Drei Erzählungen
von Rafael Patkanjan
Der verödete Hof
{{{ANMERKUNG}}}
  Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

[1] 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000


I.
Mein Nachbar.
(Dirazins.)



000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000

000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000 000

[3] „Guten Abend, Nachbar!“

„Glück bringe uns unsre Begegnung, Herr Mekr! wohin gehst du denn?“

„Ich gehe nirgendshin; in der Stube ist es heiss wie im Backofen! Sitzt man ein Bissel, erschlafft man ganz und gar; legt man sich, da kommt der Schlaf nicht, man schwitzt und dann diese Hundstagsfliegen, die sind unerträglich. Sie überfallen einen schwarmweise und beissen so, dass einem Hören und Sehen vergeht. Da dachte ich bei mir, „ich will etwas zum Nachbar gehen und mit ihm plaudern.“ Ach, Bruder, dieser Sommer ist mir schon überdrüssig geworden, es wäre Zeit, dass der Herbst käme, um zu wissen, ob … Was giebt es denn neues?“

„Ich habe nichts gehört … Nun, giebt es denn etwas? …“

„Nein, ich habe nur so gefragt, ich dachte, vielleicht weisst du etwas, denn du liest ja [4] die Zeitungen. Haben sich die Franzosen und Deutschen wieder mit einander ausgesöhnt?“

„Haha, schon längst. Jetzt zerbricht sich der Franzose den Kopf, wie er die Strafe für seinen Streit bezahlen soll.“

„Ja? Ach, das ist dem Kerl ganz recht! Mag er ein anderes Mal nicht die Hosen ausziehen, bevor er nicht ans Wasser kommt … Nun, hast du Briefe von deinem Vater und deinen Brüdern bekommen? Wie geht es ihnen?“

„Ich habe schon lange keinen Brief gehabt.“

„Ach, was wollte ich denn sagen! Für wen haben sie denn heute die Sterbeglocke geläutet?“

„Hat man denn die Sterbeglocke geläutet? Ich habe wirklich nichts gehört.“

„Ja, ja, sie haben geläutet, und nicht ein Mal, sondern zwei, drei Mal. An den Schlägen des Glöckners hörte man, dass der Verstorbene ein Reicher sein muss. Er schlug deutlich, kräftig und langsam an, doch ich habe nicht aufgepasst, ob das Läuten für eine Frau oder einen Mann war. Du weisst doch, dass man nach hiesiger Sitte einem verstorbenen Manne zuerst mit der grossen und dann mit der kleinen Glocke läutet, einer Frau aber zuerst mit der kleinen und dann mit der grossen. Als [5] meine Alte hinausging, sagte sie, der Verstorbene wäre ein Mann. Aber sie hatten schon mehrere Male angeschlagen und so konnten wir nicht erkennen, ob eine Frau oder ein Mann gestorben ist. Übrigens mag es sein, wer es will, Gott mache ihn selig! Ich zerbreche mir fast den Kopf darüber und kann es nicht erfahren. Und am Fenster ist auch niemand vorüber gegangen, den ich fragen konnte. Ich habe schon an einen gedacht, aber der konnte nicht so schwer krank sein! Ich glaube, meine Alte hat dasselbe gesagt. Ach, mag es sein, wer es will, Gott habe ihn selig! … Ja, mit unserer Stadt geht es bergab! Wenn in früheren Jahren monatlich ein Todesfall vorkam, da geriet die ganze Stadt in Aufregung. Wenn nur ein Kind starb, fielen wir gleich über die Eltern her und machten ihnen Vorwürfe, dass sie den armen Schlucker nicht gut gepflegt hätten, dass sie ihn zu sehr angestrengt und dadurch krank gemacht hätten, dass sie ihn einem bösen Blicke ausgesetzt und vor Hexen nicht bewahrt hätten. Ach, was haben wir nicht alles noch gemacht und gethan, um die andern Eltern zur Vorsicht anzutreiben. Und wirklich, in jenen Zeiten starben die Leute selten. Und jetzt, ach, jetzt ist es aus mit dem Liede. Jetzt giebt es an [6] jedem Tage zwei Verstorbene, geschweige denn in einer Woche. Der Verstand reicht nicht hin, um das zu verstehen. Kommt es vielleicht davon, dass jetzt die Menschen die alten Sitten der Väter verwerfen, oder sind die Ärzte ungeschickter, oder hat sich die Welt umgedreht, oder hat die Erde und das Wasser nicht mehr die frühere Kraft! … Ja, Bruder, das ist doch keine Lüge. In den ersten Jahren nach unserer Hierherkunft aus der Krim,[1] erzählten unsere alten Leute (ich bin ja auch nicht mehr sehr jung; wenn es Gott zulässt, vollende ich in der nächsten Fastenzeit mein 79. Lebensjahr), wir haben es sogar mit eigenen Augen gesehen! Ja, Gott sei mir gnädig! solche starke Fröste, solche Schneegestöber und so tiefen Schnee gab es in früheren Jahren nicht. Die letzte Kälte war immer in der Faschingszeit; da fuhren die jungen Leute auf Fischerschlitten durch die Strassen, der Frost zwickte etwas in die Backen und die Geschichte war zu Ende. Sobald die grossen Fasten kamen, fing der Schnee zu schmelzen an und das Wetter wurde gelinde. Es war damals keine Seltenheit, dass [7] am Palmensonntage die Weiden schon Blätter hatten. Suche das jetzt! Jetzt schlagen die Bäume kaum in der Mitte des Maimondes aus.

