Evangelien-Postille (Wilhelm Löhe)/Epiphanias 01

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Am ersten Sonntage nach dem Erscheinungsfeste.

Evang. Luc. 2, 41–52.
41. Und Seine Eltern giengen alle Jahre gen Jerusalem auf das Osterfest. 42. Und da Er zwölf Jahre alt war, giengen sie hinauf gen Jerusalem, nach Gewohnheit des Festes. 43. Und da die Tage vollendet waren, und sie wieder zu Hause giengen, blieb das Kind JEsus zu Jerusalem, und Seine Eltern wußten es nicht. 44. Sie meinten aber, Er wäre unter den Gefährten, und kamen eine Tagreise, und suchten Ihn unter den Gefreundten und Bekannten. 45. Und da sie Ihn nicht fanden, giengen sie wiederum gen Jerusalem, und suchten Ihn. 46. Und es begab sich nach dreien Tagen, fanden sie Ihn im Tempel sitzen mitten unter den Lehrern, daß Er ihnen zuhörete, und sie fragete. 47. Und alle, die Ihm zuhörten, verwunderten sich Seines Verstandes und Seiner Antwort. 48. Und da sie Ihn sahen, entsatzten sie sich. Und Seine Mutter sprach zu Ihm: Mein Sohn, warum hast Du uns das gethan? Siehe, Dein Vater und ich haben Dich mit Schmerzen gesucht. 49. Und Er sprach zu ihnen: Was ist es, daß ihr Mich gesucht habt? Wißet ihr nicht, daß Ich sein muß in dem, das Meines Vaters ist? 50. Und sie verstanden das Wort nicht, das Er mit ihnen redete. 51. Und Er gieng mit ihnen hinab, und kam gen Nazareth, und war ihnen unterthan. Und Seine Mutter behielt alle diese Worte in ihrem Herzen. 52. Und JEsus nahm zu an Weisheit, Alter und Gnade bei Gott und den Menschen.

 DIeses Evangelium eröffnet uns einen Blick in die Kindheit und Erziehung JEsu. Wir sehen eines Theils Seine Eltern und deren Bemühung um Ihn, andern Theils Ihn Selbst in Seinem Werden und Gedeihen. Von Ihm Selbst erzählt unser Text mehr, als von Seinen Eltern; so wird euch auch dieser Vortrag mehr von Ihm, als von Seinen Eltern zu berichten haben.

 Von den Eltern JEsu und der Erziehung, welche sie Ihm gegeben haben, sagt das Evangelium zweierlei, löbliches und solches, was wir, bei aller Ehrfurcht vor ihnen, doch nicht loben dürfen. Betrachten wir beides.

