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Autor: Carl Bachem
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Titel: Die Zentrumspartei
Untertitel:
aus: Handbuch der Politik Zweiter Band: Die Aufgaben der Politik, Siebentes Hauptstück: Die politischen Parteien in Deutschland, 32. Abschnitt, S. 14−24
Herausgeber: Paul Laban, Adolf Wach, Adolf Wagner, Georg Jellinek, Karl Lamprecht, Franz von Liszt, Georg von Schanz, Fritz Berolzheimer
Auflage:
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Erscheinungsdatum: 1914
Verlag: Dr. Walther Rothschild
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Erscheinungsort: Berlin und Leipzig
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[14]
32. Abschnitt.


Die Zentrumspartei.
Von
Justizrat Dr. Carl Bachem,
Cöln (Rhein).

Literatur:

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Die Literatur über die Zentrumspartei ist noch sehr gering. Das Meiste zur Vorgeschichte und Geschichte der Partei findet sich in biographischen Werken, nämlich:
Pfülf, „Hermann von Mallinckrodt“. Freiburg 1892;
Pastor, „August Reichensperger“, 2 Bde.. Freiburg 1899;
G. Bazin, „Windthorst, ses alliés et ses adversaires“, Paris, librairie Bloud et Cie. 1896;
Knopp, „Ludwig Windthorst“. Dresden und Leipzig 1898;
Hüsgen, „Windthorst“, Cöln 1911;

[15]

J. Lespinasse-Fonsegrive, „Windthorst“, Paris, Librairie de P.-J. Béduchaud, 1908;
Martin Spahn, „Ernst Lieber als Parlamentarier“, Gotha 1906.
– Sodann
Martin Spahn, „Das deutsche Zentrum“, Mainz und München 1906;
„Das Zentrum eine konfessionelle Partei?“, hrsg. vom Verband der Windthorstbunde Deutschlands zu Cöln, Elberfeld, Wuppertaler Aktien-Druckerei;
„Vierzig Jahre Zentrum“, Berlin, Verlag der Germania 1911.
– Manches auch in:
Pfülf, „Bischof von Ketteler“, 3 Bde., Mainz 1899, und
Pfülf, „Cardinal von Geissel“, 2 Bde., Freiburg 1895.
– Berichte über die Tätigkeit der Zentrumsfraktion im Reichstag von
Abg. M. Erzberger unter dem Titel „Die Zentrumspolitik im Reichstag“ von 1897 an, im Verlage der Germania, Berlin; ebenso
„Die Tätigkeit der Zentrumsfraktion des preussischen Abgeordnetenhauses“ (von Abg. von Savigny) seit 1904, ebenfalls im Verlage der Germania in Berlin. –
Roeren, „Zentrum und Kölner Richtung“, Trier, 1913;
Jul. Bachem, „Das Zentrum, wie es war, ist und bleibt“. Köln 1913;
Karl Bachem. „Zentrum, kathol. Weltanschauung und allg. polit. Lage“, Krefeld 1913.

Die Zentrumspartei ist entstanden zugleich mit der Entstehung des Deutschen Reiches, doch ohne dass diese für die Gründung der Partei massgebend gewesen wäre. Vielmehr lag die wichtigste, wenn auch keineswegs die einzige Ursache für die Gründung in der damaligen Zuspitzung der kirchenpolitischen Verhältnisse, welche zugleich mit dem Kriege von 1866 eingesetzt hatte und auf katholischer Seite eine Bedrohung der verfassungsmässigen Freiheit der katholischen Kirche befürchten liess. Die Vorbereitungen für die Gründung begannen nicht unerhebliche Zeit vor dem Ausbruch des deutsch-französischen Krieges von 1870. Der erste veröffentlichte Aufruf (von Peter Reichensperger, in der Kölnischen Volkszeitung) datiert vom 11. Juni 1870. Das erste förmlich veröffentlichte Programm ist das Soester Programm vom 28. Oktober 1870. Den Namen Zentrum wählte die neue Partei im Anschluss daran, dass die frühere „Katholische Fraktion“ sich in den letzten Jahren ihres Bestehens bereits „Zentrum“ genannt hatte.

Eine parlamentarische Zentrumsfraktion entstand zuerst im preussischen Abgeordnetenhause. Sie wurde gegründet in Berlin am 13. Dezember 1870. Als am 14. Dezember der neugewählte preussische Landtag zusammentrat, fand er die neue Fraktion fertig konstituiert vor. Ihr alsbald festgestelltes Programm lautet:

„Die Fraktion stellt sich zur besonderen Aufgabe, für Aufrechterhaltung und organische Fortentwicklung verfassungsmässigen Rechtes im allgemeinen, und insbesondere für die Freiheit und Selbständigkeit der Kirche und ihrer Institutionen einzutreten.

„Die Mitglieder derselben suchen dieser Aufgabe auf dem Wege freier Verständigung zu entsprechen, und soll die Freiheit des einzelnen in bezug auf seine Abstimmung keine Beeinträchtigung erleiden.“

Von der neugebildeten Zentrumsfraktion des preussischen Abgeordnetenhauses aus wurde die Bildung einer gleichartigen Fraktion im ersten Reichstag des neuerstandenen Deutschen Reiches veranlasst. Unter dem 11. Januar 1871 erging von ihr ein dahinzielender Aufruf zu den Reichstagswahlen, welcher, von August Reichensperger verfasst, bereits alle wesentlichen Forderungen des späteren Programms der Zentrumsfraktion des Reichstages enthielt. Die Konstituierung dieser Fraktion fand statt am 20. März 1871. Als am 21. März der erste Reichstag des neuen Deutschen Reiches eröffnet wurde, fand auch er die neue Fraktion fertig vor. Als ihr Programm nahm diese folgende Sätze an:

„Justitia fundamentum regnorum.

„Die Zentrumsfraktion des Deutschen Reichstages hat folgende Grundsätze für ihre Tätigkeit aufgestellt:

1. Der Grundcharakter des Reiches als eines Bundesstaates soll gewahrt, demgemäss den Bestrebungen, welche auf eine Änderung des föderativen Charakters der Reichsverfassung abzielen, entgegengewirkt und von der Selbstbestimmung und Selbsttätigkeit der einzelnen Staaten in allen inneren Angelegenheiten nicht mehr geopfert werden, als die Interessen des Ganzen es unabweislich fordern.
2. Das moralische und materielle Wohl aller Volksklassen ist nach Kräften zu fördern; für die bürgerliche und religiöse Freiheit aller Angehörigen des Reiches ist die verfassungsmässige Feststellung von Garantien zu erstreben und insbesondere das Recht der Religions-Gesellschaften gegen Eingriffe der Gesetzgebung zu schützen.

