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das Volk“ in die christlich-soziale Bewegung hinein. Er sah in der sozialen Frage einen Abgrund der vor dem deutschen Leben klaffte, und er sprang hinein, „zuerst ohne die Tiefe zu ermessen, weil er nicht anders konnte“. Stöcker war der Ansicht, dass die soziale Frage nicht lediglich eine wirtschaftliche, aus der modernen Produktionsweise herzuleitende sei. Er hielt mit Recht die soziale Frage auch für eine religiöse und sittliche, und er wollte in dem „Christlich-sozial“ zum Ausdruck bringen, dass es im Neuen Testament „allgemeine menschen- und weltbeherrschende Grundsätze“ auch für das soziale Gebiet gäbe: „Der Mensch ein Haushalter Gottes, das blosse Sammeln irdischer Schätze keine des Christen würdige Arbeit, Bruderliebe, Barmherzigkeit die höchste Pflicht“. Auf dem Grunde dieser biblischen Anschauung entstand das christlich-soziale Programm. Man stellte sich auf den Boden des christlichen Glaubens und der Liebe zu König und Vaterland. Man verwarf die gegenwärtige Sozialdemokratie als unpraktisch, unchristlich und unpatriotisch. Man erstrebte eine friedliche Organisation der Arbeiter, um in Gemeinschaft mit den anderen Faktoren des Staatslebens die notwendigen praktischen Reformen anzubahnen. Hieran wurden eine Anzahl Einzelforderungen an die Staatshilfe, die Geistlichkeit, die besitzenden Klassen und die Selbsthilfe geknüpft. Politisch ging dann – im Zusammenhang mit der „Berliner Bewegung“ – die christlich-soziale Arbeiterpartei allmählich in eine Gruppe der konservativen Partei über und wurde damit ihrer Freiheit und Aktionskraft, sowie des Antriebs zur Propaganda und Organisation beraubt. Wohl betrieb man in der konservativen Partei die Sozialpolitik, so gut man konnte, aber man fand viele Hindernisse. Von Theologen bekannten sich von Anfang an zur christlich-sozialen Partei ein Walter Burckhardt, Ernst Böhme, W. Philipps, L. Weber, Fritsch, Bernbeck, Schwartzkopff; von Männern anderer Stände ein Graf Solms-Laubach. ein Dr. Burckhardt, viele Fabrikanten des Siegerlandes, ein L. K. Victor in Bremen, ein F. Behrens und unzählige spätere Arbeiterführer auf evangelischer Seite. Die langsam sich entwickelnde, aber seit 1895 mehr und mehr als eine Macht auf den Plan tretende „Christlich-nationale Arbeiterbewegung“ sah in allen ihren Gliedern, ob katholisch oder evangelisch, in Stöcker einen ihrer ersten und besten Vorkämpfer. 1895 löste sich das Band zur konservativen Partei durch Schuld der Konservativen, die Stöcker aus dem Elferausschuss hinausdrängten, aber nicht ohne Mitschuld Stöckers, der Gerlach zu lange als Redakteur des „Volk“ festgehalten hatte. An der Vorberatung des erweiterten christlich-sozialen Programms, das zu Eisenach angenommen wurde, hatte im Hause Stöckers noch als konservativer Vertreter Graf Roon teilgenommen. Die Erweiterung der Grundlage der christlich-sozialen Partei zeigte sich in dem Eisenacher Programm in dessen erstem Satz: „Die christlich-soziale Partei (nicht mehr „Arbeiterpartei“) erstrebt auf dem Grund des Christentums und der Vaterlandsliebe die Sammlung der vom christlich-sozialen Geist durchdrungenen Volkskreise aller Schichten und Berufe“; die Erweiterung des Ziels in der Forderung des Kampfes „gegen den falschen Liberalismus und die drückende Kapitalsherrschaft, gegen das übergreifende Judentum und die revolutionäre Sozialdemokratie“. Stöcker vertrat die christlich-sozialen Ideen machtvoll im Parlament. 1879–98 war er Landtagsabgeordneter für Minden-Ravensberg, 1881–1893 und dann wieder seit 1898 Reichstagsabgeordneter für Siegen. Neben Bennigsen, Windthorst, Richter, Bebel war er der bedeutendste Redner des Parlaments, von einer Sachkenntnis auf seinem Gebiet, von einer Schlagfertigkeit und Wucht, wie sie nur selten auf der Parlamentstribüne vorkommen. Nach Stöckers von Hunderttausenden, ja Millionen betrauertem Tode ist die von ihm begründete Partei festgefügt geblieben und hat auf ihrem Parteitag zu Siegen 1910 ihre Grundsätze einmütig und einstimmig wie folgt festgelegt:

Grundlagen.

1. Die christlich-soziale Partei erstrebt auf dem Grunde des Christentums und der Vaterlandsliebe die Durchdringung unseres Volkes in allen seinen Schichten und Berufen mit christlich-sozialem Geiste. Sie will allen schaffenden Ständen in Stadt und Land, dem Mittelstand wie der Arbeiterschaft, der Landwirtschaft wie der Industrie und dem Handel mit gleicher Freudigkeit dienen und auch für die gerechten Forderungen der Angestellten in Staats-, Gemeinde- und Privatbetrieben kräftig eintreten.
2. Die christlich-soziale Partei bekämpft deshalb alle unchristlichen und undeutschen Einrichtungen, die den inneren Zusammenbruch und den äusseren Umsturz herbeiführen müssen; insbesondere richtet sie ihre Waffen gegen die Auswüchse des Kapitalismus und die Sozialdemokratie. Sie erstrebt eine auf der Solidarität der Gesellschaft beruhende Wirtschaftsordnung.
Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 2. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 12. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_2.pdf/28&oldid=- (Version vom 29.8.2021)