 Es war eine Satzung und Sitte in Israel, daß die Männer an den drei hohen Festen des HErrn zur Anbetung nach Jerusalem zogen. Die Frauen hatten Erlaubnis mitzugehen. Gemäß dieser Satzung und Sitte giengen denn auch Maria und Joseph alljährlich zum Osterfest hinauf nach Jerusalem. Die Festzüge, zu welchen die Einwohner einer und derselben Gegend zusammenzutreten pflegten, gehörten zu Israels hohen Freuden; alt und jung sehnte sich, an ihnen Theil zu nehmen. Die Knaben durften vor dem zwölften Jahre nicht im Hause des HErrn erscheinen; aber von dem zwölften Jahre an, wo sie die herrlichen Stufen- oder Pilgerpsalmen, die man unter Weges zu singen pflegte, und alle andere Kenntnisse, welche zu einer gesegneten Festfeier nöthig waren, sich angeeignet haben konnten, durften auch sie mit hinaufziehen. Nicht eher als in diesem Alter, aber da gewis mit großen Freuden, zog auch unser HErr hinauf unter den Haufen, die da feiern. Von Seinen Eltern geleitet,| in Mitte der Pilgerzüge, unter Posaunenklang und Psalmensang geht Er zum Hause Seines Vaters, in Seine wahre Heimath, − und wir können in diesem Gang des heiligen Knaben Seine ganze Jugend, Seine ganze Führung und Erziehung schauen. Unter den Sitten und Satzungen des alten Testamentes wuchs Er heran; in der Religion Seiner Väter wurde Er erzogen; selbst ganz dieser Religion ergeben, konnten die heiligen Eltern einem Gedanken, Ihn anders zu erziehen, gar nicht Raum geben, − und indem sie einfältig dem Geiste folgten, der sie selbst trieb, thaten sie grade das Allerbeste, geleiteten ihren heiligen Liebling von einer Stufe der Jahre und des herrlichsten Gedeihens zu der andern und auf jeder Stufe war ihre ganze Erziehung nichts anderes als nur eine Führung zum HErrn, dem Vater des heiligen Kindes JEsus. Man könnte freilich, wenn man wollte, sagen, Maria und Joseph hätten nur gethan, was andere Eltern in Israel auch; es sei kein besonderes Lob für sie gewesen, daß sie der allgemeinen Erziehungsweise gefolgt seien. Allein wenn schon alle Eltern in Israel dieselbe Weise einhielten, alle ihre Söhne für die Gottesdienste des HErrn erzogen und sie im zwölften Jahre dem HErrn hinaufführten: es war dennoch ohne allen Zweifel ein anderer Geist und Sinn gewesen, in welchem es Maria und Joseph thaten. Folgten sie einfältig der allgemeinen Sitte, so darf doch nicht angenommen werden, daß ihre Einfalt ohne Ueberlegung gewesen, daß sie den Weg der Sitte bloß, weil sie Sitte war, ohne Wahl, ohne Licht, ohne Tugend erwählt haben. Dieß Kind bedurfte und hatte drum auch Eltern von auserwählter Gabe und Gnade, und was drum andere ohne alles Ueberlegen und Bedenken, im Zug der allgemeinen Sitte thaten, wurde bei Maria und Joseph durch den Geist und die Weise, wie es von ihnen geschah, zu ungewöhnlicher Tugend und zu hohem Lob. Sie wußten ja, wen sie erzogen und zu welchem Lebenszwecke Er erzogen werden sollte; da konnten sie ja in Zweifel kommen, ob Er nicht ganz anders als alle andere Knaben zu leiten und zu führen sei: wie nahe lag ein solcher Gedanke − was für ein Wunder, wenn Er nicht gekommen wäre! Und wenn Er kam, und nach allem Ueberlegen Israels gewohnte Bahn als die von Gott gewollte betreten wurde: war dann ein solches Einlenken nicht heiliger Entschluß, die treue Ausführung nicht Lob und Tugend? Gesetzt aber auch, obschon nicht zugestanden, es wäre für die heiligen Eltern kein besonderes Lob gewesen, JEsum in den heiligen Sitten ihrer Väter für den Tempel Gottes und für Gott selbst zu erziehen; dennoch bliebe es ein Lob, welches manchem Elternpaar in unsern Tagen nicht gesprochen werden könnte. Je kleiner das Lob erachtet würde, desto tadelnswürdiger erschienen alle diejenigen, welche auf dasselbe keinen Anspruch machen können. Ja, der Tadel müßte um so gewaltiger auf solche Eltern fallen, weil die Erziehung im neuen Testamente in einem noch höheren Sinne, als im alten, eine Führung zu Gott sein soll, weil sich mehr und größere Gnaden und Mittel darbieten, um sie in der That und Wahrheit und in allen Fällen zu dem zu machen, was sie sein soll. Und schon darum darf das Beispiel der heiligen Erzieher Joseph und Maria allerdings emporgehoben und den Gemeinden empfohlen werden.
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 Aber freilich, wir finden auch am Benehmen und der Erziehung der heiligen Eltern nicht alles löblich, wir finden, wie bereits bemerkt, manches, was wir nicht billigen können. Maria und Joseph waren die besten Eltern, die es gab; sie waren ja Seine Eltern, Ihm zuvor erlesen und bereitet. Und gewis haben wir alle Ursache, ihnen für alles, was sie an Treu und Liebe dem Kinde JEsu erzeigt haben, ewig dankbar zu sein: was Ihm, unserm heiligen Erlöser, geschah, ist gewis auch als uns erzeigt anzunehmen, zumal Er gleichfalls alles, was uns armen Sündern geschieht, als Ihm geschehen anerkennen will. Eben so gewis ist es, daß die heilige Tugend Josephs und Marien uns eine viel zu große Ehrerbietung einflößt, als daß wir eine Freude haben könnten, sie zu tadeln, oder auch nur einen Tadel, den sie von höherem Munde empfangen, besonders zu betonen. Dennoch aber dürfen wir einen solchen Tadel nicht verhüllen, weil es ja bekannt ist, wie namentlich die große Würde und Heiligkeit der Mutter Gottes Millionen zu einer ungebührlichen, ja abgöttischen Verehrung derselben hingerißen hat. Ohne alle Verletzung schuldiger Ehrerbietung, gewis ganz im Sinne der seligen Gottesmutter selbst geschieht es, wenn wir auf die Mängel ihres zeitlichen Lebens hindeuten und damit eine Ueberschätzung und Verehrung von ihr abzuweisen suchen, welche sie noch in jener Herrlichkeit betrüben würde, wenn dort noch irgend etwas vermöchte, ihre große Seligkeit zu| verkümmern. Scheint es doch, als hätte der Heilige Geist selbst darum im Ganzen nur wenig von Maria erzählt, und unter dem Wenigen verhältnismäßig so manchen Tadel, damit Er zukünftigen Abgöttereien wehrete und den Gewißen der Gläubigen für immer einen Stachel hinterließe, im Falle sie sich durch viel Versuchung zu jenen Beleidigungen verführen ließen, welche der Mutter Gottes leider täglich und stündlich durch abgöttische Gebete und Verehrungen geschehen.