[16]

3. Die Fraktion verhandelt und beschliesst nach diesen Grundsätzen über alle in dem Reichstag zur Beratung kommenden Gegenstände, ohne dass übrigens den einzelnen Mitgliedern der Fraktion verwehrt wäre, im Reichstage ihre Stimme abweichend von dem Fraktionsbeschlusse abzugeben.“

Enthielt das Programm der Fraktion des Abgeordnetenhauses nur zwei materielle Punkte: Aufrechterhaltung der Verfassung sowie Vertretung der Freiheit und Selbständigkeit „der Kirche“, so erweiterte das Programm der Fraktion des Reichstages, dem Soester Programme und dem erwähnten Wahlaufruf folgend, den Standpunkt nach verschiedenen Richtungen: es betonte den bundesstaatlichen Grundcharakter des neuen Reiches und wandte sich gegen die von liberaler Seite angestrebte schroffe Zentralisation; es stellte „das moralische und materielle Wohl aller Volksklassen“ sowie „die bürgerliche und religiöse Freiheit aller Angehörigen des Reiches“ in den Vordergrund und forderte „insbesondere“ den Schutz „der Religionsgesellschaften“.

Ausser ihren Programmen gaben sich beide Fraktionen noch kurze „Satzungen“ geschäftsordnungsmässigen Inhalts, welche bis auf einen kurzen unwesentlichen Satzteil in ihrem Wortlaut übereinstimmen. Sowohl in den Programmen, wie in den Satzungen wurde mit bewusster Absicht jede Bestimmung vermieden, welche den Beitritt protestantischer Mitglieder zu den Fraktionen hätte verhindern oder erschweren können. Man wollte eine politische Partei gründen, die alle gläubigen Christen, Katholiken wie Protestanten, unter ihre Fahne vereinigen könnte.

Die Gründer der Fraktion waren der Wirkliche Geheime Rat Carl Friedrich von Savigny, welcher, früher im diplomatischen Dienst Preussens, 1866/67 an der Gründung des Norddeutschen Bundes hervorragend beteiligt, 1868 aus dem Staatsdienst (1871 endgültig) ausgeschieden war; dann Regierungsrat Hermann v. Mallinckrodt, Mitgründer und hervorragender Führer der frühern „Katholischen Fraktion“ im Abgeordnetenhause; endlich die beiden Gebrüder Reichensperger, Appellationsgerichtsrat Dr. August Reichensperger und Obertribunalsrat Peter Reichensperger, diese beiden letzteren die bedeutendsten Gründer der früheren „Katholischen Fraktion“ und deren massgebende Führer. Beide waren ursprünglich politisch liberal im Sinne der Zeit vor 1860; Savigny und Mallinckrodt waren Männer von ausgesprochen konservativer Geistesrichtung. An den Wahlvorbereitungen für die neue Partei war auch Freiherr Burghard von Schorlemer-Alst hervorragend beteiligt, ebenfalls ein Mann konservativer Richtung.

Der spätere Führer des Zentrums im Reichstag und im preussischen Abgeordnetenhause, der frühere hannoversche Justizminister Dr. Ludwig Windthorst, war bei der Gründung der Fraktion im Abgeordnetenhause nicht beteiligt, obwohl er zu den Vorberatungen zugezogen worden war. Erst später erklärte er, einer an ihn ergangenen Aufforderung folgend, seinen Beitritt. Doch unterzeichnete er bereits den erwähnten Wahlaufruf und gehörte im Reichstag zu den Gründern der dortigen Fraktion. Wilhelm Emanuel Freiherr von Ketteler, Bischof von Mainz, war an allen Vorbereitungen völlig unbeteiligt, trat jedoch am 20. März 1871 der neugegründeten Fraktion im Reichstag unverzüglich als Mitgründer bei.

Im preussischen Abgeordnetenhaus begann die Fraktion mit einer Mitgliederzahl von 48 und erreichte bis zum Schluss der Legislaturperiode von 1870/73 die Zahl von 54. Die Wahl von 1873 brachte ihr 90 Mitglieder und 2 Hospitanten. Mit geringen Schwankungen stieg die Zahl bald bis auf etwa 100 Mitglieder, welche gegenwärtig als runder Bestand der Fraktion bezeichnet werden können. Im Reichstage brachte es die Fraktion in der ersten Legislaturperiode 1871/74 auf 63 Mitglieder und 2 Hospitanten. Bei der Wahl von 1874 erreichte sie die Zahl von 91 Mitgliedern und 3 Hospitanten. Dann stieg die Zahl noch langsam und ebenfalls mit geringen Schwankungen, bis sie im Jahre 1890 106 Mitglieder und 7 Hospitanten erreichte. Sie hielt sich in der Folge nicht ganz auf dieser Höhe. Aber auch im Reichstag darf die Durchschnittsstärke der Fraktion auf 100 Mitglieder angesetzt werden.

Der gegenwärtige Bestand beider Fraktionen ist folgender: Bei der Wahl vom 15. Januar 1907 erreichte die Zentrumsfraktion des Reichstages die Zahl von 104 Mitgliedern und 1 Hospitant. Für Kandidaten der Zentrumspartei waren 2 179 800 Stimmen abgegeben worden. Bei der Wahl vom 10. Juni 1908 gelangte die Zentrumsfraktion des preussischen Abgeordnetenhauses auf 104 Mitglieder. Inzwischen haben durch Nachwahlen die Zentrumsfraktion des Abgeordnetenhauses ein Mitglied, die Zentrumsfraktion des Reichstages drei Mitglieder verloren.

[17] Von sämtlichen Fraktionen beider genannten Parlamente hat während dieser Zeit keine eine solche Stetigkeit ihrer Stärke gezeigt, wie die Zentrumsfraktionen. Wo sie nach Lage der Verhältnisse festen Fuss fassen konnten und gefasst haben, haben sie den gewonnenen Boden durchweg zu behaupten gewusst. Die feste Organisation der Partei im Lande, auf welche die Fraktionen sich stützen, ihre gut geleitete grosse, mittlere und kleine Presse geben ihnen ebenso die Gewähr auf weiteren Bestand, wie die Zuverlässigkeit und gute politische Schulung ihrer Wähler. Doch wird es der Partei in letzter Zeit schwieriger, in grossstädtischen und industriellen Bezirken gegenüber der Sozialdemokratie ihre Stellung zu verteidigen.

Einen fühlbaren Rückgang erlitt die Fraktion des Reichstages zuerst bei den Neuwahlen von 1912: sie erzielte nur noch 90 Mandate, indem ein grosser Teil der bisher behaupteten Stichwahlkreise durch das Zusammengehen des überwiegenden Teiles der liberalen Parteien mit den Sozialdemokraten verloren gingen. Bei der Hauptwahl vom 12. Januar 1912 wurden nur 1 991 000 Stimmen für die Partei abgegeben; doch waren schon bei dieser viele Tausende von Zentrumsstimmen für andere rechtsstehende Kandidaten abgegeben worden.

Bei der Neuwahl zum preussischen Abgeordnetenhause im Mai 1913 dagegen behauptete sich die Fraktion mit 103 Mandaten.

