Textdaten
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Autor: Georg Edmund Lucas
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Titel: Die technischen Wissenschaften / Eisenbahnen
Untertitel:
aus: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Dritter Band, Zehntes Buch, S. 343–351
Herausgeber: Siegfried Körte, Friedrich Wilhelm von Loebell, Georg von Rheinbaben, Hans von Schwerin-Löwitz, Adolph Wagner
Auflage:
Entstehungsdatum: 1913
Erscheinungsdatum: 1914
Verlag: Reimar Hobbing
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Erscheinungsort: Berlin
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[1487]
II. Eisenbahnen
Von Geh. Hofrat Lucas, Professor an der Technischen Hochschule Dresden.


„Die Welt steht unter dem Zeichen des Verkehrs, er durchbricht die Schranken, welche die Völker trennen und knüpft unter den Nationen neue Beziehungen an.“ Dieses Kaiserwort an der Jahrhundertwende kennzeichnet auch heute noch auf das Treffendste die Aufgaben und Ziele unserer Zeit.

Als machtvollstes Glied aber der dem Verkehre dienenden großen neuzeitlichen Schöpfungen beseitigt heute vor allem die Eisenbahn in allen ihren Formen die Schranke der Entfernung, zeitigt sie durch die Näherrückung der ihrer wirtschaftlichen Kräfte sich bewußt werdenden Völker jenen Wettbewerb und jene großartigen wirtschaftlichen Wechselwirkungen, die unsere Zeit beherrschen.

Mit dem Anwachsen des Verkehrsbedürfnisses der Völker steigerten sich naturgemäß in gleichem Maße die Ansprüche, die Handel und Gewerbe an die Eisenbahnen stellten. Schnelligkeit und Massenhaftigkeit, Regelmäßigkeit und Häufigkeit, Wohlfeilheit und Sicherheit der Beförderung sind die sich nicht immer untereinander in Einklang befindenden Forderungen, deren möglichste Erfüllung heute das Streben jeder Eisenbahnverwaltung, insbesondere jedes Eisenbahnen besitzenden Staatswesens sein muß.

Entwicklung des Eisenbahnwesens.

Dieses unablässige Streben hat in den letzten verflossenen Jahrzehnten überall zu einer ungeahnten Entwickelung des Eisenbahnwesens geführt, in hervorragendem Maße auch im Deutschen Reiche, hier gefördert durch die Segnungen des Friedens, der unserem Vaterlande erhalten blieb, durch die klare Erkenntnis der leitenden Organe von der Wichtigkeit und Bedeutung der Eisenbahnen, durch den Fleiß, die Gewissenhaftigkeit und das Verantwortlichkeitsgefühl aller im Eisenbahnbetrieb Beschäftigten. So bildet das deutsche Eisenbahnwesen heute ein hervorragendes Beispiel deutscher Fähigkeit, Gründlichkeit, Wissenschaftlichkeit und Ausdauer.

Im Jahre 1888 waren die Hauptlinien des deutschen Eisenbahnnetzes in der Hauptsache bereits vorhanden, der Schwerpunkt der weiteren Entwickelung lag daher vor allem in der Anpassung der vorhandenen Eisenbahnen an den unablässig steigenden Verkehr, über dessen Zunahme die nachfolgenden Zahlen Aufschluß geben:

Anzahl 1888
Millionen
1913
(schätzungsweise)
Millionen
Steigerung
um etwa
%
der beförderten Personen 340 1800 430
der zurückgelegten Personenkilometer 9209 43000 370
der beförderten Gütertonnen 200 690 245
der gefahrenen Gütertonnenkilometer 20386 67600 230

[1488]

Erhöhung der Leistungsfähigkeit der Hauptbahnen

Wo die Anlage neuer Eisenbahnlinien in Frage kam, diente sie fast ausschließlich dem Verengern der Maschen des Hauptbahnnetzes durch Neben- und Kleinbahnen. In erster Linie aber standen die Maßnahmen zur Erhöhung der Leistungsfähigkeit der vorhandenen Hauptbahnlinien sowohl durch umfängliche bauliche Verbesserungen und Ergänzungen der Strecken- und der Bahnhofsanlagen als auch durch technische Vervollkommnungen der Betriebsmittel und Betriebseinrichtungen.