 Ein langer Eingang zu dem, was ich von den in unserm Evangelium bezeichneten Fehlern des heiligsten Elternpaares zu sagen habe, − lang, und doch zu kurz für mich und für meinen Unwerth und für meine Ehrerbietung. Und desto kürzer sei der Fehl berührt.

 Maria und Joseph nahmen den HErrn mit hinauf nach Jerusalem und − nahmen Ihn nicht mit sich herunter, fragten bei ihrem Weggang nicht, ob JEsus bei ihnen oder den Reisegefährten sei, setzten es zu sicher voraus. Daß JEsus im Tempel blieb, war vollkommen recht und heilig; aber der Eltern sorglose Sicherheit, wenn wir es so nennen dürfen, war nicht recht. Es war ihnen ja das Aufsichtsamt über den heiligen Knaben befohlen, JEsus war ja ihr Lebenszweck, Er sollte billig ihr immerwährendes Augenmerk geblieben sein, wenn gleich sie versichert sein durften, daß alle Engel, der ganze Himmel und Gott selbst dieß Aufsichtsamt mit ihnen theilten und Ihm deshalb nichts geschehen konnte. Sie hatten Recht, wenn sie JEsu alles Gute und keinen Fehl zutrauten, und Er wurde auch niemals eines Fehls schuldig; aber sie fehlten dennoch und büßten ihr Versehen mit jenem langen schmerzlichen Suchen, von welchem unser Text berichtet. Gewis, der Knabe JEsus hatte nie Unrecht gethan, Seine Eltern werden nie Ursache gehabt haben, Ihm irgend etwas zu verweisen; aber hatte Er denn nie wider Erwartung Seiner Eltern gethan? War in Seinem Jugendleben nie etwas vorgekommen, das über der Eltern Gedanken hinaus gieng und zum Beweise dienen konnte, daß Seine Wege nicht allezeit die ihrigen waren? Nicht ein Unrecht JEsu zu verhüten, sondern sich selber vor Ueberraschung und Unruhe der Seele, vor Verdunkelung und Verwirrung ihres Blickes in JEsu Wege zu bewahren, hätten sie Sein genauer achten und alles Sein Thun fest in wachem Auge behalten sollen.


 Als die heiligen Eltern auf dem Rückweg inne wurden, daß JEsus fehlte, suchten sie Ihn erst unter den Reisegefährten, die mit ihnen giengen und zunächst hinter ihnen von der heiligen Stadt aufgebrochen waren, dann lange in Jerusalem und zuletzt im Tempel. Schon das ist zu bezweifeln, ob Ihn die Eltern so mühsam bei allen Gefährten, Gefreundten und Bekannten hätten suchen sollen. Wäre Er überhaupt auf dem Rückwege gewesen und nicht in Jerusalem geblieben, Er wäre gewis entweder bei Seinen frommen Eltern geblieben oder hätte sie doch, da Er keine höhere Ursache gehabt hätte, das zu unterlaßen, in Kenntnis Seines Aufenthalts und Seiner Reisegesellschaft gesetzt; denn Er war ein vollkommenes Kind, vollkommen auch in Lieb und Ehrerbietung für Maria und Joseph. Man hätte Ihn, da Er einmal abwesend war und keine Kunde von Sich gegeben hatte, nirgends anders als in Jerusalem suchen sollen, und auch in Jerusalem nirgends sonst als in Seinem wahren Vaterhause, im Tempel, deßen Bedeutung für diesen Knaben niemand beßer wißen konnte und wußte als Maria. Wie konnte Maria denken, daß JEsus um eines andern Menschen willen sie, Seine hochgeliebte Mutter, in Sorg und Thränen versetzen würde? War Er nicht bei ihr zur Zeit, da Er bei ihr erwartet werden konnte, so konnte Er, da Er niemals sündigte und fehlte, nur bei Dem sein, welchem Er größere Liebe und Ehre schuldig war, als ihr, bei Seinem Vater, in des Vaters Hause und Geschäften? Man hätte, da man Ihn vermißte, nur sich anklagen, Ihn gar nicht suchen, sondern geradezu in den Tempel zurückkehren sollen, sicher, daß man Ihn da finden würde. Im Suchen Marien und Josephs liegt etwas, das wehe thut. Ja, es thut wehe, daß sie in zwölf Jahren den Knaben, der da hieß „Wunderbar“, nicht beßer kennen gelernt hatten, daß sie an Ihm irre werden, und Ihm Unrecht zutrauen konnten, daß sie von Ihm noch etwas befremden, daß Maria fragen konnte: „Mein Sohn, warum hast Du uns das gethan?“ Es liegt gar zu nahe, dieser Frage neben dem Schmerz, Ihn vermißt zu haben, neben dem Verlangen, Sein Thun zu begreifen, auch ein wenig Unzufriedenheit und Tadel zu Grunde zu legen.