Im Reichstag hat die Zentrumsfraktion von Anfang an Mitglieder aller deutschen Volksstämme in sich vereinigt. Vom Reichstag aus griff die Zentrumsbewegung auf die politische Entwicklung in den Einzelstaaten über, so dass, dem Beispiele des preussischen Abgeordnetenhauses folgend, auch in anderen einzelstaatlichen Parlamenten Zentrumsfraktionen entstanden. In der zweiten Kammer in Hessen bildete sich schon am 20. Dezember 1872 eine Zentrumsfraktion. Die im Jahre 1869 in Bayern entstandene „Partei der Patrioten“ wandelte sich im Jahre 1887 in eine Zentrumspartei um, die ältere badische „Katholische Volkspartei“ ebenso im Jahre 1888; in Württemberg vereinigten sich die katholischen Mitglieder der Zweiten Kammer am 19. Februar 1895 zu einer Zentrumsfraktion, nachdem bereits am 11. Juli 1894 bei Gelegenheit der damaligen Landtagswahlen eine württembergische Zentrumspartei gegründet worden war; selbst im oldenburgischen Landtag ergab sich in den letzten Jahren eine Gruppenbildung, welche auf dem Boden der Zentrumsideen steht. Alle diese Bildungen nahmen in ihrem Grundcharakter den Geist willig auf, wie er von der Zentrumsfraktion des Reichstages ausging, und sind bestrebt, in deren Sinne zu wirken. Einen etwas abweichenden, noch vielfach unklaren Charakter zeigt die im Jahre 1907 gegründete Zentrumsfraktion im elsass-lothringischen Landesausschuss. Er kommt auch darin zur Geltung, dass Mitglieder der elsass-lothringischen Zentrumspartei, welche ein Mandat zum Reichstag erhielten, der dortigen Zentrumsfraktion nicht beitraten, während im übrigen die Mitglieder der einzelstaatlichen Zentrumsparteien mit der allgemeinen deutschen Zentrumspartei sich durchaus eins fühlen.

Die bisherige Geschichte der Partei beweist, dass die Zentrumsbewegung eine natürliche, eine notwendige und bodenständige war und ist, und dass sie aus der Lage unserer allgemeinen Parteiverhältnisse als gegebene Folge herauswachsen musste.

Es ist keine Frage, und kann ruhig zugegeben werden, dass der dauernd feste Bestand der Zentrumspartei und der Zentrumsfraktionen zusammenhängt mit der einheitlichen kirchenpolitischen Grundanschauung ihrer Wähler, wie ja auch kirchenpolitische Gesichtspunkte den hervorragendsten, wenn auch nicht einzigen Anstoss zu ihrer Gründung gegeben haben. Der Zentrumsgedanke, auch nach seiner kirchenpolitischen Seite hin, ist seinem Wesen nach durchaus verfassungsmässig und konfessionell-paritätisch. Trotzdem fand er tatsächlich im wesentlichen nur bei dem katholischen Volksteil fruchtbaren Boden und gewann aus dem protestantischen Volksteil nur vereinzelte Zustimmung. Ebenso sicher ist aber auch, dass die kirchenpolitischen Ideale der Partei für sich allein niemals genügt haben würden, um der Partei einen so festen Bestand und eine so lange Dauer zu gewährleisten. Überall, wo der Parlamentarismus Wurzel geschlagen hat, zeigt die Erfahrung, dass religiöse Anschauungen und kirchenpolitische Ziele allein auf die Dauer nicht genügen als Fundament für eine grosse politische und parlamentarische Partei. Wo rein kirchliche Parteibildungen versucht wurden, sind sie bald zerflossen, soweit sie nicht dazu kamen, neben dem kirchenpolitischen auch einen klaren staatspolitischen Boden zu gewinnen. Gerade das ist das charakteristische der Zentrumspartei, dass es ihr gelungen ist, trotz ihrer kirchenpolitischen Ausgangspunkte [18] sofort zu einer festen allumfassenden staatspolitischen Haltung zu kommen, welche dem Kaiser gibt, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist.

Die Zentrumspartei ist von Anfang an gegründet worden als „Verfassungspartei“, das heisst als allgemeine politische und parlamentarische Partei, welche das Staatsganze erfasst im Sinne der bestehenden Verfassung und jeder Seite der staatlichen Tätigkeit ihre pflichtmässige Fürsorge widmet. Von politischen Einzelforderungen, wie sie das Soester Programm enthielt, sahen die späteren Fraktionsprogramme bewusstermassen ab und hielten so die Zukunft offen. Diesem ursprünglichen programmatischen Charakter der Partei entspricht ihre Geschichte und ihre feststehende Praxis. Die Zentrumspartei ist heute eine allgemeine Staats- und Reichspartei, welche mit Recht von sich sagen darf, dass nichts, was den Staat angeht, ihr fremd ist. Sie treibt die Kirchenpolitik im Rahmen ihrer allgemeinen Politik, wie ja auch die kirchenpolitische Freiheit im Rahmen unserer staatlichen Verfassungen festgelegt ist, indem sie die Auffassung vertritt, dass „das Wohl der Gesellschaft aus einem doppelten Elemente, dem religiösen und dem bürgerlichen erwächst“ (Schreiben des Papstes Pius X. an Kardinal Fischer vom 30. Oktober 1906), und dass „zwei Pflichtenkreise“ die Menschen umschliessen: „Der erstere zielt auf die Blüte des Staates, der andere auf das Gesamtwohl der Kirche, beide auf die Vervollkommnung der Menschen“ (Encyklika „Sapientiae christianae“ Papst Leos XIII. vom 10. Januar 1890).

Sie betrachtet demgemäss die Kirchenpolitik keineswegs als den einzigen, wohl aber als einen höchst wichtigen und sogar wesentlichen Teil ihres Programmes und hält an dem Grundsatz fest, dass die Religionsfreiheit einen integrierenden Bestandteil unserer staatlichen Zustände darstellt. Sie vertritt die Anschauung, dass wie die evangelischen Landeskirchen, so auch die katholische Kirche auf ihrem eigenen Gebiete selbständig und unabhängig ist und sein soll, dass der Staat pflichtgemäss und gerecht handelt, wenn er diese Unabhängigkeit achtet, dass die menschliche Gesellschaft am besten fährt, wenn Staat und Kirche unter gegenseitiger Achtung der ihnen zustehenden Souveränität auf ihrem eigenen Gebiet freundschaftlich Hand in Hand gehen und dass, wo die beiderseitigen Gebiete sich berühren und zum Teil schneiden, von Fall zu Fall eine vernünftige und billige Verständigung einzutreten hat.