„Auch die Früchte sind jetzt nicht mehr dieselben wie früher … giebt es denn überhaupt noch Gärten in der Stadt? Manche sind bis in die Wurzel vertrocknet und zu Grunde gegangen, die haben die Würmer zerstört und jene hat der Frost gefressen … Auch das Gras ist nicht mehr dasselbe wie früher. Wo sind jetzt die duftigen Kräuter und Blumen von ehemals! In unserer alten guten Zeit war es Sitte, dass man sich im Maimonde ins frische Gras legte und das befreite einen von allen Krankheiten und Geschwüren. Jetzt giebt es jenes Gras nicht mehr und auch nicht jene Menschen, die sich ins Gras legten. Ach, weisst du, Junge, mit den Armeniern ist es aus! Doch, was wollte ich denn sagen! Ja, ich glaube, ich habe gehört, dass ihr einen Obstgarten anlegen wollet. Das ist eine gute Absicht, Gott gebe das Gedeihen. Unsere Vorfahren sagten, der Herrgott habe die Gärten sehr gern. Ja, was Gärten und Saaten anbetrifft, da ist unser Herrgott sehr aufmerksam, er giebt ihnen immer reichlich Wasser und Wärme. Gebe er, dass auch in deinem Garten die Frucht kein Ende nehme! Es ist [8] eine gute Sache, so am Hofe einen Obstgarten zu haben … Aber weisst du, pflanze in deinem Hofe keine Weiden. Mag es wahr sein oder nicht, aber von unsern Vätern und Grossvätern habe ich gehört, dass, sobald die Weide so dick wird wie der Hals dessen, der sie gepflanzt hat, da wirft den eine Krankheit nieder und er stirbt. Ja, ja, das hat man schon oft bemerkt.

„Ich habe auch noch gehört, dass Euer Wohlgeboren Geflügel gern habet! Das ist auch nicht schlecht, doch nimm mirs nicht übel, ich will dir ja keine Lehre geben; hüte dich Tauben zu ziehen! Deine Kinder (Gott bewahre sie davor!) würden ganz ungezogen werden, denn siehst du, den ganzen Tag würden sie den Tauben nachlaufen, sich auf der Strasse herumtreiben, sich mit Gassenbuben einlassen, Steine auf die Nachbardächer werfen und zuletzt die Lust zum Lernen verlieren. Allerdings weiss Euer Wohlgeboren das besser als ich, nun, ja! Sagt mir doch, wie ist es gekommen, dass ihr den Garten und das Geflügel beisammen haben wollt, ich glaube, die zwei Dinge vertragen sich nicht mit einander. Nun allerdings, das ist eure Sache. Das Vogelgeschlecht ist ein schrecklicher Feind der Saaten. Die Truthühner lieben nichts mehr als auf den [9] Bäumen herum zu flattern und die Knospen abzuzwicken und die Gans – wo die hinmacht, da wächst drei Jahre hinter einander kein Grashalm. Übrigens mach’s wie du denkst! Man muss entweder zum einen oder zum andern Lust haben. Meinst du denn, dass sich beides mit einander vertrüge?

„Ich glaube nicht. Wenn du den Hühnerstall zumachst und die Viecher einsperrst, da werden sie wieder alle lausig. Das weiss ich ganz genau. Die Gartenliebhaberei ist ganz hübsch. Als unsere Väter aus der Krim hierher kamen, da waren sie gründliche Freunde der Gärtnerei. Vom Basar wurde nur selten Gemüse oder Obst ins Haus genommen. Apfel, Birnen, Kirschen, Pflaumen, Aprikosen, Stachelbeeren, Gurken, Petersilie, Radieschen, Melanganen, Kürbisse zum Dolma (eine Art Sauce), Zwiebeln, Knoblauch und verschiedene andere Sorten Gemüse, wie z. B. Bohnen, das kam alles aus eigener Wirtschaft. Ich erinnere mich noch wie heute, wie meine selige Mutter alle Wintervorräte aus der eigenen Wirtschaft bestritt. Wir hatten ein ganz hübsches Gärtchen und sie grub, säete, pflanzte und begoss alles mit eigener Hand. Auch das Gemüse und das Obst pflückte sie mit eigener Hand und salzte ganze Tonnen voll Gurken und [10] Melanganen für den Winter ein. Und was für eine Menge Backobst, Zwiebeln, Knoblauch! In ihrer Vorratskammer und im Keller sah es wirklich wie in einem Viktualienladen aus. Auf dem Basar wurde nur selten etwas gekauft. Wir hatten eine Kuh, nur eine, aber wer hätte damals Milch, Sahne, Käse und Butter gekauft! Es gab alles in Hülle und Fülle. Es sind nun schon fünf und zwanzig Jahre, dass das alles aufgehört hat. Unsere jetzigen Weiber sitzen den ganzen lieben Tag am Fenster oder vor dem Thore und knaubern etwas oder beklatschen die Nachbarschaft.

„Obstgärten und Bäume sind aus unserer Stadt ganz verschwunden, aber dafür haben sich Krankheiten und Gebrechen, besonders unter den Kindern vermehrt. Ja, ja, das haben schon viele beobachtet, ja, ja! Früher gab es in unserer Stadt keine so grossen Häuser aus Stein und Ziegeln mit eisernen Dächern, aber es gab auch nicht so viel zerfallene Häuser und verlassene Höfe. Früher, wenn der Maimond kam, da verwandelte sich die ganze Stadt in einen grossen Blumenkorb, weit und breit war die Luft erfüllt vom Dufte der Rosen, Lilien, Nelken und Kornblumen. Tausend verschiedene Vogelarten nisteten auf den Bäumen, die Nachtigallen sangen und wenn du früh [11] morgens aufstandst und in den Garten gingst, da wurde dir so wohl ums Herz, wie beim Betreten der Kirche. Ja, ja, guter Freund, das ist alles hin und kommt nicht mehr zurück. Das neue Geschlecht ist dem alten nicht gewogen, die Jungen haben nichts gutes gelernt und das alte vergessen. Aus der Ferne kamen verschiedene fremde Leute, ein ganz fremdes Gesindel kam wie von einem ungünstigen Winde hierher geweht; sie haben die Stadt vom Boden aus umgedreht, dass auch die Spur des alten verschwunden ist. Unser schönes, heimliches Nachitschewan von früher ist dahin. Ach, Bruder, du hättest unser Nachitschewan so vor fünfzig, sechzig Jahren sehen sollen! O damals sah es anders aus! Was ist jetzt davon geblieben? Die Menschen sind nicht mehr dieselben, auch die Häuser und das Leben ist anders geworden, auch das Wasser und die Erde, und wenn ich sage, dass auch das Wetter nicht mehr dasselbe ist, lüge ich wahrlich nicht!

