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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

Herrlichkeit entäußert hat und bei ihren eigenen Schülern und Kindern in die Lehre geht. Hier ist ein wahres Kind, wahr im Lernen, wahr im Zunehmen: die Strahlen der höheren Natur erleuchten die menschliche Natur Christi nach dem Maße Seines kindlichen Wachstums. Aber so sehr vom Standpunkte Seiner Erniedrigung aus wir auch das Fragen und Antworten JEsu faßen, wir können doch nicht unbemerkt und unerwähnt laßen, daß sich die Lehrer über Seine Fragen und Antworten verwunderten. JEsus war nicht in einer Kinderschule, die Lehrer, welche Seine Antworten und Fragen bewunderten, waren nicht Kinderlehrer; es war ihr Geschäft nicht, Kinder zu unterrichten; es ist ein Ausnahmsfall, daß sie ein Kind unter sich dulden, ein Vergnügen finden, ihm zu antworten, daß sie in beidem keinen Zeitverlust erkennen, sich in ihren ernsten Betrachtungen und Gesprächen nicht aufgehalten fühlen, und das Tage lang. Es ist, recht bedacht, der Aufenthalt JEsu unter den Lehrern nichts Geringes, Seine Eltern haben sich, als sie Ihn fanden, darüber „entsetzt“, und ihre innere Bewegung wird jeden Falls noch vermehrt worden sein, als sie die Verwunderung der Lehrer wahrnahmen. Gleichwie durch des Feuers Berührung erkannt wird, wie brennbar ein Stoff, und durch Aufnahme des Lichtes, wie sonnenhaft ein Auge ist; so erkannte man an JEsu Zusammensein mit den Lehrern, was für ein Lehrer in Ihm heranreifte. Schon damals, in Seinem zwölften Jahre, saß der kindlichste der Schüler nicht zu Füßen der Lehrer, sondern mitten unter ihnen und wir erkennen in Ihm Israels aufgehende Sonne, einen geborenen König der Geister, des kindliches Reden ergraute Denker feßelt, einen wunderbaren Sprecher Gottes, der mit Seinem Ton ernsten Männern die Flucht der Zeit und das Leid des Lebens vergeßen machen kann. Was wird aus diesem Knaben werden, wie wird er lehren, wenn nun sein Leib und seine Seele zum Mannesalter herangereift sein werden! Was sind dagegen unsre armen sündigen Kinder! Und ach, was sind wir? Israels Lehrer horchen Tage lang dem Kinde JEsus zu und merken nicht, daß die Stunde verrinnt, und uns − uns langweilt manchmal die Rede des Mannes JEsus und unsre Augen können sich schläfrig schließen, wenn wir von Ihm, wenn wir Seine Worte hören?! −

 Mitten in der Offenbarung Seiner göttlich kindlichen Natur findet Ihn Maria und es ertönt in den entzückten Kreis der Lehrer hinein das unaufhaltsame Wort der besorgten Mutter: „Mein Sohn, warum hast Du uns das gethan?“ Kennt Er etwa diese Stimme nicht? Ist das nicht die mütterliche Jungfrau, deren Stimme Ihn hat reden lehren? Ists nicht die Mutter, die Ihn nach Aegypten und wieder zurück nach Nazareth getragen, die Ihn gehütet hat wie einen Augapfel? Die Ihn geliebt, die Er geliebt hat, die Ihn geliebt hat, wie keine andre Mutter lieben kann, die Er geliebt hat, wie kein anderer Sohn lieben kann? Er kennt und liebt sie wie sonst; aber über der Hoheit, die sich in JEsu Antwort ausspricht, vergißt man, nachzudenken, ob nicht eine Liebe, wenn auch nicht die gewöhnliche, nicht die eines gewöhnlichen Kindes, in Seinen Worten liegt. Es klingt so wunderbar ferne, wenn auf die annahende Frage der Mutter: „Warum“ die haarscharfe, schneidende Antwort: „Wißet ihr nicht,“ auf die schmerzenvollen Worte: „Wir haben Dich gesucht“ Sein „was ists, daß ihr Mich gesucht habet?“ auf die Rede „ich und Dein Vater“ das majestätische Wort kommt: „Ich muß sein in dem, das Meines Vaters ist.“ Da ist keine Reue, kein Zugeständnis eines Fehls, keine Unterordnung unter das Urtheil der Mutter, im Gegentheil eine feierliche Zurückweisung eines Vaters, der nicht Sein ist, der sich in Seinem und Seines wahren Vaters Hause Ihn betreffend den Vaternamen nicht beilegen darf. Ein Gefühl göttlicher Hoheit spricht aus Ihm, eine sichere Erkenntnis Seiner Abstammung, eine Gewisheit gibt sich kund, daß Er Sich nicht verlaufen, daß Er im Vaterhause geblieben, da Er im Tempel blieb, eine Gewisheit, daß Er dahin gehöre, da sein müße, ja daß Er allezeit, auch wenn Er nicht im Tempel, doch in dem sein müße, das Seines Vaters sei, in des Vaters Geschäften und in des Vaters Beruf. Völlig sicher, einfach, frank und frei fernt und entschwingt Er Sich den mütterlichen Armen und erweiset, wie Er, obwohl von einem Weib entsprungen, doch einen Flug vorhabe, den Ihn die Mutter nie gelehrt, den sie auch nicht verstand, wie die Schrift ausdrücklich bezeugt.

 Erhaben, weit erhaben ist dieß Kind über Maria und Joseph und alle Eltern und alle Kinder − und Seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingebornen Sohnes vom Vater, strahlt uns in die Seele, wenn wir dieß Evangelium betrachten. Und doch zeigt Er Sich dann wieder so demüthig gehorsam, daß nach

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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 071. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/82&oldid=- (Version vom 22.8.2016)