Neben dieser Kirchenpolitik aber und über sie hinaus hat die Zentrumspartei unter Führung der Zentrumsfraktionen in nunmehr 40jähriger Arbeit eine eigene, eigenartige und in ihren Grundzügen fest umrissene Finanz-, Wirtschafts- und Sozialpolitik entwickelt, welche, wie jeder Band der Berichte über die Verhandlungen unserer Parlamente dartut, den weitaus grössten Teil ihrer Tätigkeit beansprucht. Diese Politik beruht in finanzieller Hinsicht auf dem Streben nach Sparsamkeit in den Staatsausgaben bei voller Befriedigung der staatlichen Bedürfnisse. In wirtschaftlichen Dingen vertritt sie den Grundsatz der ausgleichenden Gerechtigkeit unter den sich entgegenstehenden Interessen der verschiedenen Stände. In sozialen Fragen beruht sie auf der warmen Bereitwilligkeit zum Schutze der jeweils schwächeren Bevölkerungskreise, zur Erhaltung eines kräftigen Mittelstandes, zur Mitarbeit an der sozialen Hebung der arbeitenden Klassen und in dem Bestreben der Milderung der sozialen Gegensätze. In allgemein-staatspolitischen Dingen besteht sie, ohne an doktrinäre Überlieferungen gebunden zu sein, in der eifrigen Anteilnahme an der nationalen Grösse und innern Festigkeit von Reich und Staat sowie an der Entwicklung der nationalen Hilfsquellen, alles in strenger Wahrung der bestehenden Verfassungen, im Reich also auch in Wahrung des bundesstaatlichen Charakters und der Rechtsstellung der Einzelstaaten.

Trotz der am Tage liegenden allgemeinen politischen Tätigkeit der Zentrumsfraktionen werden diese vielfach noch immer lediglich nach den ursprünglich überwiegend kirchenpolitischen Beweggründen ihrer Entstehung betrachtet. Doch kann diese Betrachtungsweise niemals zu einem vollen Verständnis der Zentrumspolitik und der ganzen Zentrumsbewegung führen. Dieses Verständnis ist nur möglich, wenn man festhält, dass die Zentrumspartei genau in demselben Sinne eine politische Partei ist, wie die Parteien der Rechten, die liberalen Parteien und die Sozialdemokratie, und dass sie in keinem anderen Sinne eine konfessionelle Partei ist, wie ebenfalls alle diese anderen Parteien. Kirchenpolitik und Staatspolitik lassen sich nun einmal nicht trennen. Die Grundlage der menschlichen Verhältnisse ist nicht der Monismus des Staates, sondern der Dualismus von Staat und Kirche. Ist doch die ganze Welt vom Dualismus beherrscht: Gott und Welt, Seele und Leib, Kirche und [19] Staat. Einseitig kirchenpolitische Parteibildungen entsprechen daher ebensowenig der vollen Auswirkung des menschlichen Lebens wie einseitig und ausschliesslich verfassungs-, wirtschafts- oder sozialpolitische Parteibildungen. Wo solche versucht werden, sehen sie sich bald gezwungen, auch zu dem kirchenpolitischen Teile des staatlichen Lebens Stellung zu nehmen, wenn sie nicht lähmender und hemmender Einseitigkeit verfallen wollen. In der Wirklichkeit sehen wir denn auch, dass alle grossen Parteien sowohl zum Staat wie zu den kirchenpolitischen Fragen Stellung nehmen. Es ist naturgemäss, dass diese Stellungnahme dann mitbestimmend ist für den Anschluss der Wähler an die eine oder die andere Partei. Soweit diese Stellungnahme dazu führt, dass die verfassungsmässige staatliche Parität der grossen christlichen Bekenntnisse anerkannt wird, ist eine solche Partei dann aber nicht eine konfessionelle, sondern in diesem Sinne eine politisch-paritätische, wenn auch ihre einzelnen Mitglieder auf religiösem Gebiet sich ihre persönliche religiös-konfessionelle Überzeugung und die Zugehörigkeit zu ihrer Kirche über die Anerkennung der staatlichen Parität hinweg durchaus wahren. Das bleibt selbst dann wahr, wenn die konfessionelle Zugehörigkeit der grossen Mehrzahl der Mitglieder einer Partei dazu führt, im politischen Leben die Interessen des einen oder anderen Bekenntnisses besonders zu betonen.

So kommt es, dass in der heutigen konkreten Ausgestaltung unseres Parteilebens die konservativen Parteien tatsächlich und im allgemeinen mit den Anhängern des orthodoxen, kirchentreuen Protestantismus zusammenfallen, die liberalen Parteien mit den Anhängern des liberalen Protestantismus, die Sozialdemokratie mit den Anhängern der materialistischen Weltanschauung. In demselben Sinne kann man sagen, dass die Zentrumspartei im allgemeinen zusammenfällt mit den Anhängern der christlichen Weltanschauung, wie sie von der katholischen Kirche vertreten wird. Wie aber die konservativen und liberalen Parteien grundsätzlich keinen Katholiken abweisen und wie nach deren staatspolitischen Prinzipien auch Katholiken der Beitritt zu ihnen möglich ist, so umgekehrt auch beim Zentrum: Sein „konfessioneller“ Charakter ist nichts weniger als exklusiv katholisch; es hält allen Protestanten, welche seiner politischen Grundauffassung zustimmen, den Beitritt offen; und sogar noch mehr: es legt entscheidenden Wert darauf, politisch auf dem Boden des Parlamentes wie innerhalb des eigenen Fraktionsverbandes mit allen Protestanten zusammenzuarbeiten, welche gleich ihm für die religiöse Freiheit und das Recht der Religionsgesellschaften eintreten. Nach seiner ursprünglichen Konstruktion war das Zentrum sogar auf ein solches Zusammenarbeiten geradezu angelegt. Wenn dann in der geschichtlichen Entwicklung nur verhältnismässig wenige Protestanten zum Zentrum traten und schliesslich nur einzelne bei ihm verblieben, so dass das Zentrum heute äusserlich als eine Partei erscheint, welche fast nur aus Katholiken besteht, so ist daran die Zurückhaltung der Protestanten schuld, welche der Absicht der Gründer wie der späteren Führer des Zentrums durchaus widerstrebte. Allerdings scheint es auch, dass die Überwindung des wirtschaftlichen und sozialen Standesegoismus, welche zur Annahme der wirtschafts- und sozialpolitischen Seite des Zentrumsprogramms unentbehrlich ist, als Voraussetzung einer besonderen Intensität der altruistischen, aus religiösen Empfindungen genährten Grundstimmung bedarf, wie sie sich in den kirchentreuen Kreisen des katholischen Volksteiles findet.