„In früheren Zeiten gab es auch, glaube ich, weniger Arten von Krankheiten, ja es gab nicht so viel. Die Schwindsucht war eine Seltenheit; von Tausend starb einer daran. Und jetzt? Giebt es jetzt ein Haus, in dem nicht ein oder zwei Schwindsüchtige wären? [12] In unseren Zeiten war von der Cholera gar nichts zu hören … Allerdings kam es vor, dass man manchmal Bauchweh bekam, aber dagegen gab es gute Mittel. Da ging man zum Quacksalber, kaufte für ein paar Groschen Galläpfel, zerstampfte sie im Mörser zu Pulver, schlug das durch ein Sieb, schüttete es in Wasser und wenn man zwei, drei Gläser davon getrunken hatte, da war auch das Bauchweh vorbei. Auch das Fieber kam vor, doch denke nicht, dass es so häufig vorkam, wie jetzt. Nein, sehr selten; die früheren Frauen hatten immer alle möglichen Arzneimittel in Bereitschaft. Von Chinin wusste man damals gar nichts. Ja, zu unseren Zeiten kurierten wir mit Wermut und bittern Mandeln und wir wussten, wie wirs eingeben sollten …

„Ach, du mein Himmel, das will mir nicht aus dem Kopfe! Für wen mag man wohl geläutet haben? Ach, ich Tölpel! Da war ja vor einer Weile der Ladenjunge vom Äpfelwakim bei uns; hätte ich ihn doch gefragt! Ach, wie ich zerstreut bin!

„Nun aber, ich habe dich gelangweilt! nimm mir’s nicht übel!“

„Warum eilst du denn? Sitze noch etwas, wir wollen ein Bissel plaudern, du hast ja keine Kinder zu Hause!“

[13] „Ja, Kinder habe ich allerdings nicht zu Hause, aber ich muss doch gehen, denn die Kühe sind schon längst von der Weide gekommen. Gewiss hat meine Alte schon gemolken und wartet, dass ich zum Thee komme.“

„Nein, nein, du bleibst hier; heute musst du bei uns Thee trinken.“

„Ach, ich würde schon bleiben, aber die Alte ist ja allein zu Hause.“

„Auch das lässt sich ändern; ich will gleich das Mädel zu deiner Frau schicken, damit sie zu uns kommt. Wir zwei können hier im Schatten Thee trinken und die Weiber mögen da in der Stube zusammen trinken; gut?“

„Es scheint so nicht schlecht zu sein, aber wozu sollen wir euch denn Umstände machen?“

„Was für Umstände? Wie machens denn Nachbarn anders? Weisst du denn nicht, dass ein guter Nachbar mehr taugt als ein Verwandter?“

„Ja, das ist beinahe so! Ja, lieber Sohn, in der alten, guten Zeit war es so, aber jetzt weiss man ja gar nicht mehr, was Nachbarschaft ist. Schau dich doch jetzt um in den Höfen, wo siehst du jetzt noch im Zwischenzaune ein kleines Thürchen, wie es früher überall war? Ja, früher brauchte einer nicht durch den Thorweg hinaus auf die Strasse zu [14] gehen, wenn er den Nachbar besuchen wollte. Da war überall im Zwischenzaune ein Thürchen, das immer offen stand. In den neuen Häusern und Höfen macht man keine solche Thüren mehr, die alten verschlägt man mit Brettern oder verrammelt sie mit Steinen. Die Nachbarn wollen einander gar nicht einmal sehen, geschweige denn einander besuchen. Sie beobachten einander mit schiefen Blicken, spionieren, lachen einer den andern aus, stehlen einer dem andern Geflügel, werfen sich gegenseitig krepierte Hunde und Katzen in den Garten. Ja, ja, so leben heute die Nachbarn mit einander. Früher lebten die Nachbarn wie leibliche Brüder zusammen und auch ihre Weiber waren gute Freundinnen. Es ist doch nicht immer Sonnenschein, es kommen auch trübe Tage, und an solchen Tagen, wenn, was Gott verhüten mag, sich die Not einstellt, sieht man sich umsonst nach den Verwandten um. Ach, Bruder, was soll ich dir denn da noch viel sagen! Vom vielen Klagen thut mir schon der Mund weh. Und der Sprecher muss ja einen Zuhörer haben, mit einer Hand kann man doch nicht Beifall klatschen. Ach, lieber Himmel! weisst du, diese Sterbeglocke will mir nicht aus dem Sinn! Wer kann da heute gestorben sein! Ich zerbreche mir den Kopf [15] und kann nicht dahinter kommen. Ach, halt, schau! Dort geht jemand vorüber! Das ist ja das Väterchen Mathes! Erkennst du ihn denn nicht? Ja, es ist der Küster von der Marienkirche! Ja, ja, das ist er. Weisst du, warte ein Weilchen, ich will mich bei ihm erkundigen.“

„Heda, Väterchen, heda, warte doch! Ich will dich um etwas fragen. Hast du nicht heute einem Verstorbenen geläutet?“

„Jawohl! und?“

„Für wen denn?“

„Nun, für Lasar Moltans Tochter, wusstest du denn das nicht?“

„Für Lasar Moltans Tochter? Für sie? Ach, höre auf! Für Kati (Käthchen)? Wirklich? Ach, du gerechter Himmel! Gott mache sie selig! Ach, gerechter Himmel, also wirklich für Kati! Ach, ach, das war ein wahres Kleinod und sie ist dahin! Sie konnte nicht mehr als sechzehn oder siebzehn Jahre alt sein und ist gestorben! Ach, ach! Gott segne sie! Ach wie schade um sie, tausendmal schade! O, o, sie hat sich schnell aus dieser Welt fortgemacht! Noch vor uns ist sie in das Reich der Seligen eingezogen! Ach Herrje! Die Guten sind fort und die Schlechten sind geblieben! Also sie ist gestorben?“

[16] „Väterchen Mekr, was schmerzt dich das so, sie war doch keine Verwandte von dir?“