 Es geschieht mit inniger Ehrfurcht vor der gebenedeiten Mutter und dem ihr angetrauten Manne, wenn ich zu muthmaßen wage, es möchte vielleicht auch diesen Eltern etwas von dem begegnet sein, was bei andern| Eltern ganz gewöhnlich ist. Die meisten Eltern erziehen ihre Kinder so, als wäre das Lebensziel derselben Vater und Mutter, als hätten sie ihre Kinder für sich zu erziehen, sich zur Ehre, sich zur Freude, sich zur Annehmlichkeit, zur Stütze und zum Dienst im Alter. Sie fordern nicht allein Gehorsam und Liebe, welche dem Worte Gottes gemäß sind, sondern auch eine Anhänglichkeit und Hingebung, durch welche das von Ehe und Freundschaft unbefriedigte, liebehungrige Herz der Eltern gesättigt werden könne. Daher kommt es dann, daß man es gar nicht versteht, die Kinder zu fernen vom Herzen, daß man ohne sie kein Glück, keinen Frieden, keine Freude weiß. Fernt sich nun irgend jemals das Kind bei aller Liebe zu den Eltern selbst und geht einer höheren Liebe entschloßenen Schrittes nach; so wird der Weg den alternden Eltern thränenreich, voll selbstgeschaffenen, vergeblichen Leides, man eifert fast mit Gott, man verliert alles Benehmen, alle Haltung, ein gereiztes, aufgeregtes, mürrisches Wesen, ein Geschwätz von traurigen Erfahrungen und Zurücksetzung tritt an die Stelle. − Und was hilft alle Ungebärde? Man verliert allen Einfluß auf die Kinder dafür, daß man nicht verstand, wie Vater- und Mutterliebe dann am meisten die Kinder feßelt, wenn sie heilig, selbstvergeßend, aufopfernd und gestreng nur einem Ziele nachjagt, nemlich die Kinder für den himmlischen Vater und Sein ewiges Vaterhaus zu erziehen. Es sei nun ferne, diese Verirrung der Elternliebe in diesem Maße bei Maria und Joseph zu suchen. Aber ob nicht doch Maria ein wenig daran zu lernen hatte, daß ihr Sohn sie nicht mehr bedurfte, daß Ihm ohne sie wohl war, als sie Jerusalem verließ, ohne Seiner Gesellschaft zur Heimfahrt versichert zu sein; daß Er − was sie bei bloßer Befragung des Verständnisses, das in ihr war, nur billigen konnte, − in Seines himmlischen Vaters Haus nichts vermißte, obgleich sie Ihm fehlte? Ob sie nicht durch Seine hingebende Liebe ein wenig verwöhnt, oder daß ich ehrerbietiger rede, ein wenig zu viel an sie gewöhnt war? Ob ihr nicht die große Kluft zwischen Ihm und ihr, Seinem und ihrem Lebensberufe durch die Süßigkeit eines zwölfjährigen Umgangs ein wenig entschwunden war, und sie deswegen bei der Abreise von Jerusalem Sein nicht genug achtete, deshalb beim Wiederfinden glaubte, eine Frage an Ihn richten zu dürfen, welche ihr Befremden, ja fast ihren Tadel aussprach; − ob sie nicht aus diesem Grunde so redete, als hätte nicht sie Ihn (und das war doch die Wahrheit), sondern Er sie vernachläßigt, was nicht der Fall war. Das fragt sich, und wer weiß, ob mans nicht wagen dürfte, im Lichte der Wahrheit zu antworten: Maria hat hier, wie auf der Hochzeit zu Cana, sich dem hochgelobten Sohne zu nahe gedacht, etwas von uns andern, gewöhnlichen Eltern an sich gehabt, die wir so gerne an unsre gewöhnlichen Kinder die Forderung stellen, daß sie vor allen Dingen uns zu Gefallen leben sollen.