Dem ursprünglichen Charakter des Zentrums entspricht es, wenn die massgebenden Führer des Zentrums stets betonten, dass ihre Partei eine „christliche“ sei und auf dem „Boden der christlichen Weltanschauung“ stehe. Es sollte damit ausgesprochen werden, dass sowohl gläubigen Katholiken als gläubigen Protestanten, welche die politischen Grundsätze des Programms anerkennen und also „insbesondere das Recht der Religionsgesellschaften“ schützen wollten, das Tor zum Zentrum gleicherweise offen stände und dass beide innerhalb der Fraktion gleichberechtigt Zusammenarbeiten sollten. Es sollte damit der zwingenden Natur des paritätischen Charakters der deutschen Verhältnisse Rechnung getragen und der Überzeugung Ausdruck gegeben werden, dass auf staatlichem und parlamentarischem Gebiet der konfessionelle Zwiespalt durch einträchtige politische Arbeit zum Wohle des Vaterlandes überbrückt werden könne, soweit nur die Anhänger beider Konfessionen, was ihren religiösen Glauben anlangt, sich gegenseitig mit der vollen bürgerlichen Achtung und auf dem staatlichen Boden mit friedfertigem Sinne begegnen. Es sollte endlich damit gesagt sein, dass man auf dem Boden der Zentrumspolitik [20] ein Zusammenarbeiten mit solchen Katholiken und Protestanten allerdings für ausgeschlossen hielte, welche nicht gewillt waren, die Freiheit und Selbständigkeit der Religionsgesellschaften und damit auch der katholischen Kirche anzuerkennen und hochzuhalten. Selbstverständlich sollte damit aber nicht gesagt sein, dass man eine willkürliche und verschwommene religiöse Synthese von Katholizismus und Protestantismus anstrebe. Vielmehr sollte jeder sich die Integrität seiner religiösen Überzeugung voll reservieren, und nur das durchgeführt werden, dass Angehörige beider Konfessionen politisch zusammenarbeiteten, um die Freiheit der Religionsübung und die verfassungsmässige Rechtsstellung wie der katholischen Kirche so der evangelischen Landeskirchen zu verteidigen. Die „christliche Weltanschauung“ in diesem Sinne war lediglich eine politische Formel, welche, ohne jeden theologischen Inhalt, das Zusammenarbeiten von Katholiken und Protestanten auf politischem Gebiet im Sinne des politischen Zentrumsgedankens ermöglichen sollte.

Nach diesen allgemein orientierenden Bemerkungen über die Natur des Zentrums sei zunächst die Entstehungsgeschichte der Zentrumsbewegung nachgeholt und kurz ihr bisheriger Verlauf dargestellt.

Der Ursprung der Gedankenreihen, welche zur Gründung des Zentrums führten, liegt erheblich weiter zurück wie die Gründung dieser Partei, sowohl was die kirchenpolitische, als was die staatspolitische Seite anlangt.

Der kirchenpolitische Gedanke entstand zuerst. Er musste entstehen, sobald auf deutschem Boden Volksvertretungen errichtet wurden und innerhalb dieser, wenn nicht schon politische Parteien, so doch politische Parteirichtungen sich bildeten. Es lag in der Natur der politischen Entwicklung in Deutschland, dass dieser Gedanke sich zunächst in einer spezifisch katholischen Ausprägung zeigte. Nach der Zeit des harten Staatskirchentums in der Periode des Josephinismus, welche die katholische Kirche nach ihrer Idee und Geschichte besonders schmerzlich getroffen hatte, war es gegeben, dass gläubige und kirchentreue Katholiken, sobald sie in die Parlamente gelangten, sich der öffentlichen Rechtsstellung ihrer Kirche annahmen und für deren Freiheit eintraten, wo immer sie diese beeinträchtigt fanden. So sehen wir im ersten bayerischen Landtag von 1819, als die Ausführung des eben abgeschlossenen Konkordates mit dem römischen Stuhle in Frage stand, für dieses sofort eifrige Vertreter erstehen. Es seien die Abgg. Egger, Abt, Zimmer, Magold und Zenger genannt, sämtlich Geistliche. Von da an haben in der bayerischen Volksvertretung niemals Vertreter der kirchlichen Rechte gefehlt. Doch kam es nicht zu einer Parteibildung. Erst 1869 entstand die „Partei der Patrioten“, welche, im wesentlichen politischen Charakters, auch für die Rechte der katholischen Kirche eintrat. Im ersten hessischen Landtag von 1820 waren es Laien, die Mainzer Kaufleute Kertell und Lauteren und der Gutsbesitzer Bürgermeister Neeb, welche in derselben Richtung vorgingen. In Baden trat 1827 der Freiburger Professor Dr. Buss in die Zweite Kammer, 1838 Freiherr von Andlaw in die Erste Kammer; beide verteidigten die Sache ihrer Kirche mit ebensoviel Eifer wie Ausdauer. Auch hier kam es erst 1869 zu einer Parteibildung, nämlich zur Gründung der „Katholischen Volkspartei“, welche bei der Neuwahl dieses Jahres mit vier Mitgliedern in die Zweite Kammer einzog.

Einen Markstein in dieser Entwicklung bedeutet das Jahr 1848. Es brachte die erste förmliche Organisation katholischer Parlamentarier. Der Deutschen Nationalversammlung in Frankfurt a. M. gehörte eine grosse Anzahl kirchentreuer angesehener Katholiken an. Diese traten, als es dort zum Entwurf von „Grundrechten“ kam, auf Einladung des Breslauer Fürstbischofs Melchior von Diepenbrock am 14. Juni als „Katholischer Klub“ zusammen, um, nachdem die staatliche Freiheit ihre Vertreter gefunden hatte, auch für die kirchliche Freiheit einzustehen. Dieser Klub war ein „ausserparlamentarischer Verein“, welcher sich auf die Behandlung der religiösen und kirchlichen Dinge einschliesslich der Schulangelegenheiten beschränkte und alle Staatspolitiken Fragen streng ausschloss. Die Mitglieder waren und blieben zugleich Mitglieder der verschiedenen politischen Fraktionen. Vorsitzender war der preussische in Westfalen gewählte Abg. General v. Radowitz, dessen Stellvertreter der rheinische Abg. August Reichensperger. Dieser Klub war also eine rein katholisch-konfessionelle Bildung. Einen allgemeinen politischen Charakter gewann er nicht. Als Versuche gemacht wurden, ihn auch für politische Zwecke nutzbar zu machen, löste [21] er sich auf. Tatsächlich waren die weitaus meisten Mitglieder des Klubs in politischer Hinsicht „grossdeutsch“ gesinnt.

In der gleichzeitig tagenden Preussischen Nationalversammlung in Berlin kam es auch wohl zu einem Zusammenwirken der katholischen Abgeordneten im Sinne der Sicherung der kirchlichen Freiheit durch die neu zu schaffende Verfassung, doch noch nicht zu einer festen Organisation. Der Mittelpunkt dieser Bestrebungen war hier der Kölner Erzbischof Johannes von Geissel. Ein solches Zusammenwirken der katholischen Abgeordneten bei kirchlichen Fragen ohne förmliche Organisation wiederholte sich in Berlin in der Zweiten Kammer während der beiden ersten Legislaturperioden des neuen preussischen Landtags 1849 und 1849/52. Als Führer erscheint in dieser Zeit der Abg. Osterath. In Berlin wie in Frankfurt ist als Ergebnis zu verzeichnen, dass die kirchenpolitischen Bestimmungen im preussischen Verfassungsentwurf wie in den Grundrechten der Deutschen eine Fassung fanden, welche im allgemeinen der Bedeutung der katholischen Kirche gerecht wurde und für diese annehmbar war. Diese Bestimmungen gingen im wesentlichen in die preussische oktroyierte Verfassung vom 5. Dezember 1848 und später in die endgültige preussische Verfassung vom 31. Januar 1850 über.