„Ach, wenn sie auch keine Verwandte war, was liegt daran! Ich liebte sie mehr als eine Verwandte. Auch meine Frau liebte sie sehr. Ach, hättest du gesehen, was das für ein Mädel war! Wenn es auf der Welt etwas Vollkommenes gab, so war das Kati. Solch ein Mädel hat es nie auf der Welt gegeben und wird es auch nicht mehr geben … Ach, wenn ich nur erfahren könnte, wann sie sie begraben werden! Ja, wir müssen hingehen und eine Hand voll Erde auf ihren Sarg streuen, das ist eine heilige Pflicht.“

„Verzeiht mir, Väterchen Mekr, verzeiht, dass ich Euch unterbreche! Wollt Ihr den Thee mit Milch oder mit Sahne ? Oder vielleicht mit Rum?“

„Ach, Bruder, kann man denn bei solcher Hitze mit Rum trinken?“

„Weisst du denn nicht, dass ein Keil den andern hinaustreibt?“

„Du willst sagen, dass der Rum die innere Hitze vertreibt und den Durst stillt. Nun, aber warum machst du dir denn Umstände?“

„Was für Umstände? Höre doch auf solches Zeug zu plauschen! Heda, Mädel, bringe [17] eine Flasche Rum! Du weisst, den weissen Rum, den ich selbst trinke!“

„Aber lass doch sein! Das ist ja überflüssig. Bin ich denn hier bei dir zu einem Kränzchen geladen, dass du mir so teuren Rum vorsetzen willst? Der einfache wird auch genügen. Was man abends isst, das geht verloren. Hast du das nicht von unsern Alten gehört? Ach, ach, ich kann Kati gar nicht vergessen! Also dieses Mädel ist wirklich gestorben!“

„Lang’ doch zu, Väterchen! Hier ist der Rum! … Was machst du denn da? nimm doch mehr! Du hast ja nur einen Tropfen hineingegossen! Mädel, gieb die Flasche her!“

„Halt, halt, mein Lieber, es ist genug, sage ich dir. Siehst du, da hast du das Glas übergegossen! Wenn ich mich berausche, wer wird mich da nach Hause führen? Nun, auf dein Wohl, möge dein Hauswesen gedeihen, möge dein neues Haus lange stehen und gebe Gott, dass du die Hochzeit deiner Enkel darin feierst! Donnerrrwetter, wie ist das stark! Ich habe dir gesagt, dass du zuviel eingegossen hast. Nun, auf dein Wohl, Gott gebe dir Glück, sei ein guter Nachbar!“

„Amen! ich danke dir zweimal! Wohl bekomms! Mädel, bringe noch ein Glas!“

[18] „Ich muss dir die Geschichte der armen Kati erzählen. Aber mag sie unter uns bleiben. Sieh dich vor, dass du dich nicht verschappst. Höre mit einem Ohre und lass es zum andern wieder hinaus gehen! Ja, sei vorsichtig, lieber Nachbar. Sage niemand ein Wort davon. Ob es wahr ist oder eine Lüge, das bleibt sich gleich, ich will’s dir erzählen, wie ich’s selbst gehört habe. Die Wahrheit kennt nur Gott.

„Es war ein Kriegsjahr und durch unsere Stadt zogen scharenweise die Soldaten. Die einen blieben hier zwei, drei Tage, die andern, wenn sie gerade eilten, zogen durch ohne zu rasten. Katis Vater, der Lasar, war damals in Charkow auf dem Jahrmarkte, verkältete sich dort, wurde krank und musste einige Zeit dort bleiben. Als er endlich zurückkam, begann schon der Jahrmarkt in Rostow, er muss also wohl vier oder fünf Monate dort geblieben sein. Während dieser ganzen Zeit sah er seine Frau nicht. Merke dir das gut, damit du die ganze Sache verstehst! Damals lagen bei uns allen Soldaten in Einquartierung, nun und auch bei Lasar quartierten sie einen Offizier und drei Soldaten ein. Nach vier Tagen kommt der Befehl zum Ausmarsch, aber der Offizier wird plötzlich schwer krank. Sie holen Ärzte, schreiben Rezepte, bringen aus der Apotheke [19] Arzeneien, aber es hilft alles nichts und mit dem Kranken wird es jeden Tag schlimmer. Sein Regiment marschiert aus, er aber bleibt zurück. Die Köchinnen und Kutscher fingen an so manches zu flüstern, aber wer vermag da in diesem Geklatsche die Wahrheit von der Lüge zu unterscheiden! Man erzählte sich, der Offizier liebäugele sich mit Lasars Frau, er nähere sich ihr, er habe sie umarmt, geküsst, dann sässen sie oft lange bei einander beim Thee und beim Mittagessen. Alles das war im Anfange Juni. Der Offizier blieb bis zum August und zog dann seinem Regimente nach. Man sagt, dass manche Leute gesehen hätten, wie Lasars Frau bei der Abreise des Offiziers am Fenster weinte. Wenn es nicht wahr ist, wird sie Gott für die Lüge bestrafen.

„Der Offizier zog fort und nach fünfzehn oder zwanzig Tagen kehrte Lasar heim. Er bemerkte bald, dass mit der Frau eine Veränderung vorgegangen sei; sie liess oft den Kopf hängen, hatte die Wangenröte verloren, war oft traurig und hatte oft verweinte Augen. Lasar erzählte davon den Nachbarn, den Verwandten und die warfen Funken des Argwohns in sein Herz. Er befragte die Dienstmagd und der Arme wurde dann noch argwöhnischer. „Wer hat dir denn dieses Seidenkleid [20] gegeben?“ fragte er einmal die Frau, „ich glaube, du hattest es früher nicht?“ – „Ich habe es auf der Rostower Strasse gefunden,“ antwortete sie. Da fragte er den Kutscher: „Hat die Frau etwas auf der Rostower Landstrasse gefunden?“ – „Nein, nichts ähnliches ist passiert!“ antwortete der Kutscher. „Und dieses Medaillon, von wem hast du das?“ fragte er weiter. „Ich habe es in Sagatells Laden gekauft.“ Lasar ging zu Sagatell, fragte nach, aber sie war gar nicht bei Sagatell gewesen. „Und die Photographie von diesem Offizier, woher hast du sie?“ – Ich habe sie gefunden.“ Lasar überzeugte sich endlich, dass dahinter etwas stecke, aber er lässt es dabei bewenden, er schweigt, aber schau, wie schlau er ist! Seit dem Tage seiner Heimkehr schläft er nicht ein einziges Mal mit seiner Frau. Heute sagt er, er wäre krank, morgen meint er, wäre Feiertag, dann wieder Fasttag u.s.w. Dabei lässt er seine Frau nicht aus den Augen und beobachtet sie.

