Textdaten
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Autor: Ludwig Weber
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Titel: Christlich-Soziale
Untertitel:
aus: Handbuch der Politik Zweiter Band: Die Aufgaben der Politik, Siebentes Hauptstück: Die politischen Parteien in Deutschland, 31. Abschnitt, S. 11−14
Herausgeber: Paul Laban, Adolf Wach, Adolf Wagner, Georg Jellinek, Karl Lamprecht, Franz von Liszt, Georg von Schanz, Fritz Berolzheimer
Auflage:
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Erscheinungsdatum: 1914
Verlag: Dr. Walther Rothschild
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Erscheinungsort: Berlin und Leipzig
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Quelle: Commons
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[11]
b) Christlich-Soziale.
Von
D. Ludwig Weber, München-Gladbach.


Die christlich-soziale Partei entstand 1878 als „Arbeiterpartei“ durch Hofprediger Stöcker unter Mithilfe von Professor Dr. Adolf Wagner. Als Stöcker von Metz nach Berlin kam, fand er die Mächte des Umsturzes damals schon in vollster, zügellosester Arbeit. Gründerära, Kulturkampf, Kirchen- und Wohnungsnot, eine schlechte Presse, Mangel an sozialer Reformtätigkeit und völlige Fühlungslosigkeit zwischen Besitzenden und Arbeitern hatten eine Verwirrung und Vergiftung der Volksseele herbeigeführt, und niemand wehrte ihr. Da trieb Stöcker „die Angst um [12] das Volk“ in die christlich-soziale Bewegung hinein. Er sah in der sozialen Frage einen Abgrund der vor dem deutschen Leben klaffte, und er sprang hinein, „zuerst ohne die Tiefe zu ermessen, weil er nicht anders konnte“. Stöcker war der Ansicht, dass die soziale Frage nicht lediglich eine wirtschaftliche, aus der modernen Produktionsweise herzuleitende sei. Er hielt mit Recht die soziale Frage auch für eine religiöse und sittliche, und er wollte in dem „Christlich-sozial“ zum Ausdruck bringen, dass es im Neuen Testament „allgemeine menschen- und weltbeherrschende Grundsätze“ auch für das soziale Gebiet gäbe: „Der Mensch ein Haushalter Gottes, das blosse Sammeln irdischer Schätze keine des Christen würdige Arbeit, Bruderliebe, Barmherzigkeit die höchste Pflicht“. Auf dem Grunde dieser biblischen Anschauung entstand das christlich-soziale Programm. Man stellte sich auf den Boden des christlichen Glaubens und der Liebe zu König und Vaterland. Man verwarf die gegenwärtige Sozialdemokratie als unpraktisch, unchristlich und unpatriotisch. Man erstrebte eine friedliche Organisation der Arbeiter, um in Gemeinschaft mit den anderen Faktoren des Staatslebens die notwendigen praktischen Reformen anzubahnen. Hieran wurden eine Anzahl Einzelforderungen an die Staatshilfe, die Geistlichkeit, die besitzenden Klassen und die Selbsthilfe geknüpft. Politisch ging dann – im Zusammenhang mit der „Berliner Bewegung“ – die christlich-soziale Arbeiterpartei allmählich in eine Gruppe der konservativen Partei über und wurde damit ihrer Freiheit und Aktionskraft, sowie des Antriebs zur Propaganda und Organisation beraubt. Wohl betrieb man in der konservativen Partei die Sozialpolitik, so gut man konnte, aber man fand viele Hindernisse. Von Theologen bekannten sich von Anfang an zur christlich-sozialen Partei ein Walter Burckhardt, Ernst Böhme, W. Philipps, L. Weber, Fritsch, Bernbeck, Schwartzkopff; von Männern anderer Stände ein Graf Solms-Laubach. ein Dr. Burckhardt, viele Fabrikanten des Siegerlandes, ein L. K. Victor in Bremen, ein F. Behrens und unzählige spätere Arbeiterführer auf evangelischer Seite. Die langsam sich entwickelnde, aber seit 1895 mehr und mehr als eine Macht auf den Plan tretende „Christlich-nationale Arbeiterbewegung“ sah in allen ihren Gliedern, ob katholisch oder evangelisch, in Stöcker einen ihrer ersten und besten Vorkämpfer. 1895 löste sich das Band zur konservativen Partei durch Schuld der Konservativen, die Stöcker aus dem Elferausschuss hinausdrängten, aber nicht ohne Mitschuld Stöckers, der Gerlach zu lange als Redakteur des „Volk“ festgehalten hatte. An der Vorberatung des erweiterten christlich-sozialen Programms, das zu Eisenach angenommen wurde, hatte im Hause Stöckers noch als konservativer Vertreter Graf Roon teilgenommen. Die Erweiterung der Grundlage der christlich-sozialen Partei zeigte sich in dem Eisenacher Programm in dessen erstem Satz: „Die christlich-soziale Partei (nicht mehr „Arbeiterpartei“) erstrebt auf dem Grund des Christentums und der Vaterlandsliebe die Sammlung der vom christlich-sozialen Geist durchdrungenen Volkskreise aller Schichten und Berufe“; die Erweiterung des Ziels in der Forderung des Kampfes „gegen den falschen Liberalismus und die drückende Kapitalsherrschaft, gegen das übergreifende Judentum und die revolutionäre Sozialdemokratie“. Stöcker vertrat die christlich-sozialen Ideen machtvoll im Parlament. 1879–98 war er Landtagsabgeordneter für Minden-Ravensberg, 1881–1893 und dann wieder seit 1898 Reichstagsabgeordneter für Siegen. Neben Bennigsen, Windthorst, Richter, Bebel war er der bedeutendste Redner des Parlaments, von einer Sachkenntnis auf seinem Gebiet, von einer Schlagfertigkeit und Wucht, wie sie nur selten auf der Parlamentstribüne vorkommen. Nach Stöckers von Hunderttausenden, ja Millionen betrauertem Tode ist die von ihm begründete Partei festgefügt geblieben und hat auf ihrem Parteitag zu Siegen 1910 ihre Grundsätze einmütig und einstimmig wie folgt festgelegt:

Grundlagen.

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1. Die christlich-soziale Partei erstrebt auf dem Grunde des Christentums und der Vaterlandsliebe die Durchdringung unseres Volkes in allen seinen Schichten und Berufen mit christlich-sozialem Geiste. Sie will allen schaffenden Ständen in Stadt und Land, dem Mittelstand wie der Arbeiterschaft, der Landwirtschaft wie der Industrie und dem Handel mit gleicher Freudigkeit dienen und auch für die gerechten Forderungen der Angestellten in Staats-, Gemeinde- und Privatbetrieben kräftig eintreten.
2. Die christlich-soziale Partei bekämpft deshalb alle unchristlichen und undeutschen Einrichtungen, die den inneren Zusammenbruch und den äusseren Umsturz herbeiführen müssen; insbesondere richtet sie ihre Waffen gegen die Auswüchse des Kapitalismus und die Sozialdemokratie. Sie erstrebt eine auf der Solidarität der Gesellschaft beruhende Wirtschaftsordnung.

[13]

3. Die christlich-soziale Partei erblickt die vornehmste Hilfe für die Schäden unseres Volkes in der Geltendmachung der Lebenskräfte des Evangeliums auf allen Gebieten. Sie will Staat und Gesellschaft, Haus und Persönlichkeit unter den Einfluss des lebendigen Christentums stellen und dadurch für die Erneuerung des deutschen Geistes die allein wirksame Grundlage schaffen helfen. Als eine der ersten Bedingungen dazu fordert sie die Besetzung der Beamtenstellen, besonders der hervorragenden, mit sittlich tüchtigen Persönlichkeiten.
4. Die christlich-soziale Partei sieht in dem korporativen Aufbau des Volkes unter Wahrung seiner politischen Rechte das Mittel wider den gewaltsamen Umsturz des Bestehenden. Sie erstrebt eine mit Pflichten und Rechten ausgestattete Berufsvertretung für jeden Stand.
5. Die christlich-soziale Partei verfolgt als Ziel die friedliche Lösung der sozialen Schwierigkeiten auf dem Wege einer starken Sozialreform durch die Verringerung der Kluft zwischen reich und arm und das ehrliche Zusammenwirken aller Stände an der Einheit, Freiheit, Ehre und Grösse des Vaterlandes unter der Führung eines volkstümlichen Kaisertums.