Einen entscheidenden Schritt der Fortentwicklung brachte in Preussen die Wahl des Jahres 1852. Kurz vorher waren die „Raumer’schen Erlasse“ ergangen, welche die soeben verfassungsmässig festgelegte Kirchenfreiheit für die Katholiken wieder in mehreren Punkten zu beschränken suchten. Der Erfolg war die Wahl von 63 strengkirchlichen katholischen Abgeordneten, welche alsbald zur „Katholischen Fraktion“ zusammentraten, um die Freiheit der katholischen Kirche und die Parität des katholischen Volksteils zu schützen. Unter dem Einfluss der Gebrüder Reichensperger gewann die Fraktion bald auch eine, obgleich noch nicht ganz einheitliche politische Färbung, zumal nachdem die „feudalen“ Mitglieder sich zurückgezogen hatten. Diese Färbung war im wesentlichen konstitutionell-liberal im damaligen Sinne. Aufrechterhaltung der Verfassung im allgemeinen, Aufrechterhaltung der Rechtsstellung der katholischen Kirche im besonderen, Konfessionalität der Volksschule, individuelle Freiheit, kommunale Selbstverwaltung in Gemeinde, Kreis und Provinz, politische Gleichberechtigung der Konfessionen und aller Staatsbürger wurden die Richtlinien ihrer Politik.

Dieser Entwicklung entsprach es, dass schon nach der Wahl von 1855 die beiden Reichensperger den Versuch machten, den konfessionellen Namen der Fraktion zu ersetzen durch einen politischen. Tatsächlich war die Fraktion bereits eine politische Fraktion nur mit konfessioneller Firma. Aus dem Grundsatz der Verfassungstreue hatte sie die Folgerung gezogen, dass sie die Rechtsstellung der evangelischen Landeskirche und der Juden ebenso verteidigte, wie die Rechtsstellung der katholischen Kirche. An allen rein politischen Verhandlungen hatte sie sich eifrig beteiligt. Doch der Versuch misslang vorerst. Er wurde aber erneuert und nach den Wahlen von 1858 gelang es den Namen zu ändern in „Fraktion des Zentrums (Katholische Fraktion)“. Am 17. Januar 1859 unterzeichneten 57 Mitglieder die neuen Satzungen. Deren erster Satz lautete: „Aufgabe der Fraktion ist die Vorberatung aller das Haus der Abgeordneten beschäftigenden Gegenstände.“ Nach den Wahlen von 1861 stellte Mallinckrodt den Antrag, die „konfessionelle Klammer“ aus der Bezeichnung der Fraktion zu streichen, doch ohne Erfolg. Endlich im Mai 1862, als die Fraktion durch die Neuwahl von 1862 bereits stark geschwächt worden war, gelang es auf Antrag Mallinckrodts, die konfessionelle Klammer zu beseitigen. Fortan hiess die Fraktion nur „Zentrum“. Doch ihre Zeit war vorbei. Der Militärkonflikt brachte Verwirrung in die Reihen ihrer Wähler und führte diese scharenweise der Linken zu. Sie hielt sich noch bis 1867; dann trat sie nicht wieder zusammen.

Nach dem deutsch-österreichischen Kriege von 1866 und der Bildung des Norddeutschen Bundes zeigte sich in der Entwicklung des herrschenden Liberalismus eine Seite immer stärker, welche in der Zeit von 1848 bis 1860 weniger scharf hervorgetreten war: der politische Liberalismus identifizierte sich mehr und mehr mit dem kirchlichen, indem er sein individualistisches Prinzip aus der Politik in die Sphäre der Religion übertrug. Daraus ergab sich eine heftige Feindschaft gegen die katholische Kirche, welche gar manchmal zu höchst verletzendem Ausdruck kam. Zugleich übertrieb der Liberalismus sein individualistisches Freiheitsprinzip auch auf politischem [22] namentlich wirtschaftlichem Gebiet, indem er sich zu unhistorischem, unbesonnen fortstürmendem Einreissen alter Einrichtungen und Schutzwehren fortreissen liess. Der Erfolg war, dass auch die politisch bisher liberal denkenden gläubigen Katholiken, welche zugleich auf staatlichem Gebiet am historisch Gewordenen, soweit es noch gut war, festhalten wollten, in ihm sich nicht mehr wohl fühlten. Bismarck aber, welcher bis 1866 in schärfster Kampfstellung gegen ihn gestanden hatte, stützte sich jetzt auf ihn und brachte ihn zur Herrschaft.

Dieser Reaktion gegen den gesamten Liberalismus in seiner damaligen konkreten Gestalt, sowohl nach dessen kirchenpolitischer wie nach dessen staatspolitischer Seite hin, entsprang der Gedanke einer neuen Partei. Seit dem Frühjahr 1870 wurde er in Berlin unter den alten Führern der Katholischen Fraktion erwogen. Im April begannen ernsthafte, beharrlich fortgeführte Vorarbeiten. Als der französische Krieg von 1870/71 ausbrach, fand er unter den Katholiken dieselbe patriotische Begeisterung wie unter den Protestanten. Auch das neue deutsche Reich wurde von den preussischen Katholiken durchweg mit Jubel begrüsst, während allerdings in Bayern aus altüberlieferten partikularistischen Gefühlen sich Widerstand geltend machte, zumal die schroff zentralisierende Tendenz des Liberalismus verstimmend wirkte. Doch konnte das alles die Gründung der neuen Partei nicht mehr aufhalten, um so weniger, als gleichzeitig der Liberalismus seine katholikenfeindliche Haltung rasch verstärkte.