Neben- und Kleinbahnen.

9 Milliarden M. sind in den letzten 26 Jahren für die Eisenbahnen im Deutschen Reiche verausgabt worden; die Betriebslänge an vollspurigen Haupt- und Nebenbahnen ist von 40 400 km im Jahre 1888 auf etwa 63 000, einschließlich der nebenbahnähnlichen Kleinbahnen auf ungefähr 75 000 km im Jahre 1913 gestiegen. Die Dichte des deutschen Eisenbahnnetzes mit 134 km Bahnen auf 1000 qkm wird nur noch von Belgien mit 288 km auf 1000 qkm übertroffen. Vor allem ist in diesem Vierteljahrhundert der segensreiche Ausbau des deutschen Neben- und Kleinbahnnetzes bewirkt worden. Das Anlagekapital dieser Bahnen untergeordneten Ranges, die im Jahre 1888 nur in Anfängen vorhanden waren, beträgt gegenwärtig insgesamt etwa 1800 Millionen M. bei rund 16 000 km Bahnlänge.

Kolonialbahnen.

Eine ebenso lebhafte Entwicklung zeigen seit 1894 auch die deutschen Kolonialeisenbahnen, deren Bahnlänge jetzt das vierte Tausend Kilometer bereits erreicht hat.

Überall haben in den letztverflossenen 25 Jahren bei den Eisenbahnen, insbesondere aber auf deren technischen Gebieten, zahlreiche und umfassende Neuerungen und Vervollkommnungen zur Erreichung der notwendig gewordenen Steigerung der Leistungsfähigkeit Platz gegriffen. Nur einiger Hauptpunkte sei hier gedacht.

Geschwindigkeit der Züge.

Die Haupteisenbahnlinien Deutschlands waren im Jahre 1888 in den Elementen ihrer baulichen Anlagen, vor allem in den Steigungs- und Krümmungsverhältnissen für größte Geschwindigkeiten der verkehrenden Personenzüge von 60–80 km/Stunde bemessen. Der immer lebhafter auftretenden Forderung nach Abkürzung der Reisezeiten nachgebend, ist im Laufe der letzten Jahrzehnte die unter günstigen Streckenverhältnissen zulässige größte Geschwindigkeit der Züge bis auf 115 km/Stunde gesteigert worden, nachdem der sich stetig verbessernde Allgemeinzustand der Bahnen dies als angängig erscheinen ließ, und gleichzeitig wurde auch die obere Grenze der in der Regel zulässigen Geschwindigkeit der Personenzüge auf 90 km erhöht. Heute steht die durchschnittliche Reisegeschwindigkeit der deutschen Schnellzüge mit bis zu 88 km/Stunde hinter den auf ausländischen Bahnen zu beobachtenden Durchschnittsgeschwindigkeiten nicht mehr zurück.

[1489]

Bauliche Verbesserungen der Bahnanlagen.

