Deutschkonservative und Reichspartei

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Autor: Georg von Below
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Titel: Deutschkonservative und Reichspartei
Untertitel:
aus: Handbuch der Politik Zweiter Band: Die Aufgaben der Politik, Siebentes Hauptstück: Die politischen Parteien in Deutschland, 31. Abschnitt, S. 1−11
Herausgeber: Paul Laban, Adolf Wach, Adolf Wagner, Georg Jellinek, Karl Lamprecht, Franz von Liszt, Georg von Schanz, Fritz Berolzheimer
Auflage:
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Erscheinungsdatum: 1914
Verlag: Dr. Walther Rothschild
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Erscheinungsort: Berlin und Leipzig
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[1]
Siebentes Hauptstück.


Die politischen Parteien in Deutschland.




31. Abschnitt.


a) Deutschkonservative und Reichspartei.
Von
Geh. Hofrat Dr. Georg v. Below,
o. Professor der Geschichte an der Universität Freiburg (Baden).


Literatur: Bearbeiten

Das Buch von O. Stillich, „Die Konservativen, eine wissenschaftliche Darlegung ihrer Grundsätze und ihrer geschichtlichen Entwicklung“ (1908), ist ein völliger Missgriff. Vgl. die Kritiken von G. Küntzel in der Deutschen Literaturzeitung 1909, Nr. 40, Sp. 2540 ff. und von F. K. Wittichen in der Neuen Preussischen Zeitung 1908. Nr. 243 und 245 (vom 24. und 26. Mai).
Auch F. Naumann, „Die politischen Parteien“ (1910), liefert nicht mehr als eine Tendenzschrift. Vgl. meinen Art.: „Ein Tendenzroman“, Grenzboten vom 15. Febr. 1911, S. 325 ff.
Ferner: W. Andreas, Zur Geschichte des deutschen Liberalismus, Histor. Ztschr. 107, S. 92 ff. sowie die Rezensionen von Ad. Köster im Archiv für Sozialwissenschaft 32, S. 250 f. und von mir in der Ztschr. f. Politik Bd. 4, S. 411 ff.
Die reichhaltigsten und tiefsten Aufschlüsse über die Anfänge der konservativen Partei verdankt man F. Meinecke, Weltbürgertum und Nationalstaat (2. Aufl. München 1911).
Zusammenhängend habe ich „die Anfänge einer konservativen Partei in Preussen“ in einer in der „Internationalen Wochenschrift“ 1911 Sept. 2 und 9 erschienenen Abhandlung dargestellt.
An die Bismarckliteratur braucht nur erinnert zu werden.
Viel Belehrung schöpft man aus den Arbeiten von H. v. Petersdorff über konservative Staatsmänner und Parteiführer: vor allem der Biographie Kleist-Retzows (1907), ferner zahlreichen Artikeln in der Allg. deutschen Biographie und Zeitschriftenaufsätzen.
Im übrigen seien hier notiert:
A. Wahl, Beiträge zur deutschen Parteigeschichte im 19. Jahrhundert, Histor. Ztschr. 104, S. 537 ff.
E. Salzer, Stahl und Rotenhan (Briefe), Historische Vierteljahrsschrift 1911, S. 199 ff.
F. Wegener, Die deutschkonservative Partei und ihre Aufgaben für die Gegenwart, 3. Aufl., Berlin 1908 (vgl. dazu Grenzboten 1908, IV, S. 459 f.).
Konservatives Handbuch, dritte umgearbeitete und vermehrte Auflage, bearbeitet und herausgegeben von Angehörigen beider konservativen Parteien (abgeschlossen am 18. Januar 1898). Berlin 1898.
A. Röder, Kulturkonservatismus. Separatabdruck aus der „Deutschen Reichspost“. Stuttgart 1911.
H. Rehm, Deutschlands politische Parteien, Jena 1912.
R. Käller, Die konservative Partei in Minden-Ravensberg. Heidelberger Dissert. v. 1912.
M. v. Hagen, Freisinnige Kolonialpolitik unter Bismarck, Grenzboten vom 13. Juli 1913. SUUB Bremen
Als Organ der Freikonservativen Partei ist anzusehen die Wochenschrift:
„Das neue Deutschland“, hera. v. Grabowsky (Berlin, seit 1912).
Der deutschkonservativen Partei steht nahe:
„Konservative Monatsschrift“ (Berlin, Reimar Hobbing).