So kam es zur Gründung des heutigen Zentrums. Liberale und konservativ fühlende Katholiken reichten sich bei ihr die Hände. Die Spaltung, welche die erste Zeit der Katholischen Fraktion gebracht hatte, wurde wieder überbrückt. Man wurde einig, die Neugründung jetzt als eine rein politische Fraktion zu gestalten ohne irgendwelche konfessionelle Beschränkung. Die ersten veröffentlichten Programme der neuen Partei (Aufruf Peter Reichenspergers in der Kölnischen Volkszeitung vom 11. Juni 1870, Essener Programm vom 29. Juni, Soester Programm vom 28. Oktober) stellten sich zunächst fest auf den Boden der bestehenden verfassungsmässigen Zustände, ebenso später auf den Boden des neugegründeten Reiches. Aus dem kirchenpolitischen Bestande der früheren Katholischen Fraktion entnahmen sie die Forderungen des Schutzes der Rechtsstellung der katholischen Kirche, der christlichen Ehe, der konfessionellen Schule und der Durchführung der staatsrechtlichen Parität der anerkannten Religionsgesellschaften. Aus den früheren liberalen Forderungen der Katholischen Fraktion übernahmen sie die Forderung der Beschränkung der Staatsausgaben, damit der Beschränkung der Steuern und Lasten und zugleich einer gleichmässigen und gerechten Verteilung derselben, ferner die Forderung der Dezentralisation der Staatsverwaltung auf Grundlage der Selbständigkeit der Selbstverwaltung in Gemeinde, Kreis und Provinz, und endlich die Forderung der Beschränkung der damals dreijährigen aktiven Dienstzeit im Heere. Daneben zeigen diese Programme auch echt konservative Züge, was die allgemeine Richtung der Politik anlangt. Aus der alten, im Kerne aufgegebenen grossdeutschen Stimmung, zugleich aus gesunden realpolitischen Erwägungen entstammt die Forderung, den Grundcharakter des neuen Reiches als eines Bundesstaates zu bewahren und die zentralisierende Tendenz des Liberalismus abzuwehren. Neu hinzugefügt wurden wirtschafts- und sozialpolitische Forderungen: Ausgleichung der Interessen von Kapital und Grundbesitz, sowie von Kapital und Grundbesitz einerseits und der Arbeit andererseits, Erhaltung und Forderung eines kräftigen Mittelstandes in einem selbständigen Bürger- und Bauernstand, Freiheit für alle den gesetzlichen Boden nicht verlassenden Bemühungen zur Lösung der sozialen Frage, gesetzliche Beseitigung solcher Übelstände, welche den Arbeiter mit moralischem oder körperlichem Ruin bedrohen. Die späteren Programme der Fraktionen wurden kürzer und allgemeiner gefasst, was sich in der Folge als für eine freie Entfaltung der politischen Praxis in allen Einzelfragen höchst günstig erwies. Ein konfessioneller Charakter wurde ebenso entschieden abgelehnt, wie eine konfessionelle Bezeichnung. Die Forderung der Freiheit und Selbständigkeit „der Kirche“ im Programm der preussischen Fraktion wurde im Programm der Reichsfraktion bereits ersetzt durch die Forderung des Schutzes der Rechte „der Religionsgesellschaften“. Die Zentrumspartei sollte sein und wurde auch eine allgemeine politische Staats- und Reichspartei, welche Anhängern aller religiösen Bekenntnisse offen stand, soweit sie nur ihre politischen Grundsätze annahmen.

Die Zentrumspartei war demnach weder als Oppositionspartei, noch etwa als Feindseligkeit gegen das neue deutsche Reich, noch gar als Gegensätzlichkeit zum Protestantismus gedacht. Sie war vielmehr gedacht als eine Partei positiver politischer Arbeit auf Grund eines neuen, klaren Programmes, [23] welches alle Seiten der Politik, Verfassungs-, Kirchen-, Wirtschafts- und Sozialpolitik umfasste. Sie wandte sich an die Anhänger aller Konfessionen, Stämme und Berufsstände, um eine Partei der politischen und sozialen Versöhnung zu werden.

Die Gründer der neuen Partei waren sämtlich Katholiken gewesen. Zunächst setzten jetzt eifrige Bemühungen ein, um auch protestantische Kreise heranzuziehen. August Reichensperger führte den konservativen Abg. von Gerlach in die Fraktion ein; Savigny verhandelte mit dem sächsischen Minister Freiherrn von Friesen, um die sächsischen Konservativen zum Anschluss zu gewinnen; Bischof von Ketteler veranlasste, als er 1872 sein Mandat niederlegte, in seinem Wahlkreise Tauberbischofsheim die Wahl des Rechtsanwalts Schultz aus Heidelberg zum Reichstag; Windthorst setzte durch, dass Herr von Gerlach im Januar 1873 von dem rheinischen Wahlkreis Sieg-Mühlheim-Wipperfürth ins Abgeordnetenhaus, 1877 vom Wahlkreis Osnabrück auch in den Reichstag gewählt wurde. Bei jeder Gelegenheit betonten die Führer des Zentrums, dass ihre Partei keine konfessionelle, sondern eine politische sei, zu welcher jedem Protestanten ebenso der Zutritt freistehe wie jedem Katholiken. Schultz-Heidelberg und Herr v. Gerlach traten der Fraktion als Mitglieder bei. Weiterhin gelang es aber nur den persönlichen Beziehungen Windthorsts, die christlich-konservativ gerichteten Abgeordneten aus Hannover, welche an der welfischen Tradition festhielten, zu bewegen, dem Zentrum als Hospitanten sich anzuschliessen. Die Zahl der letzteren nahm allmählich ab; 1907/12 hatte nur die Fraktion des Reichstages noch einen protestantischen Hospitanten aus Hannover. Doch trat nach der Reichtagswahl vom Januar 1912 wieder ein protestantischer Abgeordneter (aus der bayrischen Rheinpfalz) der Zentrumsfraktion als Mitglied bei. Der Hauptgrund dieser Zurückhaltung protestantischer Elemente lag in einem taktischen Kunstgriff des politischen Kampfes der siebenziger Jahre: Die Liberalen empfanden richtig, dass die neue Partei der Kristallisationskern einer grossen antiliberalen Partei werden könnte. Fürst Bismarck argwöhnte, von liberaler Seite hierin irregeführt, ohne Grund, dass die neue Partei bestimmt wäre, ihm beim Ausbau des neuen deutschen Reiches Schwierigkeiten in den Weg zu legen. Von beiden Seiten wurde die neue Partei als „Katholikenpartei“ und als „reichsfeindlich“ ausgeschrieen, um ihre Verstärkung aus protestantischen Kreisen zu hintertreiben. Das Mittel hatte Erfolg; ob zum Nutzen des deutschen Reiches und Volkes, wird heute schon weiteren Kreisen fraglich sein, die sich früher in der Hitze des Kulturkampfes täuschen liessen. Auf der anderen Seite liessen die katholischen Polen sich nicht bewegen, zum Zentrum zu treten. Sie bildeten, wie früher schon im preussischen Abgeordnetenhause, auch im neuen Reichstag eine nationalistische Fraktion. Selbst die katholischen Elsässer und Lothringer hielten sich lange ferne. Erst das folgende Jahrhundert begann hierin eine Wandlung anzubahnen.

Dagegen hatten die Bemühungen, Angehörige aller deutschen Stämme und aller Berufsstände in der Fraktion zu vereinigen, allmählich vollen Erfolg. So wurde das Zentrum eine wahre deutsche Volkspartei, welche in voller Unabhängigkeit für die Interessen des Volkes eintritt, so wie sie diese versteht. Wie nach Lage der Dinge im Deutschen Reiche eine Parteiregierung unmöglich ist, sondern jede Regierung über den Parteien stehen muss, so sind auch ausgesprochene Regierungsparteien unnötig und vielleicht sogar vom Übel. Der Unabhängigkeit der Regierung muss die Unabhängigkeit der Parteien entsprechen, und dieser Erkenntnis folgend, hat die Zentrumspartei stets sich als völlig unabhängige Volkspartei gefühlt und geführt.

