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3. Die Fraktion verhandelt und beschliesst nach diesen Grundsätzen über alle in dem Reichstag zur Beratung kommenden Gegenstände, ohne dass übrigens den einzelnen Mitgliedern der Fraktion verwehrt wäre, im Reichstage ihre Stimme abweichend von dem Fraktionsbeschlusse abzugeben.“

Enthielt das Programm der Fraktion des Abgeordnetenhauses nur zwei materielle Punkte: Aufrechterhaltung der Verfassung sowie Vertretung der Freiheit und Selbständigkeit „der Kirche“, so erweiterte das Programm der Fraktion des Reichstages, dem Soester Programme und dem erwähnten Wahlaufruf folgend, den Standpunkt nach verschiedenen Richtungen: es betonte den bundesstaatlichen Grundcharakter des neuen Reiches und wandte sich gegen die von liberaler Seite angestrebte schroffe Zentralisation; es stellte „das moralische und materielle Wohl aller Volksklassen“ sowie „die bürgerliche und religiöse Freiheit aller Angehörigen des Reiches“ in den Vordergrund und forderte „insbesondere“ den Schutz „der Religionsgesellschaften“.

Ausser ihren Programmen gaben sich beide Fraktionen noch kurze „Satzungen“ geschäftsordnungsmässigen Inhalts, welche bis auf einen kurzen unwesentlichen Satzteil in ihrem Wortlaut übereinstimmen. Sowohl in den Programmen, wie in den Satzungen wurde mit bewusster Absicht jede Bestimmung vermieden, welche den Beitritt protestantischer Mitglieder zu den Fraktionen hätte verhindern oder erschweren können. Man wollte eine politische Partei gründen, die alle gläubigen Christen, Katholiken wie Protestanten, unter ihre Fahne vereinigen könnte.

Die Gründer der Fraktion waren der Wirkliche Geheime Rat Carl Friedrich von Savigny, welcher, früher im diplomatischen Dienst Preussens, 1866/67 an der Gründung des Norddeutschen Bundes hervorragend beteiligt, 1868 aus dem Staatsdienst (1871 endgültig) ausgeschieden war; dann Regierungsrat Hermann v. Mallinckrodt, Mitgründer und hervorragender Führer der frühern „Katholischen Fraktion“ im Abgeordnetenhause; endlich die beiden Gebrüder Reichensperger, Appellationsgerichtsrat Dr. August Reichensperger und Obertribunalsrat Peter Reichensperger, diese beiden letzteren die bedeutendsten Gründer der früheren „Katholischen Fraktion“ und deren massgebende Führer. Beide waren ursprünglich politisch liberal im Sinne der Zeit vor 1860; Savigny und Mallinckrodt waren Männer von ausgesprochen konservativer Geistesrichtung. An den Wahlvorbereitungen für die neue Partei war auch Freiherr Burghard von Schorlemer-Alst hervorragend beteiligt, ebenfalls ein Mann konservativer Richtung.

Der spätere Führer des Zentrums im Reichstag und im preussischen Abgeordnetenhause, der frühere hannoversche Justizminister Dr. Ludwig Windthorst, war bei der Gründung der Fraktion im Abgeordnetenhause nicht beteiligt, obwohl er zu den Vorberatungen zugezogen worden war. Erst später erklärte er, einer an ihn ergangenen Aufforderung folgend, seinen Beitritt. Doch unterzeichnete er bereits den erwähnten Wahlaufruf und gehörte im Reichstag zu den Gründern der dortigen Fraktion. Wilhelm Emanuel Freiherr von Ketteler, Bischof von Mainz, war an allen Vorbereitungen völlig unbeteiligt, trat jedoch am 20. März 1871 der neugegründeten Fraktion im Reichstag unverzüglich als Mitgründer bei.

Im preussischen Abgeordnetenhaus begann die Fraktion mit einer Mitgliederzahl von 48 und erreichte bis zum Schluss der Legislaturperiode von 1870/73 die Zahl von 54. Die Wahl von 1873 brachte ihr 90 Mitglieder und 2 Hospitanten. Mit geringen Schwankungen stieg die Zahl bald bis auf etwa 100 Mitglieder, welche gegenwärtig als runder Bestand der Fraktion bezeichnet werden können. Im Reichstage brachte es die Fraktion in der ersten Legislaturperiode 1871/74 auf 63 Mitglieder und 2 Hospitanten. Bei der Wahl von 1874 erreichte sie die Zahl von 91 Mitgliedern und 3 Hospitanten. Dann stieg die Zahl noch langsam und ebenfalls mit geringen Schwankungen, bis sie im Jahre 1890 106 Mitglieder und 7 Hospitanten erreichte. Sie hielt sich in der Folge nicht ganz auf dieser Höhe. Aber auch im Reichstag darf die Durchschnittsstärke der Fraktion auf 100 Mitglieder angesetzt werden.

Der gegenwärtige Bestand beider Fraktionen ist folgender: Bei der Wahl vom 15. Januar 1907 erreichte die Zentrumsfraktion des Reichstages die Zahl von 104 Mitgliedern und 1 Hospitant. Für Kandidaten der Zentrumspartei waren 2 179 800 Stimmen abgegeben worden. Bei der Wahl vom 10. Juni 1908 gelangte die Zentrumsfraktion des preussischen Abgeordnetenhauses auf 104 Mitglieder. Inzwischen haben durch Nachwahlen die Zentrumsfraktion des Abgeordnetenhauses ein Mitglied, die Zentrumsfraktion des Reichstages drei Mitglieder verloren.

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 2. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 16. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_2.pdf/32&oldid=- (Version vom 30.8.2021)