Neben der entsprechenden Weiterbildung und Verbesserung der Motoren dienten zur Erreichung dieses Zieles und gleichzeitig auch zur Bewältigung des immer mehr anwachsenden Massenverkehrs die vielfach bewirkten baulichen Verbesserungen der Bahnanlagen durch Streckenabkürzungen, Linienänderungen und Umlegungen bestehender Bahnen, durch Vermehrung der Anzahl der Streckengleise in der Nähe der wichtigsten Knotenpunkte des Verkehrs – meist unter gleichzeitiger Trennung der Gütergleise von den Personengleisen, der Vorortgleise von den Ferngleisen –, durch den Umbau unzulänglich gewordener Bahnhofsanlagen, durch die Wegschaffung störender Richtungswechsel (Spitzkehren) an Unterwegsstationen, sowie durch die Beseitigung vorhandener Übergänge in Schienenhöhe. Immer mehr rang sich die Erkenntnis durch, daß es von einem gewissen Verkehrsumfang an vorteilhafter sei, größere Anlagekosten nicht zu scheuen, wenn damit angemessene Vorteile für eine schnelle Abwickelung des anwachsenden Verkehrs sowie für die Steigerung und Verbilligung der Betriebsleistungen erreicht werden können. Unter Festhaltung dieser Anschauung wurde bei der Durchführung dieser baulichen Verbesserungen die deutsche Eisenbahnbautechnik sowohl im Tunnel- wie auch im Brückenbau und im Bau eiserner Dächer vor neue große Aufgaben gestellt. Reichen auch die Leistungen Deutschlands im Tunnelbau in der Länge der Bauwerke nicht an die Herstellungen gleicher Art in den Hochgebirgen der Schweiz und Österreichs heran, so ist doch die Anzahl der in den letzten Jahren ausgeführten Tunnel eine erhebliche, und Tunnelausführungen, wie die bei Elm im Zuge der Linie Bebra-Frankfurt, überragen immerhin das Durchschnittsmaß solcher Bauwerke sowohl nach Länge – 3500 m – als auch nach der Schwierigkeit der Ausführung recht wesentlich. Vor Aufgaben ganz neuer und eigener Art aber, die in der glücklichsten Weise gelöst worden sind, fand sich die deutsche Tunnelbaukunst gestellt bei dem Bau der Untergrundstrecken in den beiden größten Städten des Reiches, in Berlin und Hamburg, in denen das Bahngleis bis zu 3 m in das Grundwasser eintaucht, das durch Absenkung während des Baues von den Baugruben und durch sorgfältige Dichtung der Sohle und der Mauerwerkskörper von dem fertigen Bahnkörper fernzuhalten war.

Brücken-und Hallenbau.

Ebenso ist der Brücken- und Hallenbau durch die fortschreitende Entwickelung der Eisenbahnen in hervorragendem Maße gefördert und befruchtet worden. Die gewaltigsten eisernen und gewölbten Brücken Deutschlands tragen Eisenbahngleise; die Talbrücke über das Wuppertal bei Müngsten (1897) – mit 180 m Spannweite und 107 m Höhe die größte Eisenbahnbrücke des europäischen Festlandes – die neuen Rheinbrücken bei Mainz (1905), Köln (1908) und Düsseldorf (1898) mit Spannweiten der größten Öffnungen von 157, 160 und 181 m, die Donaubrücke bei Passau (1904) mit Öffnungen von 110 m und viele andere legen im Verein mit den großen Hallenbauten der Bahnhöfe in Hamburg (72 m Stützweite), Köln (63,9), Dresden (59), Frankfurt a. M. (55,9) und in vielen anderen Städten Zeugnis ab von dem gewaltigen Aufschwung im [1490] Bau eiserner Bauwerke; ebenso bekunden die großen süddeutschen Wölbbrücken, z.B. die Gutachbrücke im Schwarzwald, und die Illerbrücke bei Kempten (65 m Stützweite) usf., wesentliche Fortschritte im Bau steinerner Brücken. Schwierigkeiten besonderer Art waren auch in den zahlreichen Fällen zu überwinden, in denen das mit den geforderten Verkehrsleistungen ebenfalls unablässig steigende Achs- und Gesamtgewicht der Lokomotiven zum Umbau schadhaft gewordener Wölbbrücken oder zur Auswechselung älterer, für die neuen Lasten zu schwacher Eisenbrücken unter Aufrechterhaltung des Betriebes, also im letztern Falle zumeist zur Einschaltung neuer Träger, oftmals beträchtlicher Spanne weiten, innerhalb weniger Stunden zwang.

Gleis-Oberbau.