 Ich will, liebe Brüder, hievon so gerne schweigen und mich zur Betrachtung des Verhaltens JEsu wenden, wobei wir armen Sünder vorn herein die peinliche Verlegenheit, etwas misbilligen zu müßen, als eine Unmöglichkeit ansehen dürfen, da es ja nur zu loben und zu preisen gibt, je heller und klarer man Ihn erkennt, je sonnenhafter das Auge geworden ist, um diese Sonne zu schauen. − Die im Evangelio geoffenbarte wahrhaft menschliche Entwickelung JEsu, Seine unnachahmbare göttliche Hoheit, Sein nachahmungswürdiger, wenn auch nicht erreichbarer demüthiger Gehorsam, das sind die drei Punkte, welche ich textgemäß vor euch besprechen möchte.

 Wenn man sich denkt, daß in der Person unsers HErrn von Mutterleibe an zwei Naturen, die göttliche und die menschliche vereinigt waren, und daß Er, der Einzige unter allen Menschen, ohne Erbsünde geboren war; so könnte man erwarten, ein solches Kind müße eine ganz andere Entwickelung gehabt haben, als wir und andere Menschenkinder. Und wir finden doch, wie uns schon am Sonntage nach Weihnachten der Text überzeugen konnte, in der Heiligen Schrift das Gegentheil versichert. Er wuchs, Er ward stark am Geiste, heißt es an dem genannten Sonntag, und heute heißt es: „Er nahm zu an Alter, Weisheit und Gnade bei Gott und bei den Menschen.“ Also war die Vereinigung mit der Gottheit keine Ursache, durch welche die natürliche Entwickelung Seines menschlichen Wesens übermäßig beschleunigt worden wäre, das von dem Heiligen Schöpfer selbst gesetzte Maß wurde eingehalten, nicht eher als andere Knaben hielt der HErr Seinen ersten Tempelgang, und außer jenen heiligen Unterschieden, welche in dem Wegfall der Erbsünde begründet| waren, finden wir keinen zwischen unsern Kindern und unserm HErrn, vielmehr heißt Dieser in unserm Texte noch als zwölfjähriger Knabe ausdrücklich ein Kind und Knabe. Ein Kind im Werden, ein fragend, forschend Kind war Er, das sehen wir alle. Bei einer ruhigen Erwägung deßen finden wir hierin Grundes genug, uns hoch zu verwundern, − aber auch leider Grundes genug, eine traurige Vergleichung unserer Kinder mit dem Knaben JEsu anzustellen. Auch unsere Kinder sind im Alter von zwölf Jahren noch im Werden, noch im kindlichen Alter; aber nehmen sie auch sonst noch in etwas zu als im Alter; nehmen sie zu in Weisheit und Gnade, im Wohlgefallen Gottes und der Menschen? Und kann man von ihnen nach Vollendung von zwölf Jahren noch sagen, was von JEsu gesagt wird; kann man sagen, sie seien Kinder? Christus war ein fragend Kind und Seine Fragen waren ohne Zweifel Seiner werth, aber eben so gewis waren es auch kindliche Fragen. Unsre Kinder fragen mit zwölf Jahren auch, aber wonach fragen sie? Wie oft und viel nach solchem, was ihrem Gesichtskreis noch lange entrückt sein sollte. Ihre Fragen selbst beweisen, daß sie bereits aufgehört haben, Kinder zu sein. Ach, es ist so traurig, Kinder für diese Welt so schnell reifen und in göttlichen Dingen immer mehr abnehmen zu sehen: man könnte darüber eine lange Klage erheben, wenn nicht dieses Vortrags Pflicht allen Klagen Einhalt thäte und zum Lobe Christi zurückriefe.

 Es muß, meine Freunde, eine außerordentliche Feierstunde gewesen sein, als das kindlichste der Kinder, der liebenswürdigste Knabe im Tempel unter den Lehrern stand und saß. Da werden erleuchtete Augen in Ihm den lieblichsten Anblick gefunden, aber sie werden sich nicht bloß der Lieblichkeit erfreut, sondern auch die Hoheit im Benehmen JEsu bewundert haben, und wer weiß, in wie vielen bei dem Anblick eine Ahnung der höheren Abkunft des Knaben erwachte. Dieser Anblick ist uns armen Spätlingen nicht vergönnt, aber wir können um so mehr einen Schluß auf die Wirkungen desselben machen, da schon die Erzählung unsers Evangeliums uns zur freudigsten Bewunderung und Anbetung hinreißen kann. Laßet mich versuchen die Spuren göttlicher Hoheit aus dem Benehmen des heiligen Knaben aufzuzeigen.