Die konservativen[1] Bestrebungen des 19. Jahrhunderts haben hauptsächlich zwei Ausgangspunkte, die in erheblichem Umfang Gegensätze darstellen: die ständischen und die monarchisch-absolutistischen Anschauungen. Doch erscheinen die ständischen Anschauungen frühzeitig verbunden [2] mit den romantischen Ideen und durch sie modifiziert. Überhaupt treten jetzt die ständischen und die absolutistischen Aspirationen nicht einfach in der alten Gestalt hervor. Alles erhält einen neuen Zusammenhang. Zwischen den ständischen und absolutistischen Gedanken stellen sich ferner allmählich Ausgleiche und Verbindungen her, freilich unter dauernder Wahrung eines gewissen Gegensatzes. Eben mit dieser Mannigfaltigkeit der Richtungen ist es gegeben, dass diejenigen, die die historischen Verhältnisse erhalten sehen wollten, Änderungen der bestehenden Zustände nicht schlechthin ablehnten. So sind in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wichtige Reformen von den alten Mächten, insbesondere der Monarchie und dem Beamtentum, durchgesetzt worden und zwar mehrfach im Gegensatz gegen die Gruppen, die man als liberale bezeichnen könnte. Andererseits traten aus den ständischen Konservativen Wünsche auf Einschränkung des absoluten Regiments hervor und berührten sich hier teilweise mit den Wünschen der Liberalen.

Den grössten Einfluss auf die Ausbildung konservativer Anschauungen im Abendland übte der Engländer Burke aus. Er war der gefeierte Held der politischen Romantiker. Den Kampf gegen das liberale Manchestertum des Adam Smith führte der deutsche Romantiker Adam Müller. Vorübergehend hat schon in der Zeit der Napoleonischen Herrschaft, als Ausdruck der romantischen Stimmung, in Preussen eine konservative Zeitung bestanden. Der Redakteur war kein geringerer als Heinrich von Kleist. Das Programm dieses Kreises gipfelte in den Gedanken: Christentum, Königstreue, Schutz historisch gewordener Rechte, Befreiung des Vaterlandes von der fremden Herrschaft.

Wesentliche Ideen der Romantiker übernahm die Burschenschaft. Die burschenschaftliche Bewegung hatte für die Entfaltung eines politischen Lebens in Deutschland grosse Bedeutung. Aus ihr sind sowohl namhafte Konservative wie Liberale hervorgegangen. Je nachdem man bei dem nationalen Moment, das die Burschenschaft so energisch erfasste, die Selbstbestimmung der Kation mehr nach innen oder nach aussen betonte, gelangte man zu liberalen oder zu konservativen Anschauungen. Früh wurde allerdings der burschenschaftlichen Bewegung, wesentlich durch die Demagogenverfolgung, eine einseitigere Richtung gegeben.

Bedeutungsvoll für die Entwickelung eines politischen Lebens war weiterhin – wir berücksichtigen zunächst die Entwicklung in Preussen – die Regierung König Friedrich Wilhelms IV. Zwei Streitpunkte treten hier namentlich in den Vordergrund: die kirchliche und die Verfassungsfrage; auch der kirchliche Streit musste zum grossen Teil innerhalb des Staats durchgekämpft werden. Es galt, für das positive Christentum, das sich seit den Freiheitskriegen stärker entwickelt hatte, eine gesicherte Stellung zu erringen gegen den alten Rationalismus, der bis dahin in der Kirche noch in namhaftem Umfang der beatus possidens war (vgl. den Kampf um die Professuren in der rationalistischen Theologenfakultät in Halle), und gegen neue Formen des kirchlichen Liberalismus. Eben in dieser Zeit gewinnt das Programm der Konservativen nach der kirchlichen Seite hin eine bestimmtere Richtung. In der Verfassungsfrage gingen ihre Anschauungen, wie schon angedeutet, auseinander: diejenigen, die an absolutistische Gedanken anknüpften, verhielten sich sehr ablehnend, während die Konservativen ständischer Richtung einen Ausbau der Verfassung für erwägenswert hielten. Überwiegend traten freilich auch diese in erster Linie für die Rechte des Königtums ein, und so erschien als allgemeiner Gegensatz der Konservativen und der Liberalen die abweichende Auffassung von dem Mass der Rechte, die der monarchischen Gewalt zuzuweisen seien.

