Seite:Handbuch der Politik Band 2.pdf/40

Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Diverse: Handbuch der Politik – Band 2

Vergangenheit der Mehrzahl ihrer Mitglieder ablehnend oder zurückhaltend, gelangte sie in den letzten Lebensjahren Windthorsts (gest. 14. März 1891) auch in diesen zu positiver Mitarbeit. Die Auflösung des Reichstages von 1893 konnte das Zentrum nur vorübergehend aus dieser Stellung verdrängen. Im Abgeordnetenhause war das Zentrum nicht zu gleicher parlamentarischer Stellung, wohl aber seit der Miquel’schen Steuerreform (Einkommen- und Gewerbesteuergesetz von 1891, Kommunalabgabengesetz von 1893) zu gleicher positiver Mitarbeit gelangt. Unter Windthorsts Nachfolger, dem Abg. Dr. Lieber wurde diese in fruchtbarster Weise ausgedehnt bei der neuen Handelsvertragspolitik (seit 1891), bei Erlass des Bürgerlichen Gesetzbuchs und bei Schaffung einer deutschen Flotte. In weitem Masse war damals das Zentrum der „ehrliche Makler“ zwischen der rechten und linken Seite des Hauses, um eine möglichst grosse Mehrheit auf einer gangbaren Mittellinie zu vereinigen. Da es selbst sich aus Mitgliedern der sämtlichen Stämme, Stände, Berufskreise und sozialen Klassen des Volkes zusammensetzt, zugleich auch aus Anhängern mannigfach verschiedener politischen Richtungen und wirtschaftlichen Bestrebungen, welche aber alle das Bestreben haben, im Sinne des Zentrumsgedankens auf einem alle berechtigten Interessen berücksichtigenden Boden eines billigen Ausgleichs sich zu einigen, so ergab in gar vielen Fällen die Haltung der Fraktion von vorne herein schon eine Politik, welche nach rechts wie nach links zum Anschluss geeignet war und eine Verständigung zwischen den liberalen und konservativen Parteien ermöglichte. Dabei gewann es bei einer äusserlichen Betrachtung allerdings auch manchmal den Anschein, als ob das Zentrum „herrsche“, während der Erfolg seiner Politik lediglich eine gegebene Folge der bestehenden Fraktionsverhältnisse war. Nach Liebers Tode (31. März 1902) wurde diese Politik positiver Mitarbeit auf allen Gebieten im Reichstag unter Führung der Abgg. Dr. Spahn und Freiherr von Hertling fortgesetzt. Der neue Zolltarif von 1902 und die Neugestaltung der Arbeiter-Versicherungs-Gesetzgebung fanden seine nachdrückliche Unterstützung. Entsprechend war die Haltung des Zentrums im preussischen Abgeordnetenhause unter Führung des Abgeordneten Dr. Porsch. Durch die Reichstagsauflösung vom 13. Dezember 1906 nochmals in die Opposition gedrängt, liess sich das Zentrum alsbald wieder zu positiver Mitarbeit bereit finden, als die Notwendigkeit der Sanierung der Finanzen des Reiches dies erforderte. Neuerdings bewährte es seine positiv schaffende Tendenz bei Verabschiedung einer Verfassung für Elsass-Lothringen und der Reichsversicherungsordnung, welche die gesamte Arbeiter-Versicherungs-Gesetzgebung nochmals umgestaltete, dann vereinheitlichte und kodifizierte, endlich bei der Militärvorlage und der Finanzgestaltung (Wehrbeitrag und neue Steuern) von 1913.

Die Stellung und Bewertung des Zentrums leidet in manchen Kreisen dauernd unter der Tatsache, dass Partei und Fraktion fast ausschliesslich aus Katholiken bestehen. Für die objektive politische Würdigung seiner Natur und die gerechte historische Beurteilung seiner Tätigkeit ist es unzulässig, diesen Gesichtspunkt in den Vordergrund zu schieben. Die öffentliche Meinung ist eben in Deutschland noch nicht dahin gelangt, dem Zentrum gegenüber das Verhältnis von Religion und Politik richtig zu würdigen und einer politischen Auffassung ohne Einfluss konfessioneller Vorurteile zugänglich zu sein. Der Gedanke der verfassungsmässigen Parität zwischen Katholiken und Protestanten ist noch keineswegs in allen Schichten des deutschen Volks zu vollem Verständnis durchgedrungen. Hält man politische und konfessionelle Gesichtspunkte in richtigem Verhältnis und betrachtet man die politische Haltung des Zentrums ohne Rücksicht auf das religiöse Bekenntnis der übergrossen Mehrzahl seiner Mitglieder, so wird eine nüchterne Geschichtsbetrachtung dazu kommen, anzuerkennen, dass das Zentrum nach seiner Natur und Geschichte die gegebene Mittelpartei ist, um zwischen den Gegensätzen von rechts und links zu vermitteln und namentlich in wirtschaftlichen und sozialen Fragen eine gangbare Verständigung durchzuführen. Zu dieser Rolle wird das Zentrum durch sein Programm ebenso angeleitet, wie durch die Zusammensetzung seines Mitgliederbestandes. Soll das Zentrum diese Rolle zum Heil von Staat und Kirche fortführen, so ist allerdings eine Abmilderung der konfessionellen Spannung nötig, welche zurzeit besteht und nicht ohne künstliche Mittel unterhalten wird. Ob noch in weiterem Umfange eine Vereinigung protestantischer Elemente, welche politisch auf dem Boden des Zentrums stehen, mit diesem zu erhoffen bleibt, steht dahin.



Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 2. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 24. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_2.pdf/40&oldid=- (Version vom 31.8.2021)