„So verging der Sommer, der Herbst und er sieht, dass die Frau schwanger ist. Doch das Kind kommt nicht zur Welt und wäre es von ihm, da wäre es doch schon längst gekommen. Er schweigt auch jetzt. Endlich im Anfang März kommt seine Frau nieder und [21] bringt ein hübsches blondes, blauäugiges Kind von strahlend weisser Gesichtsfarbe zur Welt. Es war klar, dass das ein Bastard war. Wenn du willst, da zähle die Monate und dann ist ja Lasar ziemlich bräunlich im Gesicht, hat rabenschwarze Haare und seine verstorbene Frau war auch nicht weisser. Man hatte da gar nichts zu bezweifeln. Lasar schwieg, liess kein Wort vernehmen, aber die Verwandten flüsterten im Stillen, dass das neugeborene Kind ein Bastard sei. Als die Hebamme Lasar fragte, was für einen Namen er dem Töchterchen geben wolle, sagte er: „Katherine soll es heissen; mag das Kind den Namen der Mutter tragen, damit die Erinnerung an sie bleibe, wenn sie sterben sollte.“ – „Was ist das für ein Gerede?“ sagte die Hebamme erschrocken. „Warum soll die Arme sterben?“

„Das steht bei Gott!“ antwortete Lasar. Man trug das Kind in die Kirche und die Pfaffen tauften es bei Kerzenschein, unter lautem Beten und Singen. Nach neun Tagen steht die Wöchnerin gesund und munter auf, aber Mann und Frau sprechen kein Wort zu einander. Jedes hat etwas im Herzen. Schweigend sitzen sie zusammen, schweigend essen sie und legen sich schlafen, aber nicht zusammen und so vergeht noch ein Monat.

[22] „Einmal fuhr Lasar früh morgens nach Rostow und brachte von dort eine Dienstmagd mit, die ein zwei Monate altes Kind hatte. Am Tage ihrer Ankunft wurde Lasars Frau nach dem Mittagessen plötzlich krank. Sie fing an zu schreien: „Ach, das Herz brennt mir, helft, holt einen Arzt!“ Lasar antwortete: „Das wird schon vorüber gehen, wahrscheinlich hast du zuviel Muttermilch und die ist dir in den Kopf gestiegen. Lege dich nieder, es wird schon vorüber gehen!“ An demselben Tage schickte er seinen Kutscher in die Dansche Kohlengrube um dort Kohlen zu kaufen, da sie dort billiger wären. Als sich seine Frau schon zwei Stunden gequält hatte, ging Lasar selbst aus, aber anstatt einen Arzt zu bringen, brachte er den Priester, damit er seine Frau mit den heiligen Sterbesakramenten versehe. Bald darauf starb sie auch.

„Lasar nahm nun das Kind und übergab es der neuen Dienstmagd mit den Worten: „Verrichte du keine sonstige Hausarbeit, sondern säuge mein Kind!“

„Dann eilte er zur Leichenwäscherin, bestellte beim Tischler einen Sarg und erst dann liess er die Verwandten holen. Als sich die Verwandten einfanden, lag die Verstorbene schon auf dem Tische und an den vier Enden [23] des Tisches brannten vier Kerzen. Der Vater, die Mutter, die Verwandten und Freunde fingen an Verdacht zu schöpfen, aber sie schwiegen, bissen sich in die Lippen und wagten nichts zu sagen. Abends, als der Sarg schon fertig war, kamen die Pfaffen und Sänger und man trug die Todte in die Kirche. Am andern Tage, früh um sieben Uhr, wurde die Lithurgie abgesungen und die Arme, dieses wie ein Rettig kräftige Weib, der Erde übergeben. Während des Begräbnisses war in Lasars Augen nicht eine Thräne zu sehen, nicht ein Seufzer entrang sich seiner Brust, er schwieg wie ein Stein.

„Als er nach Hause zurückgekehrt war, umarmte er die arme Waise, küsste sie und sagte: „Die Sünderin hat ihre Strafe gefunden; du Würmchen bist unschuldig, du sollst leben und mag Gott deine Tage verlängern! Alles, was ich habe, gehört dir, ja, auch das, was ich noch erwerben will. Ich habe im Leben kein Glück gesehen, magst du es also wenigstens sehen. Wenn du auch nicht mir gehörst, aber doch bist du ein Menschenkind! Zehn Jahre habe ich mit deiner Mutter mein Brod geteilt und Gott hat uns kein Kind gegeben. Schon wollte ich ein Pflegekind annehmen und siehe, da hat Gott dich mir geschickt. Gott mache [24] deine Mutter selig!“ Die Leute sagten, er hätte dabei viel, viel geweint, aber ob es wahr ist, weiss ich nicht. Auch das, was ich dir eben erzählt habe, habe ich nur von den Leuten gehört.

„Lasar hatte eine ferne Verwandte, eine Wittwe. Diese lies er sogleich holen, übergab ihr sein Haus, die Dienerschaft, Pferde und Wagen, auch die Amme mit dem Kinde, dann händigte er ihr noch eine bedeutende Geldsumme ein und sagte: „Hüte das Haus, denn sieben Jahre lang wirst du mich nicht sehen!“ Dann verschwand er.