Dieses stetige Anwachsen der Achsdrücke der Lokomotiven – 1888 größtes Gesamtgewicht etwa 45, größter Raddruck 6 bis 7 t, 1913 größtes Gesamtgewicht ungefähr 80, größter Achsdruck 8, in Ausnahmefällen selbst 9 bis 10 t – hat naturgemäß, ebenso wie die Steigerung der Zugsgeschwindigkeiten, wesentlichsten Einfluß auch auf die Weiterbildung und Ausgestaltung der eisernen Spurbahn – des Gleisoberbaues gehabt, die den unablässig Tag und Nacht rollenden Zügen stets einen widerstandsfähigen Weg bieten muß. Den wachsenden Beanspruchungen erwies sich das Langschwellengleis, das 1888 unter 68 500 km gesamten Gleislängen der Haupt- und Nebeneisenbahnen Deutschlands noch mit 5850 km vertreten war, nirgends mehr gewachsen, es ist heute bis auf wenige Anwendungen unter besonderen Verhältnissen verschwunden. Die Gleise sind jetzt ausschließlich durch Querschwellen gestützt und aus Breitfußschienen gebildet, bei deren Formgebung neben den gesammelten Erfahrungen auch die inzwischen wesentlich gestiegene Vervollkommnung der Schienenerzeugung von erheblichem Einfluß gewesen ist. Während im Jahre 1888 das Streckenhauptgleis der meistbefahrenen deutschen Bahnen Schienen von etwa 36 kg/m Gewicht und nur selten über 7,5 m Länge auf Querschwellen von 2,3–2,5 m Länge, meist noch in Kiesbettung, aufwies, zeigt heute ein solches Gleis Schienen von 45–50 kg/m Gewicht und 12–15 m Länge auf 2,7 m langen Schwellen in Steinschlagbettung. Alle Gleisteile und deren Verbindungen sind heute in ihren Einzelheiten der fortgeschrittenen Erkenntnis von den am Gleise wirksamen Kräften entsprechend und derart ausgebildet, daß sowohl die lotrechten Drücke nach und nach in dem erforderlichen Maße so weit verteilt und hierbei verringert werden, daß die Erdmassen der Dämme und Einschnitte diesen Druckwirkungen der Betriebsmittel zu widerstehen vermögen, als auch die oftmals erheblichen wagerechten Kräfte von den Gleisteilen ohne Schaden aufgenommen werden können. Vor allem hat sich in den letzten Jahrzehnten der schwächste Punkt der Gleise, die Laschenverbindung, größter Aufmerksamkeit und anerkennenswerter Fortschritte zu erfreuen gehabt. Zahllos sind die verschiedenen Vorschläge zur Kräftigung dieser höchstbeanspruchten Stellen und wenn auch das Ziel, ihnen dieselbe Widerstandsfähigkeit zu verleihen, welche die Schiene in ihren mittleren Querschnitten besitzt, zurzeit noch nicht vollständig erreicht werden konnte, so sind doch die Fortschritte in dieser Richtung sehr anerkennenswerte, und es ist die Hoffnung nicht unberechtigt, daß in Zukunft ein nahezu stoßfreies Gleis die ideale Bahn für die verkehrenden Züge bilden wird. Dabei ist die Frage nach [1491] der größeren Zweckmäßigkeit der eisernen, hölzernen oder der aus Eisenbeton gebildeten Querschwellen heute weniger nach technischen Rücksichten auf die Sicherheit des Gleises zu entscheiden, das sich mit Schwellen aller genannten Baustoffe genügend widerstandsfähig herstellen läßt, als vielmehr nach Rücksichten der Wirtschaftlichkeit, welche je nach den örtlichen Verhältnissen sehr verschieden sein können, so daß diese Frage von den einzelnen deutschen Eisenbahnverwaltungen auch sehr verschieden beantwortet wird. Während einige ausschließlich getränkte Holzschwellen verwenden, sind andere, z. B. Baden, zur alleinigen Anordnung flußeiserner Querschwellen übergegangen. Die Eisenbetonschwelle steht überall erst im Anfang ihrer Einführung.

Bahnhöfe.