Neben der Frage der Einführung der Verfassung in den deutschen Einzelstaaten stand damals die der politischen Einigung des ganzen deutschen Volks. Es ergibt sich schon aus dem vorhin Bemerkten, dass die Konservativen der nationalen Idee keineswegs ablehnend gegenüberstanden. Die Bewahrung deutscher Eigenart war eine ihrer mit grösstem Eifer erhobenen Forderungen. Die Verbreitung und der Ausbau der nationalen Idee sind von konservativen Forschern und Politikern sehr wesentlich gefördert worden. Aber bei der Wertschätzung, die die Konservativen den überkommenen staatlichen Gewalten widmeten, bei ihrem legitimistischen Zug vermochten sie nicht den Übergang zu der Forderung der politischen Zusammenfassung der ganzen Nation zu finden. Den Nationalstaat sahen sie nicht in dem nationalen Einheitsstaat, sondern in dem der Nation entsprossenen Einzelstaat. Und sie fanden ja auch, wenn ihnen das Verfassungsideal des Liberalismus oder gar der Demokratie vorgehalten wurde, darin den Gegensatz nicht bloss gegen einzelne territoriale Berechtigungen der Fürsten, sondern gegen die gesamte Rechtsordnung, die [3] ihnen am Herzen lag, ja sogar teilweise einen Ausdruck nivellierend-kosmopolitischer Bestrebungen, der von einer nationalen Idee kaum etwas übrig liess. Aber gegenwärtig war den Konservativen der nationale Gedanke, und zu einer späteren Zeit gewann auch die ldee der politischen Einigung von ganz Deutschland die entschiedenste Zustimmung bei ihnen.

Die äussere Organisation brachte den konservativen Anschauungen und Bestrebungen das Jahr 1848. Jetzt schufen sich die Konservativen ein grosses publizistisches Organ, die Neue Preussische (Kreuz-)Zeitung. Sie bildeten Vereine und agitierten.

Der Kampf von 1848 war wesentlich ein Kampf um die Verfassung. Die Liberalen und die Demokraten erhielten als die eifrigsten Verfechter der Forderung einer Verfassung zunächst die politische Führung. Sehr bald indessen offenbarte es sich, dass sie der Aufgabe der Führung nicht gewachsen waren, nicht zu regieren wussten. Die Konservativen erwiesen sich als die politisch Fähigeren. Die konservativen Elemente und die konservativen Anschauungen boten den festeren Halt. Man sah überhaupt in einem konservativen Regiment die beste Stütze gegen die Fortsetzung oder Erneuerung der Revolution. So bewirkten die Erfahrungen des Revolutionsjahrs eine Verstärkung der konservativen Position.

Mit den konstitutionellen Einrichtungen befreundeten sich die Konservativen seit 1848. Zwar hat eine Gruppe sie noch rückgängig machen wollen. Allein solchen Versuchen wurde innerhalb der konservativen Partei selbst Widerstand geleistet. Und es bleibt ein Verdienst der Konservativen, dass sie unter Ablehnung der Verfassungsformen, die die Volkssouveranetät zum Ausdruck bringen wollten, das Recht des Monarchen dauernd verteidigten. Der erste Theoretiker, der klar und scharf das monarchische und das parlamentarische Prinzip in der konstitutionellen Verfassung unterschieden hat, ist ein Konservativer gewesen, J. F. Stahl. Er hat die Form der konstitutionellen Monarchie empfohlen, die Bismarck zur praktischen Wahrheit gemacht hat und die für Deutschland und seine Einzelstaaten die notwendige Verfassungsform ist.