„Mit Gottes Hülfe wuchs das Kind heran und wurde mit jedem Tage hübscher. Jeder, der es sah, war entzückt, denn es war ein wahres Bild. Seine goldenen Locken hingen wie Ringe auf das Gesichtchen und das Hälschen herab, die Äuglein glänzten wie Türkissteine, die Brauen waren wie mit der Feder gezeichnet, das Gesichtchen war frisch wie eine Rose und auf den Wangen hatte es kleine Grübchen. Was endlich den Charakter anbetrifft, nun wenn ich den mit dem der Engel vergleiche, da habe ich nicht Unrecht. So war sie, als sie vier Jahre alt war.

„Sobald sie einen Bettler, einen armen Wanderer oder Kinder in zerrissenen Kleidern [25] erblickte, gab sie alles her, was sie bei sich hatte, oder in den Schränken fand. Oft versammelte sie eine ganze Schar Bettler um sich, liess Thee kochen, schänkte ihn selbst jedem ein und entliess sie dann. Das letzte Stück Brod nahm sie sich vom Munde und teilte es unter die armen Gassenkinder aus. „Esst, ihr Brüderchen und Schwesterchen!“ sagte sie immer, „ich habe zu Hause noch genug, aber ihr habet nichts!“ Besonders wenn sie erfuhr, dass jemand krank sei, da liess sie ihrer Pflegerin, der Wittwe, keine Ruhe und sagte immer: „Mama, gehen wir den Kranken besuchen, vielleicht braucht der Arme einen Arzt und Medizin!“ Fast gewaltsam schleppte sie da die Alte ins Haus des Kranken und gab ihm alles, was er brauchte. Den Doktor liess sie in ihrem Wagen holen, bestellte Arzenei in der Apotheke, schickte dem Kranken Thee und Zucker. Was soll ich dir noch mehr von ihr erzählen? Die Geschichte dieses Mädchens nimmt sich fast wie ein Märchen aus.

„Ach, noch eins! Das hätte ich beinahe vergessen! Ja, weisst du, einmal, es war im Märzmonate, da kehrte meine Alte aus der St. Georgskirche heim. Der Tag war trübe und seit dem frühen Morgen sprühte ein feiner [26] Regen. Der Fusssteg war mit Kot bedeckt und als meine Frau an Lasars Haus vorüber kam, da glitt sie aus und plumps! lag sie da! Mit der Nase schlug sie auf einen Stein, so dass das Blut stromweise herausquoll. Sie hatte sich den Fuss verrenkt, fiel in Ohnmacht und lag nun besinnungslos da. Und weisst du, wer sie zuerst bemerkte? Kati! ja, Kati und niemand anders! Das Mädel erblickt sie aus dem Fenster, springt herunter … Es war ein Glück, dass das Fenster nicht hoch war, denn sonst hätte sie sich Schaden thun können! So viel es ihr die Kräfte erlaubten, richtete sie meine Frau auf, wischte ihr das Blut aus dem Gesichte und rief ihre Dienstboten zu Hülfe. Bald versammelte sich ein Haufen Volk um sie her, sie liess meine Frau aufheben und in ihr Haus tragen. Dort zogen sie sie aus und wuschen sie vom Blute und Kote rein, schickten dann nach dem Chirurgen, der ihr den Fuss einrenkte und einen Verband umlegte und erst als das alles schon geschehen war, liessen sie mich holen. Ich kam hingelaufen und was sah ich! Meine Frau lag im Bette und atmete kaum. Sie nach Hause zu tragen, war unmöglich und deshalb bat ich, dass sie wenigstens eine Nacht dort bleiben könne, aber was sagst du dazu? Anderthalb [27] Monate blieb meine Frau bei Kati und ich besuchte sie jeden Tag.

„Alles, was ich dir jetzt eben erzählt habe, habe ich entweder selbst gesehen oder gehört und wenn ich dir sage, dass ein Kind dem leiblichen Vater nicht das thut, was Kati gethan, da lüge ich gewiss nicht. Ach, himmlischer Vater, gieb ihr die Seligkeit, nimm dieses unschuldige Kind unter die Engel auf! Ja, gab es denn jemand in unserer Stadt, dem Kati nicht gutes gethan oder ein freundliches Wort gesagt hätte?

„Als sieben Jahre um waren, kam der verschwundene Lasar wieder heim. Er kam aus Sibirien mit drei schwer beladenen Wagen.

„Man erzählte sich, er hätte damals für[WS 1] mehr als eine Million Waaren und Geld mitgebracht. Als er sein Töchterchen erblickte, wollte er seinen Augen nicht trauen, so schön war sie. Da gab es Freude und Jubel und Lasar feierte ein Kränzchen nach dem andern, gab Bälle und Schmausereien, vierzig Tage und vierzig Nächte lang.

„Als die vierzig Tage um waren, umarmte er Kati und sagte: „So kannst du nicht bleiben, willst du etwas lernen?“ – „Ja, Papa, das will ich gern,“ antwortete sie. „Und wo willst du, dass ich dich unterbringe?“ fragte [28] Lasar weiter. – „Wohin du willst, ich werde nicht „nein“ sagen,“ erwiderte das arme Mädel. – „Nun gut, da will ich mit dir nach Odessa fahren und dich dort in der Pensionsanstalt unterbringen. Dort werden die Töchter von Generalen, Fürsten und Gutsbesitzern erzogen. Magst du mit ihnen lernen, nur nimm dich in Acht, dass du nicht zurückbleibst! Ja, ja, in fünf, sechs Jahren musst du mir zwölf Sprachen erlernen, Fortepianspielen, Musik, Polken, Quadrillen, Stickereien, ja, alles musst du lernen!“ – „Ach, Papa, ich will alles lernen!“ „Nun gut!“ sagte Lasar, „ich gebe dir eine Woche Zeit zum Nachdenken. Wenn du bei deinem Worte bleibst, fahre ich mit dir nach Odessa.“ Fast wäre der Ärmsten das Herz geplatzt vor Freude, dass sie schreiben und lesen lernen würde. Nach einer Woche sah der Vater, dass das Mädel bei seinem Worte beharrte. Er lässt seinen Wagen laden, die Koffer daran binden, bekreuzt sich, setzt das Mädel auf den Wagen und fährt mit ihr nach Odessa. Dort übergiebt er sie der Vorsteherin der Pensionsanstalt, händigt der das nötige Geld ein und kehrt zurück. Einen oder zwei Monate blieb er hier in Nachitschewan, übergab dann das Haus und die Wirtschaft wieder der Wittwe und verschwand von neuem.