Die Einzelforderungen lauten:

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1. An die Staatspolitik:

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1. Erhaltung einer starken Monarchie. Bundesstaatliche Verfassung.
2. Wahrung der politischen Rechte des Volkes, insbesondere des Reichstagswahlrechts. Geheime Abstimmung für alle Wahlen.
3. Volle Selbständigkeit der Kirchen in kirchlichen Dingen. Keine Bedrückung der Freikirchen und Gemeinschaften.
4. Erhaltung der konfessionellen Schule. Wahrung der konfessionellen Rechte bei den bestehenden Simultanschulen. Möglichste Durchführung einer einheitlichen Volkserziehung in den ersten Schuljahren. Gesetzliche Zulassung freier Schulen unter staatlicher Aufsicht. Ausreichende Staatsbeihilfe zum Besuche höherer Schulen für begabte Kinder unbemittelter Eltern. Pflichtfortbildungsschule. Fachliche Schulaufsicht. Beaufsichtigung des Religionsunterrichts durch die Kirche.
5. Einrichtung der Staats- und Gemeindebetriebe zu Musterbetrieben. Organisationsrecht der Staats- und Gemeindeangestellten. Beamtenausschüsse.
6. Übernahme geeigneter Betriebe in öffentlich-rechtlichen Besitz, sofern es das Gemeinwohl erfordert.
7. Einführung eines Rechtes, das die Benutzung des Bodens fördert und die Wertsteigerung, die er ohne die Arbeit einzelner erhält, möglichst dem Volksganzen nutzbar macht.
8. Verminderung der Eide. Mitwirkung von Laien in der Rechtsprechung. Durchdringung unseres Rechtslebens mit sozialem Geist nach deutschen Anschauungen.
9. Schärfere Bekämpfung der öffentlichen Unsittlichkeit.

II. An die Wirtschafts- und Gewerbepolitik:

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1. Schutz der deutschen Arbeit in Stadt und Land. Schutz der einheimischen gegen die ausländischen Arbeiter.
2. Staatliche Massregeln zur Erhaltung eines gesunden und zur Einschränkung eines übergrossen Grundbesitzes. Schutz gegen Güterschlächterei. Förderung ländlicher Wohlfahrt und Heimatpflege. Reform des Hypothekenwesens im ländlichen Grundbesitz. Festsetzung der Verschuldungsgrenze und planmässige Entschuldung. Ansässigmachung ländlicher Arbeiter und innere Ansiedlung.
3. Befähigungsnachweis. Umfassende Bekämpfung des unlautern Wettbewerbs. Erweiterung der Innungsrechte. Staatliche Förderung von Handwerk und Gewerbe.
4. Erhaltung und Erhöhung der Konkurrenzfähigkeit der Industrie durch eine nationale Wirtschaftspolitik.

