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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Eltern ganz gewöhnlich ist. Die meisten Eltern erziehen ihre Kinder so, als wäre das Lebensziel derselben Vater und Mutter, als hätten sie ihre Kinder für sich zu erziehen, sich zur Ehre, sich zur Freude, sich zur Annehmlichkeit, zur Stütze und zum Dienst im Alter. Sie fordern nicht allein Gehorsam und Liebe, welche dem Worte Gottes gemäß sind, sondern auch eine Anhänglichkeit und Hingebung, durch welche das von Ehe und Freundschaft unbefriedigte, liebehungrige Herz der Eltern gesättigt werden könne. Daher kommt es dann, daß man es gar nicht versteht, die Kinder zu fernen vom Herzen, daß man ohne sie kein Glück, keinen Frieden, keine Freude weiß. Fernt sich nun irgend jemals das Kind bei aller Liebe zu den Eltern selbst und geht einer höheren Liebe entschloßenen Schrittes nach; so wird der Weg den alternden Eltern thränenreich, voll selbstgeschaffenen, vergeblichen Leides, man eifert fast mit Gott, man verliert alles Benehmen, alle Haltung, ein gereiztes, aufgeregtes, mürrisches Wesen, ein Geschwätz von traurigen Erfahrungen und Zurücksetzung tritt an die Stelle. − Und was hilft alle Ungebärde? Man verliert allen Einfluß auf die Kinder dafür, daß man nicht verstand, wie Vater- und Mutterliebe dann am meisten die Kinder feßelt, wenn sie heilig, selbstvergeßend, aufopfernd und gestreng nur einem Ziele nachjagt, nemlich die Kinder für den himmlischen Vater und Sein ewiges Vaterhaus zu erziehen. Es sei nun ferne, diese Verirrung der Elternliebe in diesem Maße bei Maria und Joseph zu suchen. Aber ob nicht doch Maria ein wenig daran zu lernen hatte, daß ihr Sohn sie nicht mehr bedurfte, daß Ihm ohne sie wohl war, als sie Jerusalem verließ, ohne Seiner Gesellschaft zur Heimfahrt versichert zu sein; daß Er − was sie bei bloßer Befragung des Verständnisses, das in ihr war, nur billigen konnte, − in Seines himmlischen Vaters Haus nichts vermißte, obgleich sie Ihm fehlte? Ob sie nicht durch Seine hingebende Liebe ein wenig verwöhnt, oder daß ich ehrerbietiger rede, ein wenig zu viel an sie gewöhnt war? Ob ihr nicht die große Kluft zwischen Ihm und ihr, Seinem und ihrem Lebensberufe durch die Süßigkeit eines zwölfjährigen Umgangs ein wenig entschwunden war, und sie deswegen bei der Abreise von Jerusalem Sein nicht genug achtete, deshalb beim Wiederfinden glaubte, eine Frage an Ihn richten zu dürfen, welche ihr Befremden, ja fast ihren Tadel aussprach; − ob sie nicht aus diesem Grunde so redete, als hätte nicht sie Ihn (und das war doch die Wahrheit), sondern Er sie vernachläßigt, was nicht der Fall war. Das fragt sich, und wer weiß, ob mans nicht wagen dürfte, im Lichte der Wahrheit zu antworten: Maria hat hier, wie auf der Hochzeit zu Cana, sich dem hochgelobten Sohne zu nahe gedacht, etwas von uns andern, gewöhnlichen Eltern an sich gehabt, die wir so gerne an unsre gewöhnlichen Kinder die Forderung stellen, daß sie vor allen Dingen uns zu Gefallen leben sollen.


 Ich will, liebe Brüder, hievon so gerne schweigen und mich zur Betrachtung des Verhaltens JEsu wenden, wobei wir armen Sünder vorn herein die peinliche Verlegenheit, etwas misbilligen zu müßen, als eine Unmöglichkeit ansehen dürfen, da es ja nur zu loben und zu preisen gibt, je heller und klarer man Ihn erkennt, je sonnenhafter das Auge geworden ist, um diese Sonne zu schauen. − Die im Evangelio geoffenbarte wahrhaft menschliche Entwickelung JEsu, Seine unnachahmbare göttliche Hoheit, Sein nachahmungswürdiger, wenn auch nicht erreichbarer demüthiger Gehorsam, das sind die drei Punkte, welche ich textgemäß vor euch besprechen möchte.

 Wenn man sich denkt, daß in der Person unsers HErrn von Mutterleibe an zwei Naturen, die göttliche und die menschliche vereinigt waren, und daß Er, der Einzige unter allen Menschen, ohne Erbsünde geboren war; so könnte man erwarten, ein solches Kind müße eine ganz andere Entwickelung gehabt haben, als wir und andere Menschenkinder. Und wir finden doch, wie uns schon am Sonntage nach Weihnachten der Text überzeugen konnte, in der Heiligen Schrift das Gegentheil versichert. Er wuchs, Er ward stark am Geiste, heißt es an dem genannten Sonntag, und heute heißt es: „Er nahm zu an Alter, Weisheit und Gnade bei Gott und bei den Menschen.“ Also war die Vereinigung mit der Gottheit keine Ursache, durch welche die natürliche Entwickelung Seines menschlichen Wesens übermäßig beschleunigt worden wäre, das von dem Heiligen Schöpfer selbst gesetzte Maß wurde eingehalten, nicht eher als andere Knaben hielt der HErr Seinen ersten Tempelgang, und außer jenen heiligen Unterschieden, welche in dem Wegfall der Erbsünde begründet

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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 069. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/80&oldid=- (Version vom 22.8.2016)