[29] „Im Laufe von acht Jahren hörte man weder von Lasar noch von Kati etwas und ob sie lebten oder gestorben wären, war niemand bekannt.

„Endlich vor zwei Jahren kam eines Tages ein Russe in Lasars Haus und sagte der alten Wittwe, dass sie Lasar grüssen lasse und bald zurückkommen würde. Deshalb wünsche er, dass das Haus in Ordnung gebracht würde. Ich werde dir dabei helfen! schloss der Russe. Am andern Tage ging dieser auf den Basar, brachte Leute mit sich und sie machten sich ans Reinigen und Ausbessern. Die einen fegten den Hof, die andern reinigten den Stall und die Scheuer, tünchten das Haus auswendig, malten es im Innern, besserten aus, wo etwas auszubessern war und setzten neue Scheiben in die Fenster ein. Aus Rostow brachten sie ganze Fuhren neuer Möbel, dann einen neuen Flügel und nach zwei Wochen war das Haus so ausgeschmückt, dass ein Minister hätte drin wohnen mögen.

„An einem Sonntage nahm ich meine Frau und ging mit ihr in den Klostergarten von Surp Chatsch (Heiliges Kreuz). Als wir abends nach Hause zurückkehrten, sagte uns unser Nachbar: „Väterchen Mekr, willst du eine Neuigkeit wissen?“ – „Ja, gewiss, was giebt [30] es denn?“ „Nun, Lasar ist aus Odessa angekommen und das Mädel mit ihm,“ sagte er. „Wirklich?“ sagte ich. „Ja,“ sagte er, „alle wissen es ja schon.“ – „Es ist schade,“ sagte ich, „dass es schon finster ist, und dann werden sie von der Reise müde sein. Sonst würde ich gleich hingehen und sie bewillkommnen.

„In jener Nacht konnte ich bis zur Morgenglocke kein Auge schliessen und beim ersten Glockenklange stand ich auf, ging in die Kirche und verrichtete dort mein Morgengebet. Als ich nach Hause kam, war schon der Thee fertig und meine Frau wartete auf mich. „Nun, mach’ dich bereit!“ sagte ich, „deinen Thee will ich gar nicht, wir wollen zu Lasar gehen!“ sagte ich vor Ungeduld fast zitternd, denn ich liebte sehr, sehr diese Kati. Gott gebe ihr die Seligkeit!

„Meine Frau zog sich schnell an und wir gingen hin zu Lasar, um ihn zu begrüssen. Als wir in das Haus traten – Donnerwetter, was sahen wir da! – anstatt der kleinen hübschen Kati erblickten wir eine vornehme Dame. Donnerwetter! Ich bin fast achtzig Jahre alt, bin weit in der Welt herumgekommen, habe viel Menschen gesehen, war auf vielen Kränzchen, aber so was Wunderschönes habe ich nie gesehen. Ja, man musste sie mit eigenen [31] Augen sehen, denn mit Worten lässt sie sich gar nicht beschreiben. Selbst im Schlosse eines Königs wäre sie eine Zierde gewesen! Was soll ich dir noch mehr sagen? An Wuchs übertraf sie um einen Kopf alle Frauen unserer Stadt und ihr Gesicht war so weiss, dass der erste Schnee schmutzig dabei war. Auf ihren Wangen prangten Rosen und dann diese Kleidung! Sammet, Seide und dann dieses teure Zeug, ach, wie heisst es denn! alles war auf ihr. In den Ohren hatte sie Brillanten so gross wie eine Nuss, um den Hals, in den Haaren und auf den Fingern … und so ein Mädel ist gestorben! Der Verstand bleibt mir stille stehen. Giebt es da noch eine Gerechtigkeit Gottes? Ach, Kati, arme Kati!

„Meine Frau und ich, wir waren wie versteinert und konnten keinen Schritt weiter thuen, die Zungen waren uns wie gelähmt. Aber siehe, da kam uns wieder Kati zu Hülfe, Gott mache sie selig! Sie sprang sogleich von ihrem Stuhle auf, umarmte meine Frau und küsste sie und sagte: „Also du hast meiner nicht vergessen?“ Auch zu mir kam sie und küsste mir die Hand (mag sie Gott in jener Welt für diese Liebe und Ehrfurcht belohnen). Sie bat uns näher, bot uns Stühle an, setzte uns Thee vor und wir fingen an einander alte [32] und neue Dinge zu erzählen. Wir sprachen und sie sprach auch und erzählte alles, was sie erlebt hatte, was sie gelernt hatte, eins verstanden wir, das andere nicht, aber wir hörten ihr doch zu, denn die Ärmste hatte eine so süsse Stimme wie eine Nachtigall. Es war uns genug ihre Stimme zu hören, wozu brauchten wir noch die Worte verstehen. So sassen wir anderthalb Stunden bei ihr und als wir aufstanden, umarmte sie wieder meine Alte und bat sie wie eine leibliche Tochter doch recht oft wiederzukommen; auch mich lud sie ein. Dann schickte sie jeden Tag ihren Bedienten nach uns oder wenn schlechtes Wetter war, schickte sie gar ihren Wagen nach uns. Und nicht nur für uns war sie so freundlich und sanft, nein, jedem gegenüber war sie menschlich und gut.

„Und wieder versammelte sie die Armen um sich herum und setzte sich zu ihnen und tränkte und speiste sie. Sie half den Kranken, den armen Wanderern, aber nicht so wie eine reiche, vornehme Dame, die ihnen Geld hinwirft. Gott bewahre! Sie verkehrte mit ihnen wie mit Verwandten, wie mit Brüdern. Sie sagte nie: „Heda, du Mann oder du Weib!“ Nein solche Worte kamen nie aus ihrem Munde. „Brüderchen, Väterchen, mein Schatz, [33] mein Schwesterchen!“ mit solchen Worten begrüsste und verabschiedete sie die Armen.

