Seite:Wilhelm Löhe - Evangelien-Postille Aufl 3.pdf/78

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

in Mitte der Pilgerzüge, unter Posaunenklang und Psalmensang geht Er zum Hause Seines Vaters, in Seine wahre Heimath, − und wir können in diesem Gang des heiligen Knaben Seine ganze Jugend, Seine ganze Führung und Erziehung schauen. Unter den Sitten und Satzungen des alten Testamentes wuchs Er heran; in der Religion Seiner Väter wurde Er erzogen; selbst ganz dieser Religion ergeben, konnten die heiligen Eltern einem Gedanken, Ihn anders zu erziehen, gar nicht Raum geben, − und indem sie einfältig dem Geiste folgten, der sie selbst trieb, thaten sie grade das Allerbeste, geleiteten ihren heiligen Liebling von einer Stufe der Jahre und des herrlichsten Gedeihens zu der andern und auf jeder Stufe war ihre ganze Erziehung nichts anderes als nur eine Führung zum HErrn, dem Vater des heiligen Kindes JEsus. Man könnte freilich, wenn man wollte, sagen, Maria und Joseph hätten nur gethan, was andere Eltern in Israel auch; es sei kein besonderes Lob für sie gewesen, daß sie der allgemeinen Erziehungsweise gefolgt seien. Allein wenn schon alle Eltern in Israel dieselbe Weise einhielten, alle ihre Söhne für die Gottesdienste des HErrn erzogen und sie im zwölften Jahre dem HErrn hinaufführten: es war dennoch ohne allen Zweifel ein anderer Geist und Sinn gewesen, in welchem es Maria und Joseph thaten. Folgten sie einfältig der allgemeinen Sitte, so darf doch nicht angenommen werden, daß ihre Einfalt ohne Ueberlegung gewesen, daß sie den Weg der Sitte bloß, weil sie Sitte war, ohne Wahl, ohne Licht, ohne Tugend erwählt haben. Dieß Kind bedurfte und hatte drum auch Eltern von auserwählter Gabe und Gnade, und was drum andere ohne alles Ueberlegen und Bedenken, im Zug der allgemeinen Sitte thaten, wurde bei Maria und Joseph durch den Geist und die Weise, wie es von ihnen geschah, zu ungewöhnlicher Tugend und zu hohem Lob. Sie wußten ja, wen sie erzogen und zu welchem Lebenszwecke Er erzogen werden sollte; da konnten sie ja in Zweifel kommen, ob Er nicht ganz anders als alle andere Knaben zu leiten und zu führen sei: wie nahe lag ein solcher Gedanke − was für ein Wunder, wenn Er nicht gekommen wäre! Und wenn Er kam, und nach allem Ueberlegen Israels gewohnte Bahn als die von Gott gewollte betreten wurde: war dann ein solches Einlenken nicht heiliger Entschluß, die treue Ausführung nicht Lob und Tugend? Gesetzt aber auch, obschon nicht zugestanden, es wäre für die heiligen Eltern kein besonderes Lob gewesen, JEsum in den heiligen Sitten ihrer Väter für den Tempel Gottes und für Gott selbst zu erziehen; dennoch bliebe es ein Lob, welches manchem Elternpaar in unsern Tagen nicht gesprochen werden könnte. Je kleiner das Lob erachtet würde, desto tadelnswürdiger erschienen alle diejenigen, welche auf dasselbe keinen Anspruch machen können. Ja, der Tadel müßte um so gewaltiger auf solche Eltern fallen, weil die Erziehung im neuen Testamente in einem noch höheren Sinne, als im alten, eine Führung zu Gott sein soll, weil sich mehr und größere Gnaden und Mittel darbieten, um sie in der That und Wahrheit und in allen Fällen zu dem zu machen, was sie sein soll. Und schon darum darf das Beispiel der heiligen Erzieher Joseph und Maria allerdings emporgehoben und den Gemeinden empfohlen werden.

.

 Aber freilich, wir finden auch am Benehmen und der Erziehung der heiligen Eltern nicht alles löblich, wir finden, wie bereits bemerkt, manches, was wir nicht billigen können. Maria und Joseph waren die besten Eltern, die es gab; sie waren ja Seine Eltern, Ihm zuvor erlesen und bereitet. Und gewis haben wir alle Ursache, ihnen für alles, was sie an Treu und Liebe dem Kinde JEsu erzeigt haben, ewig dankbar zu sein: was Ihm, unserm heiligen Erlöser, geschah, ist gewis auch als uns erzeigt anzunehmen, zumal Er gleichfalls alles, was uns armen Sündern geschieht, als Ihm geschehen anerkennen will. Eben so gewis ist es, daß die heilige Tugend Josephs und Marien uns eine viel zu große Ehrerbietung einflößt, als daß wir eine Freude haben könnten, sie zu tadeln, oder auch nur einen Tadel, den sie von höherem Munde empfangen, besonders zu betonen. Dennoch aber dürfen wir einen solchen Tadel nicht verhüllen, weil es ja bekannt ist, wie namentlich die große Würde und Heiligkeit der Mutter Gottes Millionen zu einer ungebührlichen, ja abgöttischen Verehrung derselben hingerißen hat. Ohne alle Verletzung schuldiger Ehrerbietung, gewis ganz im Sinne der seligen Gottesmutter selbst geschieht es, wenn wir auf die Mängel ihres zeitlichen Lebens hindeuten und damit eine Ueberschätzung und Verehrung von ihr abzuweisen suchen, welche sie noch in jener Herrlichkeit betrüben würde, wenn dort noch irgend etwas vermöchte, ihre große Seligkeit zu

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 067. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/78&oldid=- (Version vom 22.8.2016)