 JEsus blieb im Tempel, da Seine Eltern wieder heimzogen. Wir haben im Allgemeinen schon bemerkt, daß Er damit nicht gefehlt haben kann, weil Er überhaupt nicht fehlte. Sein Bleiben war also nicht Pflicht- und Selbstvergeßenheit, vielmehr können wir nicht anders denken, als daß es heiliger Entschluß gewesen ist. Er verweilte nicht bloß einige Stunden länger als Maria und Joseph, Er verweilte Tage und Nächte. Schon am Abend des ersten Tages mußte Er ohne die geliebten Eltern sein − und Er blieb doch noch länger. Er konnte um die Sorgen und Schmerzen Seiner Mutter wißen, Er wußte auch sicherlich darum und blieb doch − und fühlt Sich ermächtigt zu bleiben, ohne innern Vorwurf des Ungehorsams, ohne heimliche Trübung Seines Festaufenthalts, ohne daß Sein Geist durch die Erinnerung an das schmerzliche Suchen der Eltern in der Betrachtung und Besprechung himmlischer Dinge gestört wurde, und doch auch wieder, dafür bürgt Seine Art, ohne die mindeste Verletzung der Liebe. Was für ein Benehmen ist das von einem Kinde und was für ein Kind ist das? Soll man Sein Thun mehr harmlos oder mehr entschloßen, mehr dem eigenen, heiligen, hohen Geist und Zuge folgend oder mehr auf der Eltern Vollendung berechnet nennen? Gieng Er mehr nur einfach Seinen Gang, weil Er nicht anders konnte, oder beabsichtigte Er auch, durch so entschloßenes Walten die Eltern zu entwöhnen, ihnen die Kluft zwischen Sich und ihnen bemerklich zu machen, die rechte Ansicht von Seiner Person in ihnen zu erneuern, sie auf noch Größeres, Unerwarteteres vorzubereiten?! −

 Eine nicht geringere Verwunderung ergreift uns, wenn wir den Aufenthalt JEsu unter den Lehrern ins Auge faßen. Wir wollen einmal ganz darauf verzichten, Ihn als einen Lehrer der Lehrer darzustellen, wollen die Frage gar nicht aufwerfen, ob Er gefragt habe, um zu lehren. Wir wollen die Erzählung des Textes: „Er antwortete und fragte“ nur so, ganz so nehmen, wie es nach Begriffen, die aus der Betrachtung gewöhnlicher Menschenkinder stammen, für einen Knaben von zwölf Jahren paßt, daß Ihn die Lehrer gefragt und Er geantwortet, daß Er selbst nur gefragt habe, um belehrt zu werden. Es verträgt sich das ganz mit Seiner hohen Person, mit der Vereinigung Gottes und der Menschheit in Ihm. Hier ist ein wunderbares, aber seiner Bedeutung nach ernstes Spiel der Weisheit Gottes unter den Menschenkindern, einer Weisheit, die Mensch und Kind geworden, sich ihrer| Herrlichkeit entäußert hat und bei ihren eigenen Schülern und Kindern in die Lehre geht. Hier ist ein wahres Kind, wahr im Lernen, wahr im Zunehmen: die Strahlen der höheren Natur erleuchten die menschliche Natur Christi nach dem Maße Seines kindlichen Wachstums. Aber so sehr vom Standpunkte Seiner Erniedrigung aus wir auch das Fragen und Antworten JEsu faßen, wir können doch nicht unbemerkt und unerwähnt laßen, daß sich die Lehrer über Seine Fragen und Antworten verwunderten. JEsus war nicht in einer Kinderschule, die Lehrer, welche Seine Antworten und Fragen bewunderten, waren nicht Kinderlehrer; es war ihr Geschäft nicht, Kinder zu unterrichten; es ist ein Ausnahmsfall, daß sie ein Kind unter sich dulden, ein Vergnügen finden, ihm zu antworten, daß sie in beidem keinen Zeitverlust erkennen, sich in ihren ernsten Betrachtungen und Gesprächen nicht aufgehalten fühlen, und das Tage lang. Es ist, recht bedacht, der Aufenthalt JEsu unter den Lehrern nichts Geringes, Seine Eltern haben sich, als sie Ihn fanden, darüber „entsetzt“, und ihre innere Bewegung wird jeden Falls noch vermehrt worden sein, als sie die Verwunderung der Lehrer wahrnahmen. Gleichwie durch des Feuers Berührung erkannt wird, wie brennbar ein Stoff, und durch Aufnahme des Lichtes, wie sonnenhaft ein Auge ist; so erkannte man an JEsu Zusammensein mit den Lehrern, was für ein Lehrer in Ihm heranreifte. Schon damals, in Seinem zwölften Jahre, saß der kindlichste der Schüler nicht zu Füßen der Lehrer, sondern mitten unter ihnen und wir erkennen in Ihm Israels aufgehende Sonne, einen geborenen König der Geister, des kindliches Reden ergraute Denker feßelt, einen wunderbaren Sprecher Gottes, der mit Seinem Ton ernsten Männern die Flucht der Zeit und das Leid des Lebens vergeßen machen kann. Was wird aus diesem Knaben werden, wie wird er lehren, wenn nun sein Leib und seine Seele zum Mannesalter herangereift sein werden! Was sind dagegen unsre armen sündigen Kinder! Und ach, was sind wir? Israels Lehrer horchen Tage lang dem Kinde JEsus zu und merken nicht, daß die Stunde verrinnt, und uns − uns langweilt manchmal die Rede des Mannes JEsus und unsre Augen können sich schläfrig schließen, wenn wir von Ihm, wenn wir Seine Worte hören?! −