Das Wahlrecht, das Preussen in jener Zeit erhielt, ist das Dreiklassenwahlrecht. Es sei hier angemerkt, dass dies nicht etwa, wie heute so oft behauptet wird, einem besonderen Wunsch des Landadels der östlichen Provinzen entsprungen ist. Es ist vielmehr von bürgerlichen rheinischen Politikern eingeführt worden und stammt auch aus der Rheinprovinz, nämlich aus der rheinischen Gemeindeordnung von 1845. In der Frage des Wahlrechts gingen Konservative und Liberale (anders die Demokraten) damals kaum auseinander, wie denn auch in der Zeit der Neuen Ära die Liberalen, als sie die Kammermehrheit hatten, nicht daran dachten, das Wahlrecht zu ändern.[2]

Für die spätere Gestaltung der Parteiverhältnisse ist die Politik Bismarcks von eingreifendem Einfluss gewesen, und zwar sind zwei Perioden dieses Einflusses zu unterscheiden.

Die erste setzt mit dem J. 1866 ein. Die territorialen Veränderungen, die damals durchgeführt wurden, verstiessen gegen das alte konservative Programm der Legitimität. Trotzdem bekannten sich die preussischen Konservativen (von einer vereinzelten Ausnahme abgesehen) mit überraschender Schnelligkeit zu der neuen Gestaltung der Dinge; einer Schnelligkeit, die nur verständlich wird, wenn man sich gegenwärtig hält, dass die nationale Idee von jeher in ihrem Kreis eine grosse Rolle spielte.[3] Die Unzufriedenheit mit Bismarcks Werk von 1866 war bei den Liberalen (Gervinus!) und gar den Demokraten ungleich mehr verbreitet als bei den Konservativen. Die Siege von 1866 brachten der konservativen Partei auch bei den politischen Wahlen grosse Erfolge.

Wenn die Konservativen sich also durchaus auf den Boden der neuen Ereignisse stellten und von ihnen sogar Nutzen zogen, so waren sie dagegen nicht damit einverstanden, dass Bismarck mit seinen Gegnern aus der Konfliktszeit Anknüpfung suchte. Das Indemnitätsgesetz, das diesem Zweck diente, berührte viele von ihnen unsympathisch, weil es in Widerspruch mit der verfassungsrechtlichen [4] Haltung zu stehen schien, die die Regierung im Verein mit ihnen in der Konfliktszeit eingenommen hatte. Es kam jetzt auch zu einer Abspaltung von der Partei: in der ersten Session des am 3. Juli 1866 gewählten Landtags trennte sich von der konservativen Fraktion eine Gruppe von Abgeordneten, um die freikonservative Fraktion zu bilden (die übrigens auch mancherlei Zuzug von den Liberalen erhielt).[4] Das Hauptmotiv der Bildung der freikonservativen Partei ist in der damaligen offiziellen Erklärung ausgesprochen, „dass auch die konservative Partei im Lande sich auf den Boden der Verfassung stellen müsse, deren Bestand bei weiterer Fortdauer des Konflikts, mochte dieser auch wesentlich durch die Schuld der Fortschrittspartei herbeigeführt sein, immerhin in Frage gestellt schien“. Als ihre besondere Aufgabe betrachteten die Freikonservativen die Unterstützung der Politik Bismarcks und, im Zusammenhang damit, die Herbeiführung eines Zusammenarbeitens von Konservativen und gemässigten Liberalen. Im Winter 1867 bildete sich auch im konstituierenden Reichstag eine freikonservative Fraktion, die weiterhin den Namen „Reichspartei“ annahm. Aber diese Veränderungen in der Stellung der alten Konservativen zur Regierung waren noch nicht gerade erheblich. Sie arbeiteten mit ihr bis zur Reichsgründung durchaus zusammen. Dagegen brachte der Kulturkampf eine wirkliche Entfremdung zwischen ihnen. Nicht bloss die einzelnen Kulturkampfgesetze und diese nicht einmal in erster Linie, sondern vor allem der Geist, in dem der Kulturkampf von den Liberalen geführt wurde,[5] und überhaupt die allgemeinen Tendenzen dieser Blütezeit des Liberalismus wurden von den Konservativen verurteilt. Zwar stellten sie sich auch jetzt nicht übereinstimmend zur Regierung. Abgesehen von den Freikonservativen, die die Politik Falks vollkommen unterstützten, bildeten sich im preussischen Abgeordnetenhaus die Gruppen der „Altkonservativen“ und der „Neukonservativen“, deren Unterschied darin begründet war, dass die letzteren die Fühlung mit dem Kanzler nicht verlieren wollten. Doch waren beide Richtungen in der Abneigung gegen den Geist des Kulturkampfs, durch den auch die protestantische Kirche in Mitleidenschaft gezogen wurde, und gegen das Manchestertum einig. Einmal kam es in jener Zeit zu einem heftigen Zusammenstoss zwischen Bismarck und den Konservativen (freilich nicht der Partei als solcher): durch die Äraartikel der Kreuzzeitung. Es ist ein eigentümliches Spiel der Geschichte, dass diese Artikel, die Bismarck so sehr erregten und gegen die damaligen Konservativen einnahmen, sachlich mit dazu gedient haben, eine Stimmung für seine spätere Wirtschaftspolitik vorzubereiten, wie denn auch der Verfasser der Äraartikel, Perrot, später als konservativer Reichstagsabgeordneter die Bismarcksche Politik unterstützt hat. Die Artikel richteten sich gegen die manchesterlich-börsenfreundlichen Minister Delbrück und Camphausen und fügten ausserdem törichterweise eine Spitze gegen Bismarck hinzu. Dieser aber hat jene Minister nachher selbst abgeschüttelt.