Doch wurde sie zunächst durch den sofort ausbrechenden Kulturkampf zu schärfster Opposition sowohl im preussischen Abgeordnetenhaus wie im deutschen Reichstag gedrängt. Es gelang dem Zentrum in diesem Kampfe nicht ganz, die Rechtsstellung der katholischen Kirche zu retten; doch kam es schliesslich zu einem erträglichen modus vivendi, nachdem die Reichstagsauflösung von 1887 nur vorübergehend zur Schwächung seiner parlamentarischen Stellung, gar nicht zur Schwächung seines Bestandes geführt hatte. Ursprünglich isoliert, gewann die Partei seit der neuen Wirtschaftspolitik des Fürsten Bismarck (Zolltarif von 1879) Fühlung mit der rechten Seite beider Parlamente und konnte beginnen, in positiv schaffendem Sinne für ihre Programmforderungen einzutreten. In der Periode der Arbeiterversicherung (kaiserliche Botschaft vom 17. November 1880) wurde sie die Hauptstütze der Sozialpolitik im Reiche. Mit dem Regierungsantritt des Kaisers Wilhelm II. (Februarerlasse von 1890) gelangte die von ihr stets verfolgte Arbeiterschutzpolitik zum Siege. Früher militärischen Neuforderungen gegenüber als Nachwirkung der liberalen [24] Vergangenheit der Mehrzahl ihrer Mitglieder ablehnend oder zurückhaltend, gelangte sie in den letzten Lebensjahren Windthorsts (gest. 14. März 1891) auch in diesen zu positiver Mitarbeit. Die Auflösung des Reichstages von 1893 konnte das Zentrum nur vorübergehend aus dieser Stellung verdrängen. Im Abgeordnetenhause war das Zentrum nicht zu gleicher parlamentarischer Stellung, wohl aber seit der Miquel’schen Steuerreform (Einkommen- und Gewerbesteuergesetz von 1891, Kommunalabgabengesetz von 1893) zu gleicher positiver Mitarbeit gelangt. Unter Windthorsts Nachfolger, dem Abg. Dr. Lieber wurde diese in fruchtbarster Weise ausgedehnt bei der neuen Handelsvertragspolitik (seit 1891), bei Erlass des Bürgerlichen Gesetzbuchs und bei Schaffung einer deutschen Flotte. In weitem Masse war damals das Zentrum der „ehrliche Makler“ zwischen der rechten und linken Seite des Hauses, um eine möglichst grosse Mehrheit auf einer gangbaren Mittellinie zu vereinigen. Da es selbst sich aus Mitgliedern der sämtlichen Stämme, Stände, Berufskreise und sozialen Klassen des Volkes zusammensetzt, zugleich auch aus Anhängern mannigfach verschiedener politischen Richtungen und wirtschaftlichen Bestrebungen, welche aber alle das Bestreben haben, im Sinne des Zentrumsgedankens auf einem alle berechtigten Interessen berücksichtigenden Boden eines billigen Ausgleichs sich zu einigen, so ergab in gar vielen Fällen die Haltung der Fraktion von vorne herein schon eine Politik, welche nach rechts wie nach links zum Anschluss geeignet war und eine Verständigung zwischen den liberalen und konservativen Parteien ermöglichte. Dabei gewann es bei einer äusserlichen Betrachtung allerdings auch manchmal den Anschein, als ob das Zentrum „herrsche“, während der Erfolg seiner Politik lediglich eine gegebene Folge der bestehenden Fraktionsverhältnisse war. Nach Liebers Tode (31. März 1902) wurde diese Politik positiver Mitarbeit auf allen Gebieten im Reichstag unter Führung der Abgg. Dr. Spahn und Freiherr von Hertling fortgesetzt. Der neue Zolltarif von 1902 und die Neugestaltung der Arbeiter-Versicherungs-Gesetzgebung fanden seine nachdrückliche Unterstützung. Entsprechend war die Haltung des Zentrums im preussischen Abgeordnetenhause unter Führung des Abgeordneten Dr. Porsch. Durch die Reichstagsauflösung vom 13. Dezember 1906 nochmals in die Opposition gedrängt, liess sich das Zentrum alsbald wieder zu positiver Mitarbeit bereit finden, als die Notwendigkeit der Sanierung der Finanzen des Reiches dies erforderte. Neuerdings bewährte es seine positiv schaffende Tendenz bei Verabschiedung einer Verfassung für Elsass-Lothringen und der Reichsversicherungsordnung, welche die gesamte Arbeiter-Versicherungs-Gesetzgebung nochmals umgestaltete, dann vereinheitlichte und kodifizierte, endlich bei der Militärvorlage und der Finanzgestaltung (Wehrbeitrag und neue Steuern) von 1913.

Die Stellung und Bewertung des Zentrums leidet in manchen Kreisen dauernd unter der Tatsache, dass Partei und Fraktion fast ausschliesslich aus Katholiken bestehen. Für die objektive politische Würdigung seiner Natur und die gerechte historische Beurteilung seiner Tätigkeit ist es unzulässig, diesen Gesichtspunkt in den Vordergrund zu schieben. Die öffentliche Meinung ist eben in Deutschland noch nicht dahin gelangt, dem Zentrum gegenüber das Verhältnis von Religion und Politik richtig zu würdigen und einer politischen Auffassung ohne Einfluss konfessioneller Vorurteile zugänglich zu sein. Der Gedanke der verfassungsmässigen Parität zwischen Katholiken und Protestanten ist noch keineswegs in allen Schichten des deutschen Volks zu vollem Verständnis durchgedrungen. Hält man politische und konfessionelle Gesichtspunkte in richtigem Verhältnis und betrachtet man die politische Haltung des Zentrums ohne Rücksicht auf das religiöse Bekenntnis der übergrossen Mehrzahl seiner Mitglieder, so wird eine nüchterne Geschichtsbetrachtung dazu kommen, anzuerkennen, dass das Zentrum nach seiner Natur und Geschichte die gegebene Mittelpartei ist, um zwischen den Gegensätzen von rechts und links zu vermitteln und namentlich in wirtschaftlichen und sozialen Fragen eine gangbare Verständigung durchzuführen. Zu dieser Rolle wird das Zentrum durch sein Programm ebenso angeleitet, wie durch die Zusammensetzung seines Mitgliederbestandes. Soll das Zentrum diese Rolle zum Heil von Staat und Kirche fortführen, so ist allerdings eine Abmilderung der konfessionellen Spannung nötig, welche zurzeit besteht und nicht ohne künstliche Mittel unterhalten wird. Ob noch in weiterem Umfange eine Vereinigung protestantischer Elemente, welche politisch auf dem Boden des Zentrums stehen, mit diesem zu erhoffen bleibt, steht dahin.