 Mitten in der Offenbarung Seiner göttlich kindlichen Natur findet Ihn Maria und es ertönt in den entzückten Kreis der Lehrer hinein das unaufhaltsame Wort der besorgten Mutter: „Mein Sohn, warum hast Du uns das gethan?“ Kennt Er etwa diese Stimme nicht? Ist das nicht die mütterliche Jungfrau, deren Stimme Ihn hat reden lehren? Ists nicht die Mutter, die Ihn nach Aegypten und wieder zurück nach Nazareth getragen, die Ihn gehütet hat wie einen Augapfel? Die Ihn geliebt, die Er geliebt hat, die Ihn geliebt hat, wie keine andre Mutter lieben kann, die Er geliebt hat, wie kein anderer Sohn lieben kann? Er kennt und liebt sie wie sonst; aber über der Hoheit, die sich in JEsu Antwort ausspricht, vergißt man, nachzudenken, ob nicht eine Liebe, wenn auch nicht die gewöhnliche, nicht die eines gewöhnlichen Kindes, in Seinen Worten liegt. Es klingt so wunderbar ferne, wenn auf die annahende Frage der Mutter: „Warum“ die haarscharfe, schneidende Antwort: „Wißet ihr nicht,“ auf die schmerzenvollen Worte: „Wir haben Dich gesucht“ Sein „was ists, daß ihr Mich gesucht habet?“ auf die Rede „ich und Dein Vater“ das majestätische Wort kommt: „Ich muß sein in dem, das Meines Vaters ist.“ Da ist keine Reue, kein Zugeständnis eines Fehls, keine Unterordnung unter das Urtheil der Mutter, im Gegentheil eine feierliche Zurückweisung eines Vaters, der nicht Sein ist, der sich in Seinem und Seines wahren Vaters Hause Ihn betreffend den Vaternamen nicht beilegen darf. Ein Gefühl göttlicher Hoheit spricht aus Ihm, eine sichere Erkenntnis Seiner Abstammung, eine Gewisheit gibt sich kund, daß Er Sich nicht verlaufen, daß Er im Vaterhause geblieben, da Er im Tempel blieb, eine Gewisheit, daß Er dahin gehöre, da sein müße, ja daß Er allezeit, auch wenn Er nicht im Tempel, doch in dem sein müße, das Seines Vaters sei, in des Vaters Geschäften und in des Vaters Beruf. Völlig sicher, einfach, frank und frei fernt und entschwingt Er Sich den mütterlichen Armen und erweiset, wie Er, obwohl von einem Weib entsprungen, doch einen Flug vorhabe, den Ihn die Mutter nie gelehrt, den sie auch nicht verstand, wie die Schrift ausdrücklich bezeugt.