Die gleiche Sorgfalt wie dem Fundament des Eisenbahnwesens, dem Gleise, mußte in den letzten Jahrzehnten auch den Bahnhöfen gewidmet werden, deren Anzahl in 25 Jahren von 6400 auf etwa 13906 gestiegen ist. Der steigende Verkehr drängte gerade hier zu den größten Aufwendungen, um seinen Anforderungen gerecht werden zu können. Hunderte von Millionen sind für Um- und Erweiterungsbauten, sowie für Neuanlagen von Personen-, Güter-, Verschiebe- und Werkstättenbahnhöfen aufgewendet worden, bei deren Ausgestaltung neben den Rücksichten, die auf Zweckmäßigkeit, schnelle Abwickelung sowie Sicherheit des Betriebes und des Verkehrs genommen werden mußten, auch die Forderungen der Ästhetik und der heimatlichen Bauweise von Jahr zu Jahr in höherem Maße Berücksichtigung fanden. Nicht leicht ist es gewesen, in der notwendigen Weise hier Schritt zu halten mit dem Verkehrswachstum, aber es ist unter Anspannung aller Kräfte gelungen. Wohl kein anderes Land Europas hat heute Personenbahnhöfe aufzuweisen, die in so weitgehendem Maße den zu stellenden Anforderungen Genüge leisten wie in Deutschland und wohl nirgends sonst erstreckt sich die Fürsorge der Verwaltung in gleicher Weise nicht nur auf die Bahnhöfe der großen Städte, sondern auch auf die Bahnhofshochbauten und Personenverkehrsanlagen der mittleren und kleineren Orte. Leichte Übersichtlichkeit der Anlage, Geräumigkeit, schienenfreie Zugänge zu den Bahnsteigen, Schutz der wartenden Reisenden gegen die Witterung, Trennung der Verkehrsströme, gute Beleuchtung – auf größeren Bahnhöfen meist elektrisch –, ein der Umgebung angepaßtes Äußere des Bauwerks sind die Hauptgrundsätze, die heute bei der Ausführung deutscher Personenbahnhöfe beachtet werden, während im Güterverkehr, der meist von dem Personenverkehr völlig getrennt behandelt wird, das Streben nach möglichster Beschleunigung des Wagenumlaufes und möglichster Verbilligung des Verschiebegeschäftes in immer steigendem Maße zur Ausnutzung der Schwerkraft, zum Verschieben durch Anlage geneigter Ablaufberge, nach Befinden mit vorhergehender Gegenneigung (Eselsrücken), geführt hat. Auch im Güterverkehrswesen ist es, ungeachtet der an einzelnen Punkten des Bahnnetzes, vor allem im rheinisch-westfälischen Industriegebiet, alle Vorhersage weit übersteigenden Verkehrserhöhungen, und wenn auch nur unter den größten Anstrengungen erreicht worden, daß Verkehrsstockungen größerer Dauer vermieden werden konnten, wenn auch kürzere Störungen bei dem Zusammentreffen ungünstiger Verhältnisse nicht immer zu umgehen gewesen sind.

[1492]

Fahrbetriebsmittel.

Naturgemäß war diese dem steigenden Verkehr sich anpassende Steigerung der Leistungsfähigkeit der Eisenbahnen nicht allein das Verdienst zweckmäßiger bautechnischer Anlagen, sondern, wie bereits hervorgehoben, vor allem auch ermöglicht durch die rechtzeitige Vermehrung und Verbesserung der Motore und Fahrbetriebsmittel, deren zahlenmäßiges Anwachsen seit 1888 die nachfolgende Zusammenstellung zeigt.

Lokomotiven Personenwagen Postwagen Gepäckwagen Güterwagen
bedeckte offene
Bestand
im Jahre
1888 13105 24383 1604 6045 77189 172612
1913 29000 60000 2880 18000 175000 435000
(schätzungsweise)
Zunahme in % etwa 120 150 80 200 130 150

