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Diverse: Handbuch der Politik – Band 2

Staat. Einseitig kirchenpolitische Parteibildungen entsprechen daher ebensowenig der vollen Auswirkung des menschlichen Lebens wie einseitig und ausschliesslich verfassungs-, wirtschafts- oder sozialpolitische Parteibildungen. Wo solche versucht werden, sehen sie sich bald gezwungen, auch zu dem kirchenpolitischen Teile des staatlichen Lebens Stellung zu nehmen, wenn sie nicht lähmender und hemmender Einseitigkeit verfallen wollen. In der Wirklichkeit sehen wir denn auch, dass alle grossen Parteien sowohl zum Staat wie zu den kirchenpolitischen Fragen Stellung nehmen. Es ist naturgemäss, dass diese Stellungnahme dann mitbestimmend ist für den Anschluss der Wähler an die eine oder die andere Partei. Soweit diese Stellungnahme dazu führt, dass die verfassungsmässige staatliche Parität der grossen christlichen Bekenntnisse anerkannt wird, ist eine solche Partei dann aber nicht eine konfessionelle, sondern in diesem Sinne eine politisch-paritätische, wenn auch ihre einzelnen Mitglieder auf religiösem Gebiet sich ihre persönliche religiös-konfessionelle Überzeugung und die Zugehörigkeit zu ihrer Kirche über die Anerkennung der staatlichen Parität hinweg durchaus wahren. Das bleibt selbst dann wahr, wenn die konfessionelle Zugehörigkeit der grossen Mehrzahl der Mitglieder einer Partei dazu führt, im politischen Leben die Interessen des einen oder anderen Bekenntnisses besonders zu betonen.

So kommt es, dass in der heutigen konkreten Ausgestaltung unseres Parteilebens die konservativen Parteien tatsächlich und im allgemeinen mit den Anhängern des orthodoxen, kirchentreuen Protestantismus zusammenfallen, die liberalen Parteien mit den Anhängern des liberalen Protestantismus, die Sozialdemokratie mit den Anhängern der materialistischen Weltanschauung. In demselben Sinne kann man sagen, dass die Zentrumspartei im allgemeinen zusammenfällt mit den Anhängern der christlichen Weltanschauung, wie sie von der katholischen Kirche vertreten wird. Wie aber die konservativen und liberalen Parteien grundsätzlich keinen Katholiken abweisen und wie nach deren staatspolitischen Prinzipien auch Katholiken der Beitritt zu ihnen möglich ist, so umgekehrt auch beim Zentrum: Sein „konfessioneller“ Charakter ist nichts weniger als exklusiv katholisch; es hält allen Protestanten, welche seiner politischen Grundauffassung zustimmen, den Beitritt offen; und sogar noch mehr: es legt entscheidenden Wert darauf, politisch auf dem Boden des Parlamentes wie innerhalb des eigenen Fraktionsverbandes mit allen Protestanten zusammenzuarbeiten, welche gleich ihm für die religiöse Freiheit und das Recht der Religionsgesellschaften eintreten. Nach seiner ursprünglichen Konstruktion war das Zentrum sogar auf ein solches Zusammenarbeiten geradezu angelegt. Wenn dann in der geschichtlichen Entwicklung nur verhältnismässig wenige Protestanten zum Zentrum traten und schliesslich nur einzelne bei ihm verblieben, so dass das Zentrum heute äusserlich als eine Partei erscheint, welche fast nur aus Katholiken besteht, so ist daran die Zurückhaltung der Protestanten schuld, welche der Absicht der Gründer wie der späteren Führer des Zentrums durchaus widerstrebte. Allerdings scheint es auch, dass die Überwindung des wirtschaftlichen und sozialen Standesegoismus, welche zur Annahme der wirtschafts- und sozialpolitischen Seite des Zentrumsprogramms unentbehrlich ist, als Voraussetzung einer besonderen Intensität der altruistischen, aus religiösen Empfindungen genährten Grundstimmung bedarf, wie sie sich in den kirchentreuen Kreisen des katholischen Volksteiles findet.

Dem ursprünglichen Charakter des Zentrums entspricht es, wenn die massgebenden Führer des Zentrums stets betonten, dass ihre Partei eine „christliche“ sei und auf dem „Boden der christlichen Weltanschauung“ stehe. Es sollte damit ausgesprochen werden, dass sowohl gläubigen Katholiken als gläubigen Protestanten, welche die politischen Grundsätze des Programms anerkennen und also „insbesondere das Recht der Religionsgesellschaften“ schützen wollten, das Tor zum Zentrum gleicherweise offen stände und dass beide innerhalb der Fraktion gleichberechtigt Zusammenarbeiten sollten. Es sollte damit der zwingenden Natur des paritätischen Charakters der deutschen Verhältnisse Rechnung getragen und der Überzeugung Ausdruck gegeben werden, dass auf staatlichem und parlamentarischem Gebiet der konfessionelle Zwiespalt durch einträchtige politische Arbeit zum Wohle des Vaterlandes überbrückt werden könne, soweit nur die Anhänger beider Konfessionen, was ihren religiösen Glauben anlangt, sich gegenseitig mit der vollen bürgerlichen Achtung und auf dem staatlichen Boden mit friedfertigem Sinne begegnen. Es sollte endlich damit gesagt sein, dass man auf dem Boden der Zentrumspolitik

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Diverse: Handbuch der Politik – Band 2. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 19. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_2.pdf/35&oldid=- (Version vom 30.8.2021)