Wie hiermit schon angedeutet wird, fand bald wieder eine Annäherung zwischen Bismarck und den Konservativen statt. Eingeleitet wird sie durch die Gründung der „Deutschkonservativen“ Partei im J. 1876. Wenn diese auch nicht um der Annäherung willen erfolgte, so trug doch die dadurch bewirkte Kräftigung der Konservativen dazu bei, später die Bismarcksche Politik zu stützen. In der „Deutschkonservativen Partei“ vereinigten sich wieder Alt- und Neukonservative. Das Programm („Der Aufruf“) von 1876 fordert „die Stärkung und den Ausbau der für unser Vaterland gewonnenen Einheit auf dem Boden der Reichsverfassung in nationalem Sinne“, daneben die „Wahrung der berechtigten Selbständigkeit und Eigenart der einzelnen Staaten, Provinzen und Stämme“. Der Kulturkampf wird als „ein Unglück für Reich und Volk“ bezeichnet, jedoch dem Staat das „Recht zuerkannt, kraft seiner Souveränetät sein Verhältnis zur Kirche zu ordnen“; „wir werden die Staatsgewalt den entgegenstehenden Ansprüchen der römischen Kurie gegenüber unterstützen“. Endlich wird die Bekämpfung des Manchestertums verlangt und es für „Pflicht“ erklärt, „den Ausschreitungen der sozialistischen Irrlehren entgegenzutreten“.

[5] 1878 beginnt eine zweite Periode des Bismarckschen Einflusses auf die Parteien: es ist die grosse Zeit seiner inneren Politik: sie wird charakterisiert durch den Kampf gegen die Sozialdemokratie und eine eingreifende Sozial- und Wirtschaftspolitik. Deutschland geht zum Schutzzollsystem über. Es handelt sich aber nicht bloss um den Schutzzoll, sondern der manchesterliche Standpunkt der liberalen Ära wird in der Sozial- und Wirtschaftspolitik überhaupt verlassen. Die spezifischen Kulturkampfgesetze werden nach und nach beseitigt. In eben jenem Jahr 1878 erfolgte auch die Aussöhnung Bismarcks mit den Konservativen. Inwiefern das Programm der Deutschkonservativen von 1876 Anknüpfungspunkte für die neue Politik des Kanzlers bot, ergibt sich aus den bisherigen und den weiterhin zu machenden Darlegungen.