Bei den Lokomotiven ging mit der Erhöhung der Anzahl eine wesentliche Steigerung ihrer Leistungsfähigkeit Hand in Hand. Dampflokomotiven von 1500 Pferdestärken und mehr sind heute keine Seltenheit auf deutschen Bahnen. Erreicht wurde diese Leistungsvermehrung durch Vergrößerung der Heizfläche und des Kessels, durch Verwendung überhitzten Dampfes, durch bessere Dampfausnutzung infolge von Spannungserhöhung im Dampfraum, durch Einführung und Ausbildung der Verbund-Anordnung (Hoch- und Niederdruck-Dampfzylinder), sowie durch Verminderung der Bewegungswiderstände, insbesondere bei dem Durchfahren von Bögen, mittels drehbarer Achsgestelle. Schlepptender mit bis zu 30 cbm Wasserinhalt sorgen heute dafür, daß große Strecken – über 200 km – ohne Anhalten durchfahren werden können, durchgehende Bremsen verschiedener Bauweise – meist nach Westinghouse, Schleifer, Knorr oder Heberlein – finden sich zur Erhöhung der Sicherheit gegen Unfälle an allen Personenzügen, selbst an denen schmalspuriger Nebenbahnen. Im Bau der Personenwagen gab eine starke Anregung die 1892 erfolgte Einführung der D-Züge, die jetzt ausschließlich aus vierachsigen, auf Drehgestellen ruhenden und mit allen Bequemlichkeiten ausgestatteten Durchgangswagen mit Faltenbalgverbindungen zusammengesetzt sind, während die früher allein herrschenden Abteilwagen, ebenfalls entsprechend den Anforderungen der Neuzeit angepaßt, zweckmäßig in dem Vorortverkehr großer Städte verwendet werden, da ihre Entleerung und Neubesetzung bei starkem Verkehr in kürzerer Zeit erfolgt als die der Wagen anderer Grundrißanordnung. An Stelle der 1888 noch sehr verbreiteten Preßkohlen- und Wärmflaschenheizung ist für Wagen des Fernverkehrs die von der Lokomotive aus gespeiste Dampfheizung, an Stelle der Ölbeleuchtung das Fettgas, Azethylengas oder das elektrische Licht getreten. Die Vergrößerung der Sitzplatzflächen, die Anordnung von Aborten und Waschgelegenheiten, von Lüftungsvorrichtungen und großen Fenstern, sowie die Einreihung von Speise- und Schlafwagen sowie zahlreicher Kurswagen in die weiter gehenden Fernzüge ermöglichen es heute in weit höherem Maße als vor 25 Jahren, lange Strecken in ununterbrochener Folge ohne Unbequemlichkeiten zurückzulegen.

[1493] Im Bau der Güterwagen tritt das Bestreben hervor, Trag- und Ladefähigkeit gegen früher zu vergrößern und mehr als sonst zahlreiche Sonderwagen verschiedenster Art für bestimmte Güter, z. B. Milch, Obst, Fische, Bier u. dgl. bereitzustellen. Auch Einrichtungen zum raschen Entladen von Massengütern ohne größere Handarbeit (Selbstentlader, Talbotwagen) finden sich bei steigenden Löhnen immer häufiger. –

Sicherung- und Signalanlagen.

Große Intelligenz, rastlosen Strebens und unermüdlicher Arbeit seitens aller Beteiligten hat es in den hinter uns liegenden 25 Jahren bedurft, um die schwierige Aufgabe zu lösen, ungeachtet der steigenden Massenhaftigkeit und Dichte des Verkehrs, sowie der wachsenden Geschwindigkeiten, die das Gefahrenmaß der verkehrenden Züge erheblich vergrößerten, doch die Sicherheit der verkehrenden Züge unbedingt zu gewährleisten und die Sicherungs- und Signalanlagen der Eisenbahnen so weit zu entwickeln, daß dieses Ziel erreicht wurde. Dem Zusammenwirken der Eisenbahnverwaltungen mit den Spezialfirmen der Industrie ist es gelungen, auf diesem Gebiete Hervorragendes zu schaffen. Die Zahl der Betriebsunfälle ist in der Zeit von 1900 bis 1909 von 73 bis 52 auf je 10 Millionen Zugkilometer, die Zahl der verunglückten Personen von 69 auf 49, der verunglückten Reisenden von 8 bis 5 auf je 10 Millionen beförderte Personen gesunken. In diesen Zahlen der Reisesicherheit steht Deutschland heute unerreicht da. Diesen Erfolg verdankt es in der Hauptsache der jetzt unbedingten Herrschaft der Raumfolge der Züge, bei der sich in dem Zwischenräume zwischen zwei Blockstationen nie zwei Züge auf demselben Gleise befinden dürfen, die auf seinen Betriebsgleisen an Stelle der früher üblichen nur durch den Fahrplan festgelegten Zeitfolge getreten ist. Kein Zug darf von einer Station abgelassen werden, wenn nicht vorher festgestellt ist, daß der voraufgegangene Zug sich unter der Deckung der nächsten Station befindet. Ferner ist von wesentlichem Einfluß gewesen die Einführung der elektrischen Streckenblockung, die weitgehende Ausnutzung des Fernschreibers und des Fernsprechers im Sicherungs- und Meldedienst der Züge, der weitere, durch die größeren Zugsgeschwindigkeiten bedingte Ausbau der Signaleinrichtungen durch Zufügung der Vorsignale, die dem Lokomotivführer auch bei unsichtigem Wetter in genügender Entfernung (Bremsweglänge) Aufschluß über die Stellung des Hauptsignales geben, sowie endlich die Zusammenfassung der Signale und Weichen auf Bahnhöfen in Stellwerken, in denen diese für die Sicherheit des Zugbetriebes so wichtigen Teile derart miteinander in Abhängigkeit stehen, daß sämtliche für einen Zugslauf nötigen oder Gefahren von ihm abweisenden Weichen erst richtig gestellt sein müssen, ehe das Signal zur Benutzung dieser Fahrstraße auf freie Fahrt gestellt werden kann, und andererseits durch das Freigeben des Signals alle vorbezeichneten Weichen so festgelegt werden, daß sie nicht umgestellt werden können, solange das Signalbild „Freie Fahrt“ zeigt. Die hierdurch gewonnene Abhängigkeit der Weichen und Signale voneinander und deren Festlegung von einer für die Betriebssicherheit verantwortlichen Stelle, dem Fahrdienstleiter, aus, ist auf allen Hauptlinien zur Durchführung gelangt. Zur Festlegung wird fast stets elektromagnetischer Schwachstrom benutzt, während [1494] das Stellen selbst meist noch von Hand geschieht und bisher nur in wenigen Fällen unter Zuhilfenahme stärkerer elektrischer Ströme unter Einschaltung kleiner Elektromotoren an jeder Arbeitsstelle bewirkt wird.

