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sofort zu einer festen allumfassenden staatspolitischen Haltung zu kommen, welche dem Kaiser gibt, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist.

Die Zentrumspartei ist von Anfang an gegründet worden als „Verfassungspartei“, das heisst als allgemeine politische und parlamentarische Partei, welche das Staatsganze erfasst im Sinne der bestehenden Verfassung und jeder Seite der staatlichen Tätigkeit ihre pflichtmässige Fürsorge widmet. Von politischen Einzelforderungen, wie sie das Soester Programm enthielt, sahen die späteren Fraktionsprogramme bewusstermassen ab und hielten so die Zukunft offen. Diesem ursprünglichen programmatischen Charakter der Partei entspricht ihre Geschichte und ihre feststehende Praxis. Die Zentrumspartei ist heute eine allgemeine Staats- und Reichspartei, welche mit Recht von sich sagen darf, dass nichts, was den Staat angeht, ihr fremd ist. Sie treibt die Kirchenpolitik im Rahmen ihrer allgemeinen Politik, wie ja auch die kirchenpolitische Freiheit im Rahmen unserer staatlichen Verfassungen festgelegt ist, indem sie die Auffassung vertritt, dass „das Wohl der Gesellschaft aus einem doppelten Elemente, dem religiösen und dem bürgerlichen erwächst“ (Schreiben des Papstes Pius X. an Kardinal Fischer vom 30. Oktober 1906), und dass „zwei Pflichtenkreise“ die Menschen umschliessen: „Der erstere zielt auf die Blüte des Staates, der andere auf das Gesamtwohl der Kirche, beide auf die Vervollkommnung der Menschen“ (Encyklika „Sapientiae christianae“ Papst Leos XIII. vom 10. Januar 1890).

Sie betrachtet demgemäss die Kirchenpolitik keineswegs als den einzigen, wohl aber als einen höchst wichtigen und sogar wesentlichen Teil ihres Programmes und hält an dem Grundsatz fest, dass die Religionsfreiheit einen integrierenden Bestandteil unserer staatlichen Zustände darstellt. Sie vertritt die Anschauung, dass wie die evangelischen Landeskirchen, so auch die katholische Kirche auf ihrem eigenen Gebiete selbständig und unabhängig ist und sein soll, dass der Staat pflichtgemäss und gerecht handelt, wenn er diese Unabhängigkeit achtet, dass die menschliche Gesellschaft am besten fährt, wenn Staat und Kirche unter gegenseitiger Achtung der ihnen zustehenden Souveränität auf ihrem eigenen Gebiet freundschaftlich Hand in Hand gehen und dass, wo die beiderseitigen Gebiete sich berühren und zum Teil schneiden, von Fall zu Fall eine vernünftige und billige Verständigung einzutreten hat.

Neben dieser Kirchenpolitik aber und über sie hinaus hat die Zentrumspartei unter Führung der Zentrumsfraktionen in nunmehr 40jähriger Arbeit eine eigene, eigenartige und in ihren Grundzügen fest umrissene Finanz-, Wirtschafts- und Sozialpolitik entwickelt, welche, wie jeder Band der Berichte über die Verhandlungen unserer Parlamente dartut, den weitaus grössten Teil ihrer Tätigkeit beansprucht. Diese Politik beruht in finanzieller Hinsicht auf dem Streben nach Sparsamkeit in den Staatsausgaben bei voller Befriedigung der staatlichen Bedürfnisse. In wirtschaftlichen Dingen vertritt sie den Grundsatz der ausgleichenden Gerechtigkeit unter den sich entgegenstehenden Interessen der verschiedenen Stände. In sozialen Fragen beruht sie auf der warmen Bereitwilligkeit zum Schutze der jeweils schwächeren Bevölkerungskreise, zur Erhaltung eines kräftigen Mittelstandes, zur Mitarbeit an der sozialen Hebung der arbeitenden Klassen und in dem Bestreben der Milderung der sozialen Gegensätze. In allgemein-staatspolitischen Dingen besteht sie, ohne an doktrinäre Überlieferungen gebunden zu sein, in der eifrigen Anteilnahme an der nationalen Grösse und innern Festigkeit von Reich und Staat sowie an der Entwicklung der nationalen Hilfsquellen, alles in strenger Wahrung der bestehenden Verfassungen, im Reich also auch in Wahrung des bundesstaatlichen Charakters und der Rechtsstellung der Einzelstaaten.

Trotz der am Tage liegenden allgemeinen politischen Tätigkeit der Zentrumsfraktionen werden diese vielfach noch immer lediglich nach den ursprünglich überwiegend kirchenpolitischen Beweggründen ihrer Entstehung betrachtet. Doch kann diese Betrachtungsweise niemals zu einem vollen Verständnis der Zentrumspolitik und der ganzen Zentrumsbewegung führen. Dieses Verständnis ist nur möglich, wenn man festhält, dass die Zentrumspartei genau in demselben Sinne eine politische Partei ist, wie die Parteien der Rechten, die liberalen Parteien und die Sozialdemokratie, und dass sie in keinem anderen Sinne eine konfessionelle Partei ist, wie ebenfalls alle diese anderen Parteien. Kirchenpolitik und Staatspolitik lassen sich nun einmal nicht trennen. Die Grundlage der menschlichen Verhältnisse ist nicht der Monismus des Staates, sondern der Dualismus von Staat und Kirche. Ist doch die ganze Welt vom Dualismus beherrscht: Gott und Welt, Seele und Leib, Kirche und

Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 2. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 18. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_2.pdf/34&oldid=- (Version vom 30.8.2021)