Bevor wir nun die Gestaltung des konservativen Programms, wie sie sich unter dem Einfluss der Bismarckschen Politik vollzog, im Zusammenhang betrachten, werfen wir einen Blick auf die konservativen Parteibildungen in den ausserpreussischen Staaten. Zum grossen Teil gehen die konservativen Parteibildungen hier auf dieselben Voraussetzungen zurück wie in Preussen: altständische Interessen, die Verteidigung der Stellung des Monarchen, kirchliche Gesichtspunkte, die romantische Bewegung. Aber es bestehen auch namhafte Unterschiede, oder es tritt wenigstens das eine Moment an dem einen Ort mehr in den Vordergrund als an dem andern. So stand bei den badischen Konservativen seit den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts das kirchliche Interesse zweifellos im Vordergrund, was sich damit ergab, dass die liberale Regierung sich mit dem kirchlichen Liberalismus identifizierte; wenn die positiv-kirchlichen Kreise nicht alle Bedeutung verlieren wollten, mussten sie nach politischem Einfluss streben. Ein Gegensatz zwischen Liberalismus und Monarchie war andererseits hier damals nicht vorhanden. In Württemberg zeigt sich ebenfalls ein starker Zusammenhang zwischen den positiv kirchlichen Kreisen und der konservativen Parteibildung; aber in anderer Art als in Baden. In mehreren Staaten wurde die Bildung einer konservativen Partei gehindert durch die endlosen Domänenstreitigkeiten. Die Weigerung der Regierungen, die Domänen als Staatseigentum anzuerkennen, rief hier eine starke Opposition hervor, während in Preussen, wo die Domänen längst als Staatseigentum anerkannt waren, ein solcher Stein des Anstosses nicht bestand. Jene Streitigkeiten beeinträchtigten die Popularität der Monarchie. Wenn z. B. in Gotha und Meiningen Jahrzehnte lang nie konservativ, sondern liberal oder freisinnig oder sozialistisch gewählt worden ist (im Gegensatz zu benachbarten preussischen Distrikten), so erklärt sich diese Erscheinung zum guten Teil gewiss aus den Domänenstreitigkeiten und ihren weiteren Wirkungen. Partikularistischer Charakter haftete in den nichtpreussischen Staaten verschiedenen Parteien an. Im Königreich Sachsen hatten neben den Freisinnigen die Konservativen einen partikularistischen Zug. Auch bei den württembergischen Konservativen finden wir ihn, doch nicht durchweg und gemässigt durch die Sympathie, die die positiv-kirchlich gerichteten württembergischen Konservativen mit den preussischen Konservativen verband.[6] Die partikularistische Partei par excellence ist in Württemberg die demokratische (Volkspartei).

Bismarck hat geglaubt, er werde durch seine Wirtschaftspolitik die alten Parteien zersprengen. Obwohl diese seine Hoffnung sich im vollen Masse nicht erfüllt hat, so hat seine Wirtschaftspolitik immerhin eine grosse Wirkung auf die Stellung der Parteien ausgeübt. In Verbindung mit andern Momenten – so dem Zusammenarbeiten der ausserpreussischen Konservativen mit den preussischen Konservativen (Bildung der deutschkonservativen Partei) und Freikonservativen, dem Gegensatz gegen die Sozialdemokratie, den Beobachtungen über den Aufschwung im allgemeinen, den die Reichsgründung gebracht hat – hat die Wirtschaftspolitik Bismarcks die Folge gehabt, dass der Partikularismus, soweit er sich noch in den konservativen Parteien einzelner Staaten fand, verschwunden ist. Ein interessantes Beispiel liefert für diese Entwickelung der württembergische Politiker Varnbühler: er, der in den sechziger Jahren als württembergischer Minister vom partikularistischen Standpunkt aus im Einvernehmen mit der demokratischen Partei (ohne ihr im übrigen anzugehören) Bismarcks Politik heftig bekämpft hatte, war bei dessen Wirtschaftspolitik dessen [6] Hauptratgeber und schloss sich als Reichstagsabgeordneter der deutschen Reichspartei, also der spezifischen Partei Bismarcks, an.[7]

