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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Beweisen solcher Hoheit unsere Bewunderung dadurch nur erhöht werden kann. Seine Eltern haben Ihn und zugleich den ihnen grade nöthigen Beweis, daß Er nicht von dannen, gefunden und Seine hehre, wunderbare Stimme von Seinem rechten Vater vernommen, − eine starke Erinnerung an die Geschichte Seiner Geburt ist ihnen zu Theil geworden, − das wahre Verhältnis zwischen ihnen und dem Sohne JEsus ist wieder im Licht gezeigt, bestätigt und befestigt worden. Die Mutter vergaß die Worte nicht, behielt sie alle im Herzen, − und Er selbst? Wie wenn das kein Gegensatz wäre zu dem, was erst geschehen; wie wenn es grade so hätte sein müßen nach Beweisen großer Hoheit, geht Er mit ihnen hinab gen Nazareth und ist ihnen unterthan. Er, der Hohe und Erhabene, der weiser ist als Seine Eltern, der sie verstand, den sie aber nicht verstanden, leistet Gehorsam. Welch’ ein Wunder! Er gehorcht − und die Eltern können nach dem allen Seinen Gehorsam ertragen, können Ihm also befehlen, werden nicht ganz in Liebe und Anbetung hingenommen! Welch eine Familie, − welch ein Kind! Die Geschichte hat mehr als ein Beispiel einer wunderbaren Kindheit aufbewahrt, denkt z. B. an Moses etc.; aber was ist das alles gegen die Geschichte der Kindheit JEsu. Man gibt sich zufrieden, aus dieser Kindheit nicht mehr zu wißen, man hat genug an dem, was man gelesen. Man bleibt beschauend und anbetend vor diesem Kinde stehen, das Gott Seinen Vater, den Tempel Sein Vaterhaus nennt und hinab nach Nazareth geht, um armen irdischen Eltern Gehorsam zu erweisen.


 Meine Brüder, nicht allewege ist uns Christus zur Nachahmung aufgestellt. Wir sind Würmer, wie sollten wir den Flug des himmlischen Adlers nachahmen können! Aber hier, in unserm Evangelium steht etwas, worin der Sohn Gottes uns zur Nachahmung gelebt hat: der Sohn Gottes gehorcht Seinen menschlichen Eltern, Sein Thun ist eine Verklärung des vierten Gebotes, Sein Thun beweist mit höchster Kraft, daß von dem vierten Gebote niemand ausgenommen ist. Die klein sind an Jahren, die groß sind an Weisheit, die ihre Eltern an Weisheit übertreffen: sie sind alle zu demüthigem Gehorsam gegen ihre Eltern verpflichtet, denn Christus gehorchte. Alles, was Kinder heißt auf Erden, ist durch die doppelten Bande des vierten Gebotes und der Nachfolge JEsu zu Gehorsam und Ehrerbietung gegen die verbunden, die den heiligen Vaternamen, den Mutternamen tragen. Wie wird uns, wenn wir uns neben Christum stellen, wenn wir unsere kindliche Liebe mit der Seinigen vergleichen? Unser Ungehorsam gegen Eltern, die weiser waren als wir, − unser hochmüthiges Uebersehen und Verachten derer, die wie an Würde, so an Werth und Tugend uns so sehr übertrafen: ach, wie kann es uns niederdrücken!

 An Alter haben wir JEsum erreicht − aber an Kindestugend? Das ist vorüber. Wir sind Männer und was wir aus der Jugend mitgebracht haben, ist Reue und Leid, daß wir so schwarz und dunkel neben dem Kinde stehen, auf deßen Namen wir getauft sind und aus deßen Fülle und Seiner Taufe Kraft wir auch in der Kindheit Macht und Vermögen zu allem Guten hätten nehmen können. Der Trost, den wir haben, ist der, daß Seine Vollkommenheit auch in der Kindheit eine stellvertretende war, daß Er gethan hat, was weder wir gekonnt, noch unsere Kinder können, daß Ers gethan hat zu unserm Heile und zu unserer Gerechtigkeit. Wir und unsere Kinder liegen vor Ihm im Staube, wir fühlen uns Ihm gegenüber. Er sei uns doch gnädig und gedenke unsrer Jugendsünden nicht. Er heile unser wund Gewißen durch die Gewisheit Seiner Gnade und gebe unsern Kindern Seinen kindlichen Geist in größerem Maße, als wir Ihn an- und aufgenommen, damit sie weniger Reue und größere Freude haben, wenn sie dereinst in ihre Jugend zurücksehen. Und wenn wir auferstehen, die Kinder und die Alten, so sei ER uns milde und decke uns alle mit der Gerechtigkeit Seiner Kindheit zu, wenn der Anblick der auferstandenen Eltern und das gestrenge Auge von dem richterlichen Sitz uns zum Verzagen bringen will. Im Leben, im Sterben, im Auferstehen sei angerufen, angeflehet die Gnade unsers HErrn JEsu Christi, des einzig guten Sohnes! Im Leben, im Sterben, im Auferstehen tröste uns, schrecke uns nicht, die Vollkommenheit des allein Heiligen unter allen Kindern!

Amen.




Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 072. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/83&oldid=- (Version vom 22.8.2016)