Elektrische Kraft im Eisenbahnwesen.

Die ausgedehnteste Verwendung elektrischer Kraft im Eisenbahnwesen aber brachte das letzte Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts durch die Einführung der Elektrizität als Triebkraft. Anschließend an die erste Vorführung einer elektrisch betriebenen Eisenbahn durch Werner von Siemens auf der Berliner Gewerbeausstellung im Jahre 1879 hat sich der Elektromotor unbestritten das Gebiet der städtischen Straßenbahnen ebenso wie das der städtischen Schnellbahnen erobert, s. Abschnitt VI Städtebau. Von 1895 bis 1910 ist in Deutschland die Gesamtlänge der elektrischen Straßenbahnen von 406 auf 4180 km, das in ihnen angelegte Kapital von 100 Millionen auf 1 Milliarde Mark gestiegen, Länge und Anlagekapital haben sich also verzehnfacht. Eine ebensolche Entwicklung wird das Verwendungsgebiet der elektrischen Triebkraft zweifellos im Stadt- und Vorortverkehr der Hauptbahnen erfahren, der sich aus einem in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts noch wenig beachteten und wenig gewürdigten Anhängsel des Fernverkehrs rasch zu einem in wirtschaftlicher und sozialer Beziehung wesentlichen Faktor ausgewachsen hat, um dem Bedürfnis der großen Städte nach ferner liegenden gesunden und billigen Wohnvierteln genügen zu können. So werden z. B. von allen Personenfahrten Sachsens 20% allein im Dresdner Vorortverkehr, von allen Personenfahrten der Preußisch-Hessischen Eisenbahngemeinschaft sogar 30% lediglich im Berliner Stadt-, Ring- und Vorortverkehr zurückgelegt. Hier wie auch im Betrieb der städtischen Hoch- und Untergrundbahnen kommt es vor allem darauf an, die Zugfolge zu verdichten und die Reisegeschwindigkeit – diese namentlich durch möglichst schnelles Anfahren und Anhalten – zu erhöhen. In beiden Richtungen vermag der Betrieb mit Dampflokomotiven eine gewisse Grenze nicht zu überschreiten, die an vielen Stellen zwar noch nicht erreicht ist, der man sich aber an einzelnen, z. B. an der Berliner Stadt-, Ring- und Vorortbahn, so bedenklich genähert hat, daß hier die Einführung elektrischer Triebkraft unmittelbar bevorsteht, nachdem die Versuche, die mehrfach an einzelnen Vorortstrecken angestellt worden sind, an der technischen Durchführbarkeit keinen Zweifel gelassen haben. Ebenso sicher ist es, wie die Versuchsbetriebe der Preußischen Staatsbahn bei Bitterfeld ergeben haben, daß die elektrische Triebkraft im Fernbetrieb der Vollbahnen auf technische Bedenken und Hindernisse nicht stoßen würde, daß vielmehr die Frage dieser Einführung zurzeit kaum noch eine technische, sondern lediglich eine solche wirtschaftlicher, vielleicht auch militärischer Natur ist. Zur unerläßlichen Vorbedingung aber wird die Verwendung elektrischer Triebkraft dann, wenn im Fernpersonenverkehr Geschwindigkeiten erreicht werden sollen, die über das von der Dampflokomotive erreichbare, aus wirtschaftlichen Gründen zurzeit bei etwa 120–130 km/Stunde liegende Maß hinausgehen, wenn Fern-Schnellbahnen zur Ausführung gelangen, mit der bei den Studienfahrten auf der Strecke Marienfelde-Zossen im Herbst 1903 erreichten Höchstgeschwindigkeit von 210 km/Stunde. Der elektrische Betrieb wird seinem [1495] ganzen Wesen nach stets die geeignetste Betriebsart für Eisenbahnbetriebe mit großer Dichtheit der Zugsläufe sein, doch setzt er andererseits wegen der hohen festen Kosten, die er verursacht, auch stets einen hohen Grad dieser Betriebsdichtheit voraus, wenn ein wirtschaftlicher Erfolg erzielt werden soll.