III. An die Sozialpolitik.

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1. Einordnung des Arbeiterstandes in den gesamten Volks- und Gesellschaftskörper auf Grundlage der Gleichberechtigung.
2. Sicherung des Koalitionsrechts. Staatliche Anerkennung der Berufsvereine, Förderung der Tarifbestrebungen. Reichsarbeitsamt.
3. Festsetzung eines gesundheitlichen Höchstarbeitstages nach Art des Berufes und Gewerbes. Schutz der Arbeiter und Angestellten gegen gesundheitswidrige Zustände in den Arbeitsräumen.
4. Ausbau der bestehenden Versicherungsgesetzgebung und Ausdehnung derselben auf alle Minderbemittelten. Verstärkter Wöchnerinnenschutz. Förderung der Arbeitslosenfürsorge.
5. Unentgeltlicher paritätischer Arbeitsnachweis.
6. Arbeiterschutz in der Hausindustrie. Festsetzung verbindlicher Mindestlohntarife durch Lohnämter für geeignete Massensachen.
7. Tunliche Durchführung der 36stündigen Sonntagsruhe.
8. Ausdehnung der Ruhe auf die Angestellten des Verkehrs- und Schankgewerbes, besonders an Sonntagen.
9. Öffentliche Regelung und Beaufsichtigung der Wohnungsverhältnisse.
10. Wirksame Beaufsichtigung aller Syndikate und Trusts und Massnahmen gegen ausbeuterische Privatmonopole.
11. Handelsaufsicht. Privatbeamten-Versicherung.

[14]

12. Kampf gegen Lehrlingszüchterei. Schutz der Jugendlichen bis zum 18. Lebensjahr. Verstärkter Frauenschutz.

IV. An die Steuerpolitik.

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1. Gerechte Verteilung der für Reich, Staat und Gemeinde notwendigen Steuern nach dem Grundsatz der Leistungsfähigkeit.
2. Progression der Einkommen- und Vermögenssteuer unter Berücksichtigung des Familienstandes.
3. Ausbildung der Erbschaftssteuer unter schärferer Besteuerung der grossen Vermögen. Wertzuwachssteuer. Luxussteuern.
4. Herstellung eines gerechten Verhältnisses in der Besteuerung der Geschäfte in beweglichen und unbeweglichen Gütern.
5. Sparsamkeit bei allen Aufwendungen in Reich, Staat und Gemeinde.

V. In der Judenfrage.

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1. Ausschluss der Juden aus allen obrigkeitlichen Ämtern und vom Offiziersstand.
2. Zulassung der Juden zu anderen Ämtern und zur Rechtsanwaltschaft nach dem Bevölkerungsverhältnis.
3. Verhinderung des Überwucherns der Juden in den christlichen höheren Knaben- und Mädchenschulen und der jüdischen Lehrkräfte an den Hochschulen.

VI. An die Kolonialpolitik.

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1. Menschliche Behandlung der Eingeborenen und Erziehung derselben zu selbständigen wirtschaftlichen Persönlichkeiten.
2. Erschliessung der Schutzgebiete durch Reichseisenbahnen.
3. Sicherung der unterirdischen Bodenschätze für das Reich.

Die christlich-soziale Partei hat nach ihrer Auffassung ein gutes Programm, dessen sie sich nicht zu schämen braucht. Sie ist eine Partei der kleinen Leute, der Handwerker, der Arbeiter, der kleinen Landwirte und Beamten. Aber hier bewahrt sie Tausende vor dem Hinabgleiten in eine uferlose Demokratie, indem sie sie an Christentum und Königtum bindet. Obwohl sie im deutschen Reiche nur drei Abgeordnete (Verbandsvorsitzender Franz Behrens, Dr. Burckhardt, Lic. Mumm) und im preussischen Landtag nur einen Abgeordneten (Wallbaum) hat, ist sie schon mehrfach ausschlaggebend gewesen und ist in der Budgetkommission sowie in vielen anderen Kommissionen vertreten. Die Mitarbeit von Franz Behrens bei Ausarbeitung der Reichsversicherungsordnung fand selbst bei entschiedenen Gegnern Zustimmung. Gedanken, die die christlich-soziale Partei als erste aller Parteien vertreten hat, sind inzwischen in manche andere Parteiprogramme übergegangen. Schon zweimal musste das christlich-soziale Programm neugestaltet werden, da die Regierung insbesondere seit der echt christlich-sozialen Kaiserlichen Botschaft von 1881 viele soziale Forderungen erfüllt hat. Die mächtige Anregung zu christlich-sozialer Reformarbeit bleibt das unvergängliche Verdienst der christlich-sozialen Partei.