„So verging ein Jahr. Einmal gaben sie bei Sakall ein Kränzchen und die Ärmste ohne zu wissen, welches Unheil ihr dort begegnen sollte, ging ganz harmlos hin.

„Ich muss dir hier sagen, dass bis zur Ankunft Katis aus Odessa, die zweitjüngste Tochter von Kurbaschi die schönste und feinste in der ganzen Stadt war. So wie nur Kati nach Nachitschewan gekommen war und sich unter den Leuten sehen liess, verlor Kurbaschis Tochter allen Wert, niemand sprach mehr von ihr und sie war ganz vergessen. Da wurde Fräulein Kurbaschi eifersüchtig, ihr Herz flammte auf und schaue nur zu, was für teuflische Dinge sie sich ausdachte!

„Auf dem Balle kommt sie zu Kati, thut wie eine Freundin mit ihr und fängt an mit ihr in gebrochenem russisch zu sprechen. Das sollte heissen: „Sieh, sieh, wenn ich auch nicht in Odessa auf der Pension war, so bin ich doch nicht weniger gebildet als du!“ – „Warum sprichst du zu mir russisch?“ fragte sie Kati, „wir sind doch beide Armenierinnen und verstehen armenisch. Ziehmt es sich denn für eine Armenierin mit ihrer Landsmännin in einer fremden Sprache zu sprechen?“ Fräulein [34] Kurbaschi hatte das eben gewollt und sagte lächelnd: „Ich bin allerdings eine Armenierin, aber du bist keine.“ Kati entgegnete hierauf: „Und was bin ich denn, wenn ich keine Armenierin bin?“ – „Du bist eine Russin,“ antwortete Kurbaschis Tochter. „Entschuldige!“ versetzte Kati harmlos, „ich war keine Russin und will keine sein. Wenn ich eine Russin sein wollte, da wäre ich in Odessa geblieben!“ Das Teufelsmädel, die Kurbaschi, sagte ihr hierauf: „Nein, nein, du bist keine Armenierin, du bist eine Russin!“ Kati argwöhnte auch jetzt noch nichts und aufrichtig sagte sie: „Allerdings bin ich in einer russischen Schule erzogen worden, aber ich habe weder unsere heilige Religion noch unsere Muttersprache vergessen. Auch in Odessa giebt es eine armenische Kirche und jeden Sonntag besuchte ich den Gottesdienst. Auch giebt es dort einen armenischen Priester, und dieser kam wöchentlich dreimal zu mir und unterrichtete mich in unserem heiligen Glauben. Und damit ich unsere Sprache nicht vergässe, liess mir mein Vater von einem armenischen Lehrer Stunden geben: Sieben Jahre lang hat er mir Unterricht in der armenischen Sprache erteilt. Welches Recht hast du also, mir zu sagen, ich sei keine Armenierin, sondern eine Russin?“ Die [35] freche, gewissenlose, mit Hundemilch gesäugte Kurbaschi bemerkte nun, dass Kati nichts wisse, dass sie unschuldig wie ein Engel sei und ihre Andeutungen nicht verstehe. Sie wandte sich wieder zu ihr und sagte ihr frech ins Gesicht schauend: „Wem willst du Vorreden, du seiest eine Armenierin? Du bist im Kriegsjahre auf die Welt gekommen, nicht Lasar ist dein Vater, sondern ein russischer Offizier, du bist ein uneheliches Kind! Was prahlst du dich so und thust so unschuldig als ob du nichts wüsstest? Weisst du denn nicht, dass du ein Bastard bist? Du bist nicht wie wir in gesetzlicher Ehe geboren, nein, deine Mutter hat mit einem Russen gelebt und da bist du auf die Welt gekommen.“

„Kati schaute sie stumm an und verstand sie gar nicht. Sie war so unschuldig und naiv, dass sie die Bedeutung des Wortes „Bastard“ gar nicht kannte. Alle diese nichtswürdigen Reden warf ihr die Kurbaschi aus Eifersucht ins Gesicht und es wäre gar nicht schlimm geworden, wenn sich nicht noch eine Dritte hierein gemischt hätte, denn die arme Kati verstand kein Sterbenswort von der ganzen Anspielung. Aber siehe da! Auf dem Balle befand sich eine dumme, erzdumme Plaudertasche, Babuks Tochter. Und die war sogleich [36] bei der Hand, um sich hineinzumengen. Sie nahm Kati bei Seite und erzählte ihr haarklein die ganze Geschichte, ja, den ganzen Sachverhalt deckte sie ihr auf. Da gingen der seligen Kati die Augen auf. „Ach, Mama, Mama!“ schrie sie und fiel in Ohnmacht. Man brachte sofort kaltes Wasser und Essig, aber es half nichts. Da kam endlich der Doktor und mit seiner Hülfe kam sie allmälig wieder zum Bewusstsein. Sie wurde nun sogleich nach Hause gefahren, aber in halbtotem Zustande. Der Ball war natürlich zu Ende, alle gingen plaudernd und flüsternd nach Hause.

„Das war es, was Kati krank machte. Mit jedem Tage wurde sie magerer, ja, sie zerrann und schmolz wie eine Kerze. Man schickte Depeschen nach Nowotscherkask, Charkow, Taganrog und Odessa, liess die besten Arzte kommen, aber keiner konnte ein Mittel gegen ihr Leiden finden. Seit dem Tage jenes Anfalles verlor die Arme die Sprache, sie sprach kein einziges Wort mehr und nur durch Kopfbewegungen gab sie zu verstehen, ob sie „ja“ oder „nein“ sagen wolle. Sechs Monate lang hat sie sich so martern müssen und siehe da! heute ist ihre unschuldige Seele zu Gott entschwebt.

„Ach, ach, das arme Mädel!“


Anmerkungen

  1. Die Handlung unserer Erzählung spielt in Nachitschewan am Don, einer armenischen Kolonie, welche gegen Ende des vorigen Jahrhunderts von Armeniern aus der Krim gegründet wurde.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: für für