. Die Jünger giengen hin, und thaten, wie ihnen JEsus befohlen hatte, 7. Und brachten die Eselin und das Füllen und legten ihre Kleider darauf und setzten ihn darauf. 8. Aber viel Volks breitete die Kleider auf den Weg; die andern hieben Zweige von den Bäumen, und streuten sie auf den Weg. 9. Das Volk aber, das vorgieng und nachfolgte, schrie und sprach: Hosianna dem Sohne David! Gelobet sei, der da kommt in dem Namen des HErrn! Hosianna in der Höhe.
GAnz anders erscheint uns dies Mal das verlesene Evangelium, als am ersten Adventsonntage. Es ist nun ganz Geschichte des heutigen Tages, und ganz in dem Zusammenhang sehen wir es, in welchem die Geschichte, die es erzählt, erfolgt ist.
Am Sonntag vor Seinem Leiden stellt sich der HErr zu diesem Leiden ein. Wie man vier Tage vor dem Passafeste das Osterlamm einzustellen pflegte, welches geschlachtet werden sollte, so stellt Sich Gottes Lamm vier Tage vor Seiner Aufopferung selbst ein. Zum Leiden stellt Er Sich: das ist der Sinn Seines Kommens, das Seine nächste Aussicht in die Zukunft. Wie man ein Opferthier zu schmücken und zu bekränzen pflegte, wenn man es zum Altare führte, so führt man Ihn unter Palmzweigen und Ehren Seinem ernsten Leidens- und Todesberuf entgegen. Die Jünger wißen nicht, was sie thun; es wären ihnen Palmen und Ehren entfallen, hätten sie des vermuthet. Aber so ist es, und ganz im Lichte, welches die untergehende Sonne des Charfreitagabends in die Woche und auf den Sonntag rückwärts wirft, sehen wir den Einzug JEsu. Und je mehr wir die Größe und Tiefe und Wichtigkeit des Leidens JEsu für die Welt erkennen, desto größer und bedeutsamer wird uns auch Sein Einzug. − Weißt du, wie es thut, unschuldig zu leiden? Du wirst sagen: Es ist süßer, unschuldig zu leiden, als schuldig; aber deine Antwort ist nur richtig nach Umständen. Leiden und Leiden ist ein großer Unterschied. Kleines unschuldig leiden, mag zuweilen süß sein. Aber Großes leiden, so Großes, − Erdenstrafen und Höllenstrafen leiden, − aller Sünden, aller Sünder, aller Zeiten Schuld und Strafe leiden,
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 154. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/165&oldid=- (Version vom 14.8.2016)