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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

verkümmern. Scheint es doch, als hätte der Heilige Geist selbst darum im Ganzen nur wenig von Maria erzählt, und unter dem Wenigen verhältnismäßig so manchen Tadel, damit Er zukünftigen Abgöttereien wehrete und den Gewißen der Gläubigen für immer einen Stachel hinterließe, im Falle sie sich durch viel Versuchung zu jenen Beleidigungen verführen ließen, welche der Mutter Gottes leider täglich und stündlich durch abgöttische Gebete und Verehrungen geschehen.

 Ein langer Eingang zu dem, was ich von den in unserm Evangelium bezeichneten Fehlern des heiligsten Elternpaares zu sagen habe, − lang, und doch zu kurz für mich und für meinen Unwerth und für meine Ehrerbietung. Und desto kürzer sei der Fehl berührt.

 Maria und Joseph nahmen den HErrn mit hinauf nach Jerusalem und − nahmen Ihn nicht mit sich herunter, fragten bei ihrem Weggang nicht, ob JEsus bei ihnen oder den Reisegefährten sei, setzten es zu sicher voraus. Daß JEsus im Tempel blieb, war vollkommen recht und heilig; aber der Eltern sorglose Sicherheit, wenn wir es so nennen dürfen, war nicht recht. Es war ihnen ja das Aufsichtsamt über den heiligen Knaben befohlen, JEsus war ja ihr Lebenszweck, Er sollte billig ihr immerwährendes Augenmerk geblieben sein, wenn gleich sie versichert sein durften, daß alle Engel, der ganze Himmel und Gott selbst dieß Aufsichtsamt mit ihnen theilten und Ihm deshalb nichts geschehen konnte. Sie hatten Recht, wenn sie JEsu alles Gute und keinen Fehl zutrauten, und Er wurde auch niemals eines Fehls schuldig; aber sie fehlten dennoch und büßten ihr Versehen mit jenem langen schmerzlichen Suchen, von welchem unser Text berichtet. Gewis, der Knabe JEsus hatte nie Unrecht gethan, Seine Eltern werden nie Ursache gehabt haben, Ihm irgend etwas zu verweisen; aber hatte Er denn nie wider Erwartung Seiner Eltern gethan? War in Seinem Jugendleben nie etwas vorgekommen, das über der Eltern Gedanken hinaus gieng und zum Beweise dienen konnte, daß Seine Wege nicht allezeit die ihrigen waren? Nicht ein Unrecht JEsu zu verhüten, sondern sich selber vor Ueberraschung und Unruhe der Seele, vor Verdunkelung und Verwirrung ihres Blickes in JEsu Wege zu bewahren, hätten sie Sein genauer achten und alles Sein Thun fest in wachem Auge behalten sollen.


 Als die heiligen Eltern auf dem Rückweg inne wurden, daß JEsus fehlte, suchten sie Ihn erst unter den Reisegefährten, die mit ihnen giengen und zunächst hinter ihnen von der heiligen Stadt aufgebrochen waren, dann lange in Jerusalem und zuletzt im Tempel. Schon das ist zu bezweifeln, ob Ihn die Eltern so mühsam bei allen Gefährten, Gefreundten und Bekannten hätten suchen sollen. Wäre Er überhaupt auf dem Rückwege gewesen und nicht in Jerusalem geblieben, Er wäre gewis entweder bei Seinen frommen Eltern geblieben oder hätte sie doch, da Er keine höhere Ursache gehabt hätte, das zu unterlaßen, in Kenntnis Seines Aufenthalts und Seiner Reisegesellschaft gesetzt; denn Er war ein vollkommenes Kind, vollkommen auch in Lieb und Ehrerbietung für Maria und Joseph. Man hätte Ihn, da Er einmal abwesend war und keine Kunde von Sich gegeben hatte, nirgends anders als in Jerusalem suchen sollen, und auch in Jerusalem nirgends sonst als in Seinem wahren Vaterhause, im Tempel, deßen Bedeutung für diesen Knaben niemand beßer wißen konnte und wußte als Maria. Wie konnte Maria denken, daß JEsus um eines andern Menschen willen sie, Seine hochgeliebte Mutter, in Sorg und Thränen versetzen würde? War Er nicht bei ihr zur Zeit, da Er bei ihr erwartet werden konnte, so konnte Er, da Er niemals sündigte und fehlte, nur bei Dem sein, welchem Er größere Liebe und Ehre schuldig war, als ihr, bei Seinem Vater, in des Vaters Hause und Geschäften? Man hätte, da man Ihn vermißte, nur sich anklagen, Ihn gar nicht suchen, sondern geradezu in den Tempel zurückkehren sollen, sicher, daß man Ihn da finden würde. Im Suchen Marien und Josephs liegt etwas, das wehe thut. Ja, es thut wehe, daß sie in zwölf Jahren den Knaben, der da hieß „Wunderbar“, nicht beßer kennen gelernt hatten, daß sie an Ihm irre werden, und Ihm Unrecht zutrauen konnten, daß sie von Ihm noch etwas befremden, daß Maria fragen konnte: „Mein Sohn, warum hast Du uns das gethan?“ Es liegt gar zu nahe, dieser Frage neben dem Schmerz, Ihn vermißt zu haben, neben dem Verlangen, Sein Thun zu begreifen, auch ein wenig Unzufriedenheit und Tadel zu Grunde zu legen.

 Es geschieht mit inniger Ehrfurcht vor der gebenedeiten Mutter und dem ihr angetrauten Manne, wenn ich zu muthmaßen wage, es möchte vielleicht auch diesen Eltern etwas von dem begegnet sein, was bei andern

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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 068. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/79&oldid=- (Version vom 22.8.2016)