Seite:Wilhelm Löhe - Evangelien-Postille Aufl 3.pdf/160

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

ewiglich. 52. Da sprachen die Juden zu Ihm: Nun erkennen wir, daß Du den Teufel hast. Abraham ist gestorben und die Propheten, und Du sprichst: So jemand Mein Wort hält, der wird den Tod nicht schmecken ewiglich. 53. Bist Du mehr denn unser Vater Abraham, welcher gestorben ist, und die Propheten sind gestorben? Was machst Du aus Dir selbst? 54. JEsus antwortete: So Ich Mich selbst ehre, so ist Meine Ehre nichts. Es ist aber Mein Vater, der Mich ehret, welchen ihr sprechet, Er sei euer Gott, 55. Und kennet Ihn nicht. Ich aber kenne Ihn, und so Ich würde sagen. Ich kenne Ihn nicht, so würde Ich ein Lügner, gleichwie ihr seid. Aber Ich kenne Ihn und halte Sein Wort. 56. Abraham, euer Vater, ward froh, daß er Meinen Tag sehen sollte, und er sah ihn und freute sich. 57. Da sprachen die Juden zu Ihm: Du bist noch nicht fünfzig Jahre alt und hast Abraham gesehen? 58. JEsus sprach zu ihnen: Wahrlich, wahrlich, Ich sage euch, ehe denn Abraham ward, bin Ich. 59. Da hoben sie Steine auf, daß sie auf Ihn würfen. Aber JEsus verbarg Sich und gieng zum Tempel hinaus, mitten durch sie hinstreichend.


 DIe Leiden, welche unser HErr und Heiland JEsus Christus zu erdulden hatte, waren nicht alle von einer und derselben Art. Zum Theil waren es solche, welche an Art und Maß über das Leiden anderer Menschen hinausgiengen, wie z. B. Seine Seelenleiden im Garten und am Kreuze. Zum Theil waren es aber auch Leiden, wie wir sie zu erdulden haben, nur dadurch unterschieden, daß uns kein Leiden trifft, das wir nicht selbst verdienten, während alles, was ER litt, unschuldiges Leiden und unverdiente Last ist. Die Leiden der ersteren Art sind es, deren Andenken die Passionszeit insonderheit gewidmet ist; an den Sonntagen der Passionszeit aber, an diesen Freudentagen mitten in tiefer Buße, kann man nicht von diesen Leiden reden. Die eigentlichen Passionspredigten, wie wir sie an jedem wiederkehrenden Freitag der Fastenzeit halten, beschäftigen sich ganz mit den Leiden der ersteren Art. Dagegen wird es − bei aller Festhaltung des fröhlichen Charakters unserer Fastensonntage − dennoch unsträflich sein, wenn wir wenigstens an einem von allen, ich meine den heutigen, dem Tone der ganzen Zeit, in welcher wir leben, mit welcher wir der großen Woche entgegen eilen, uns in so weit ergeben, daß wir eine Predigt von den Leiden Christi der zweiten Art halten. Unser Evangelium ladet dazu ein; es spricht von solchen Leiden. Geliebts euch also, liebe Brüder, so wollen wir

1. die Leiden JEsu selbst betrachten, von denen unser Text spricht,
2. die Art und Weise, wie sie der HErr ertrug,
3. die Art und Weise, wie Er Seine Feinde behandelt, von welchen Ihm diese Leiden angethan wurden.

 Es ist für den HErrn ein schmerzliches Leiden, daß Er ein Zeichen sein muß, dem widersprochen wird, widersprochen in dem, was Er sagt, widersprochen in dem, was Er ist. − Wenn einer nicht ist, was er soll, und nicht thut, was recht ist, ist es für ihn selbst und für die Sache, welche er vertritt, ein Glück, wenn er Widerspruch und Widerstreben erfährt. Aber wenn einer Recht hat und es mit allem Ernste meint, dann ist der Widerspruch nicht bloß für seine Sache, sondern noch mehr für diejenigen ein Unglück, welche widersprechen, und es kann kommen, daß auch der selbst, dem widersprochen wird, ein tiefes Leid über den Widerspruch empfindet. Je treuer und redlicher ein Mann es meint, ein je schöneres Ziel er im Auge hat, desto wahrer wird das sein, desto tieferes Leid wird er empfinden. Das gilt insonderheit vom HErrn und für Ihn in dem Falle, in welchem wir Ihn heute sehen. Seine Feinde widersprechen Ihm, Er mag sagen, was Er will. Redet Er von Sich, so widersprechen sie; redet Er von Abraham, sie widersprechen; von den Juden selbst, sie widersprechen; und redet Er von Seinem Vater, so widersprechen sie auch. Und nicht bloß Seinen Worten, auch Seiner Person widersprechen sie. Sie können Ihn keiner Sünde zeihen, dennoch nennen sie Ihn einen Samariter, der den Teufel habe, und einen Uebermüthigen, der sich selbst zu Gott mache, der deshalb des Todes würdig sei. Kann nun dieß Widersprechen, diese Feindschaft dem HErrn angenehm gewesen sein? Wie Er selbst vor Pilato Zeugnis gab, war Er dazu geboren und in die Welt gekommen, daß Er von der Wahrheit zeugete; Seine Worte waren lautere Wahrheit, − und nun nahm man sie nicht an! Die Wahrheit nicht angenommen, sondern verachtet zu sehen, kann Ihn, den König der Wahrheit, das freuen?

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 149. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/160&oldid=- (Version vom 28.8.2016)