Nicht ausgeschlossen erscheint es, daß in der Zukunft die Wünsche nach der Anlage solcher elektrischer Schnellbahnen zwischen benachbarten, in besonders reger geistiger und wirtschaftlicher Wechselwirkung stehenden Schwesterstädten ihrer Verwirklichung entgegengehen werden, nach Bahnen, auf denen – nach dem Vorbilde von Köln-Bonn – die Züge in kurzen Abständen nach starrem Fahrplan und mit Geschwindigkeiten verkehren, die den Durchschnitt unserer heutigen Fahrgeschwindigkeiten vermutlich nennenswert übersteigen werden.

Pflichttreue des Elsenbahnpersonals.

Mag ein solches Zukunftsbild sich nun in kürzerer oder längerer Frist verwirklichen, als feststehend kann heute schon erachtet werden, daß das Eisenbahnwesen Deutschlands, welches in den letzten Jahrzehnten den Anforderungen des sprunghaft steigenden Verkehrs durch gewaltige Steigerungen seiner Leistungen zu genügen vermocht hat, auch in der Zukunft seine Aufgaben ebenso vorbildlich erfüllen und seine führende Stellung in den europäischen Staaten auch ferner behaupten wird, als Ergebnis der Entwickelung der deutschen industriellen Kräfte, sowie der Pflichttreue seines Personals. Wohl kaum in einem anderen Berufe werden an die körperlichen und geistigen Eigenschaften des Einzelnen so harte Anforderungen gestellt wie in dem Dienste der Eisenbahnen. Pünktlichkeit, Gewissenhaftigkeit, Disziplin und Verantwortlichkeitsgefühl müssen hier von jedem Angestellten und von jedem Arbeiter – zurzeit etwa 600 000 Personen – verlangt werden. In Erkenntnis dessen haben die deutschen Eisenbahnverwaltungen es nicht versäumt, die Liebe zum Beruf und den Geist der Zufriedenheit in dem unterstellten Personal durch umfassende Maßregeln der Fürsorge und Wohlfahrtspflege zu fördern, welche anknüpfend an die Kaiserlichen Botschaften vom Jahre 1888 und an die soziale Gesetzgebung des Deutschen Reiches, aber weit über das hierdurch vorgeschriebene Mindestmaß hinausgehend, die Tätigkeit der Eisenbahnverwaltungen seit jener Zeit in stetig steigendem Maße in Anspruch genommen haben. Der angestrebte Erfolg hat diesen Bestrebungen bisher nicht gefehlt und wird ihnen sicherlich auch fernerhin zum Segen des Ganzen nicht fehlen.