Wenden wir uns nunmehr zu einer systematischen Betrachtung des konservativen Programms, wie es sich seit der Zeit der Sozial- und Wirtschaftspolitik Bismarcks gestaltet hat. Wir schicken voraus, dass das Programm der Deutschkonservativen von 1876 im Dezb. 1892 in dem „Tivoli-Programm“ wesentlich nach jener Richtung hin vervollständigt und umgestaltet wurde. Zwischen den Konservativen und den Freikonservativen hat die stärkste Spannung in der Zeit des Kulturkampfs bestanden. Seit dem Beginn der Ära der Wirtschaftspolitik Bismarcks sind beide, mit manchem Wechsel im einzelnen, einander näher gekommen.

Wie schon bemerkt, stellten sich die Konservativen durchaus auf den Boden des neuen Deutschen Reichs. Ihre Auffassung von dem Verhältnis des Reichs zu den Einzelstaaten ist in dem Programm von 1876 formuliert. Die nationale Idee ist für sie zu einer Grundlage ihrer politischen Haltung geworden;[8] sie betrachten die politischen Dinge wesentlich unter dem nationalen Gesichtspunkt. Selbstverständlich treten auch noch andere Motive hinzu: bei der Inaugurierung der Sozialpolitik z. B. waren religiöse Motive mit wirksam. Aber der nationale Gedanke wird überall in den Vordergrund gestellt. Hiernach steht es von vornherein fest, dass alle partikularistischen Tendenzen aus den heutigen konservativen Kreisen verbannt sind. Die sächsischen Konservativen z. B. wissen heute nichts mehr vom Partikularismus. Die Partei verlangt nicht den Einheitsstaat und fordert Achtung der Einrichtungen der Einzelstaaten aus grundsätzlicher Pietät gegen das historisch Überlieferte. Allein es wird sich nicht nachweisen lassen, dass die Konservativen irgendwo die freie Bewegung des Reichs hindern, wo das nationale Interesse sie heischt.

In der inneren Verfassung des Reichs und der Einzelstaaten legen die Konservativen entscheidendes Gewicht auf die monarchischen Grundlagen unseres Staatswesens und auf eine kräftige obrigkeitliche Gewalt. Sie treten für das „Königtum von Gottes Gnaden“ ein: mit dieser Formel wird der Gedanke ausgedrückt, dass die Krone nicht auf einer Übertragung durch das Volk, sondern auf eigenem historischen Recht der Dynastie beruht.[9] Wenn die Konservativen hiermit die Idee der Volkssouveränität ablehnen, so halten sie andererseits, wie schon angedeutet, an der verfassungsmässigen Beschränkung der Monarchie durchaus fest. Aber es ist die bestehende konstitutionelle Monarchie, welche sie verteidigen. Das parlamentarische Regiment verwerfen sie, weil es den bestehenden Verfassungen nicht entspricht, mit den Verhältnissen unseres Bundesstaats ebensowenig wie mit unserem Parteiwesen vereinbar ist und eine Verschlechterung der allgemeinen politischen Situation bedeuten würde. In der konstitutionellen Monarchie wird den Parteien ein Einfluss eingeräumt, ihre Herrschaft aber ausgeschlossen.

