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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres

waren, finden wir keinen zwischen unsern Kindern und unserm HErrn, vielmehr heißt Dieser in unserm Texte noch als zwölfjähriger Knabe ausdrücklich ein Kind und Knabe. Ein Kind im Werden, ein fragend, forschend Kind war Er, das sehen wir alle. Bei einer ruhigen Erwägung deßen finden wir hierin Grundes genug, uns hoch zu verwundern, − aber auch leider Grundes genug, eine traurige Vergleichung unserer Kinder mit dem Knaben JEsu anzustellen. Auch unsere Kinder sind im Alter von zwölf Jahren noch im Werden, noch im kindlichen Alter; aber nehmen sie auch sonst noch in etwas zu als im Alter; nehmen sie zu in Weisheit und Gnade, im Wohlgefallen Gottes und der Menschen? Und kann man von ihnen nach Vollendung von zwölf Jahren noch sagen, was von JEsu gesagt wird; kann man sagen, sie seien Kinder? Christus war ein fragend Kind und Seine Fragen waren ohne Zweifel Seiner werth, aber eben so gewis waren es auch kindliche Fragen. Unsre Kinder fragen mit zwölf Jahren auch, aber wonach fragen sie? Wie oft und viel nach solchem, was ihrem Gesichtskreis noch lange entrückt sein sollte. Ihre Fragen selbst beweisen, daß sie bereits aufgehört haben, Kinder zu sein. Ach, es ist so traurig, Kinder für diese Welt so schnell reifen und in göttlichen Dingen immer mehr abnehmen zu sehen: man könnte darüber eine lange Klage erheben, wenn nicht dieses Vortrags Pflicht allen Klagen Einhalt thäte und zum Lobe Christi zurückriefe.

 Es muß, meine Freunde, eine außerordentliche Feierstunde gewesen sein, als das kindlichste der Kinder, der liebenswürdigste Knabe im Tempel unter den Lehrern stand und saß. Da werden erleuchtete Augen in Ihm den lieblichsten Anblick gefunden, aber sie werden sich nicht bloß der Lieblichkeit erfreut, sondern auch die Hoheit im Benehmen JEsu bewundert haben, und wer weiß, in wie vielen bei dem Anblick eine Ahnung der höheren Abkunft des Knaben erwachte. Dieser Anblick ist uns armen Spätlingen nicht vergönnt, aber wir können um so mehr einen Schluß auf die Wirkungen desselben machen, da schon die Erzählung unsers Evangeliums uns zur freudigsten Bewunderung und Anbetung hinreißen kann. Laßet mich versuchen die Spuren göttlicher Hoheit aus dem Benehmen des heiligen Knaben aufzuzeigen.

 JEsus blieb im Tempel, da Seine Eltern wieder heimzogen. Wir haben im Allgemeinen schon bemerkt, daß Er damit nicht gefehlt haben kann, weil Er überhaupt nicht fehlte. Sein Bleiben war also nicht Pflicht- und Selbstvergeßenheit, vielmehr können wir nicht anders denken, als daß es heiliger Entschluß gewesen ist. Er verweilte nicht bloß einige Stunden länger als Maria und Joseph, Er verweilte Tage und Nächte. Schon am Abend des ersten Tages mußte Er ohne die geliebten Eltern sein − und Er blieb doch noch länger. Er konnte um die Sorgen und Schmerzen Seiner Mutter wißen, Er wußte auch sicherlich darum und blieb doch − und fühlt Sich ermächtigt zu bleiben, ohne innern Vorwurf des Ungehorsams, ohne heimliche Trübung Seines Festaufenthalts, ohne daß Sein Geist durch die Erinnerung an das schmerzliche Suchen der Eltern in der Betrachtung und Besprechung himmlischer Dinge gestört wurde, und doch auch wieder, dafür bürgt Seine Art, ohne die mindeste Verletzung der Liebe. Was für ein Benehmen ist das von einem Kinde und was für ein Kind ist das? Soll man Sein Thun mehr harmlos oder mehr entschloßen, mehr dem eigenen, heiligen, hohen Geist und Zuge folgend oder mehr auf der Eltern Vollendung berechnet nennen? Gieng Er mehr nur einfach Seinen Gang, weil Er nicht anders konnte, oder beabsichtigte Er auch, durch so entschloßenes Walten die Eltern zu entwöhnen, ihnen die Kluft zwischen Sich und ihnen bemerklich zu machen, die rechte Ansicht von Seiner Person in ihnen zu erneuern, sie auf noch Größeres, Unerwarteteres vorzubereiten?! −

 Eine nicht geringere Verwunderung ergreift uns, wenn wir den Aufenthalt JEsu unter den Lehrern ins Auge faßen. Wir wollen einmal ganz darauf verzichten, Ihn als einen Lehrer der Lehrer darzustellen, wollen die Frage gar nicht aufwerfen, ob Er gefragt habe, um zu lehren. Wir wollen die Erzählung des Textes: „Er antwortete und fragte“ nur so, ganz so nehmen, wie es nach Begriffen, die aus der Betrachtung gewöhnlicher Menschenkinder stammen, für einen Knaben von zwölf Jahren paßt, daß Ihn die Lehrer gefragt und Er geantwortet, daß Er selbst nur gefragt habe, um belehrt zu werden. Es verträgt sich das ganz mit Seiner hohen Person, mit der Vereinigung Gottes und der Menschheit in Ihm. Hier ist ein wunderbares, aber seiner Bedeutung nach ernstes Spiel der Weisheit Gottes unter den Menschenkindern, einer Weisheit, die Mensch und Kind geworden, sich ihrer

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Wilhelm Löhe: Evangelien-Postille für die Sonn- und Festtage des Kirchenjahres. Samuel Gottlieb Liesching, Stuttgart 1859, Seite 070. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Wilhelm_L%C3%B6he_-_Evangelien-Postille_Aufl_3.pdf/81&oldid=- (Version vom 22.8.2016)