 Erhaben, weit erhaben ist dieß Kind über Maria und Joseph und alle Eltern und alle Kinder − und Seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingebornen Sohnes vom Vater, strahlt uns in die Seele, wenn wir dieß Evangelium betrachten. Und doch zeigt Er Sich dann wieder so demüthig gehorsam, daß nach| Beweisen solcher Hoheit unsere Bewunderung dadurch nur erhöht werden kann. Seine Eltern haben Ihn und zugleich den ihnen grade nöthigen Beweis, daß Er nicht von dannen, gefunden und Seine hehre, wunderbare Stimme von Seinem rechten Vater vernommen, − eine starke Erinnerung an die Geschichte Seiner Geburt ist ihnen zu Theil geworden, − das wahre Verhältnis zwischen ihnen und dem Sohne JEsus ist wieder im Licht gezeigt, bestätigt und befestigt worden. Die Mutter vergaß die Worte nicht, behielt sie alle im Herzen, − und Er selbst? Wie wenn das kein Gegensatz wäre zu dem, was erst geschehen; wie wenn es grade so hätte sein müßen nach Beweisen großer Hoheit, geht Er mit ihnen hinab gen Nazareth und ist ihnen unterthan. Er, der Hohe und Erhabene, der weiser ist als Seine Eltern, der sie verstand, den sie aber nicht verstanden, leistet Gehorsam. Welch’ ein Wunder! Er gehorcht − und die Eltern können nach dem allen Seinen Gehorsam ertragen, können Ihm also befehlen, werden nicht ganz in Liebe und Anbetung hingenommen! Welch eine Familie, − welch ein Kind! Die Geschichte hat mehr als ein Beispiel einer wunderbaren Kindheit aufbewahrt, denkt z. B. an Moses etc.; aber was ist das alles gegen die Geschichte der Kindheit JEsu. Man gibt sich zufrieden, aus dieser Kindheit nicht mehr zu wißen, man hat genug an dem, was man gelesen. Man bleibt beschauend und anbetend vor diesem Kinde stehen, das Gott Seinen Vater, den Tempel Sein Vaterhaus nennt und hinab nach Nazareth geht, um armen irdischen Eltern Gehorsam zu erweisen.

 Meine Brüder, nicht allewege ist uns Christus zur Nachahmung aufgestellt. Wir sind Würmer, wie sollten wir den Flug des himmlischen Adlers nachahmen können! Aber hier, in unserm Evangelium steht etwas, worin der Sohn Gottes uns zur Nachahmung gelebt hat: der Sohn Gottes gehorcht Seinen menschlichen Eltern, Sein Thun ist eine Verklärung des vierten Gebotes, Sein Thun beweist mit höchster Kraft, daß von dem vierten Gebote niemand ausgenommen ist. Die klein sind an Jahren, die groß sind an Weisheit, die ihre Eltern an Weisheit übertreffen: sie sind alle zu demüthigem Gehorsam gegen ihre Eltern verpflichtet, denn Christus gehorchte. Alles, was Kinder heißt auf Erden, ist durch die doppelten Bande des vierten Gebotes und der Nachfolge JEsu zu Gehorsam und Ehrerbietung gegen die verbunden, die den heiligen Vaternamen, den Mutternamen tragen. Wie wird uns, wenn wir uns neben Christum stellen, wenn wir unsere kindliche Liebe mit der Seinigen vergleichen? Unser Ungehorsam gegen Eltern, die weiser waren als wir, − unser hochmüthiges Uebersehen und Verachten derer, die wie an Würde, so an Werth und Tugend uns so sehr übertrafen: ach, wie kann es uns niederdrücken!

 An Alter haben wir JEsum erreicht − aber an Kindestugend? Das ist vorüber. Wir sind Männer und was wir aus der Jugend mitgebracht haben, ist Reue und Leid, daß wir so schwarz und dunkel neben dem Kinde stehen, auf deßen Namen wir getauft sind und aus deßen Fülle und Seiner Taufe Kraft wir auch in der Kindheit Macht und Vermögen zu allem Guten hätten nehmen können. Der Trost, den wir haben, ist der, daß Seine Vollkommenheit auch in der Kindheit eine stellvertretende war, daß Er gethan hat, was weder wir gekonnt, noch unsere Kinder können, daß Ers gethan hat zu unserm Heile und zu unserer Gerechtigkeit. Wir und unsere Kinder liegen vor Ihm im Staube, wir fühlen uns Ihm gegenüber. Er sei uns doch gnädig und gedenke unsrer Jugendsünden nicht. Er heile unser wund Gewißen durch die Gewisheit Seiner Gnade und gebe unsern Kindern Seinen kindlichen Geist in größerem Maße, als wir Ihn an- und aufgenommen, damit sie weniger Reue und größere Freude haben, wenn sie dereinst in ihre Jugend zurücksehen. Und wenn wir auferstehen, die Kinder und die Alten, so sei ER uns milde und decke uns alle mit der Gerechtigkeit Seiner Kindheit zu, wenn der Anblick der auferstandenen Eltern und das gestrenge Auge von dem richterlichen Sitz uns zum Verzagen bringen will. Im Leben, im Sterben, im Auferstehen sei angerufen, angeflehet die Gnade unsers HErrn JEsu Christi, des einzig guten Sohnes! Im Leben, im Sterben, im Auferstehen tröste uns, schrecke uns nicht, die Vollkommenheit des allein Heiligen unter allen Kindern!

Amen.




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