Die Frage des Wahlrechts für die parlamentarischen Körperschaften ist erst in neuerer Zeit Gegenstand eifrigerer Diskussion geworden. Lange fanden sich Liberale und Fortschrittler von dem beschränkten Wahlrecht, das für die Landtage bestand, befriedigt. Die Einführung des allgemeinen, [7] gleichen und direkten Wahlrechts ist da, wo sie erfolgt ist, auch nicht zum besonderen Behagen der Liberalen durchgesetzt worden.[10] Wenn sie heute hier und da von ihnen verlangt wird, so geschieht es wesentlich aus taktischen Gründen. Von einem Teil der Liberalen und den Demokraten wird das allgemeine, gleiche, direkte Wahlrecht freilich wie ein Naturrecht gefordert. Dem gegenüber stellen die Konservativen bei jedem Wahlrecht die Frage, ob mit ihm eine Regierung des Staats noch möglich sei. Sie gehen von der Erfahrung aus, dass sich bisher noch kein bestimmtes Wahlrecht als ein Allheilmittel erwiesen hat. So wenig die Partei die Absicht hat, das bestehende Reichstagswahlrecht zu beseitigen, so widerstrebt sie doch einer weiteren Demokratisierung unserer Verfassungsverhältnisse. In den verschiedenen Bundesstaaten nehmen die Konservativen zur Wahlrechtsfrage im einzelnen eine abweichende Haltung ein. In Preussen sind sie zu einer Reform des Dreiklassenwahlrechts in Einzelheiten bereit, halten jedoch an einer starken Abstufung fest. Preussen würde, wie die Dinge zurzeit liegen, die Aufgabe, die ihm für das Reich zugewiesen ist, nicht erfüllen können, wenn es ein vollkommen demokratisches Wahlrecht hätte.[11] Die Konservativen sehen auch eine einfach schematische Verteilung der Reichstagsmandate nach der Bevölkerungszahl als unzweckmässig an, in der Erwägung, dass Beschlüsse, die schlechthin durch die staatliche Notwendigkeit diktiert waren, doch nur unter der Voraussetzung der jetzigen Wahlkreiseinteilung (mit ungleicher Bevölkerungszahl) zustande gekommen sind.[12] Die Konservativen halten die Heranziehung aller Schichten und Gruppen der Bevölkerung zur Teilnahme am politischen Leben für förderlich; sie hegen jedoch nicht die Meinung, dass die mit dieser Teilnahme gegebenen Vorteile an ein absolut gleiches Wahlrecht geknüpft sind. Vereinzelte konservative Stimmen haben den Aufbau der parlamentarischen Vertretung auf berufsständischer Grundlage empfohlen. Doch ist die Partei solchen Vorschlägen nie näher getreten.

Mit der Ablehnung der vollständigen Demokratisierung der Verfassung ist für die Konservativen ein bestimmtes Verhältnis zur Sozialdemokratie gegeben. Sie vertreten die Anschauung, dass bei stärkeren Erfolgen der Sozialdemokratie dasjenige Mass von individueller Freiheit, das wir heute besitzen, und speziell auch diejenige Bewegungsfreiheit, die für das wirtschaftliche Gedeihen eines Volks erforderlich ist, nicht bewahrt werden können. Während die Linksliberalen, die früher den ausgeprägt individuell-manchesterlichen Standpunkt repräsentierten, gegenwärtig den Forderungen des Sozialismus weit entgegenkommen, halten die Konservativen, ohne irgendwie zum Manchestertum zurückzukehren (s. unten über ihre Stellung zur Sozial- und Wirtschaftspolitik), an einem gesunden Individualismus fest.[13]

In dem Verhältnis der Konservativen zu der Freiheit und Selbständigkeit der Gemeinden und Korporationen im Staate, zu den Fragen der Selbstverwaltung stritten früher zwei Prinzipien mit einander: während einerseits die Überzeugung von der Notwendigkeit einer kräftigen obrigkeitlichen Gewalt Misstrauen gegen die freie Bewegung lokaler Instanzen und der Korporationen einflösste, forderte man andererseits (zumal vom romantischen Standpunkt aus) für sie mehr oder weniger Autonomie. Einen Ausgleich dieser scharfen Gegensätze, die einen erspriesslichen Ausbau der Verwaltung hinderten, und überhaupt einen Wandel in der Stellung der Konservativen zu jenen Fragen brachte die preussische Kreisordnung vom Jahre 1872,[14] um die sich die Freikonservativen besondere Verdienste erworben haben. Diese hatten auch schon vorher für das platte Land eine Selbstverwaltung gefordert, wie sie die Städte seit der Stein’schen Städteordnung besassen. Vom Jahre 1872 ab sind unter wesentlicher Mitwirkung der Konservativen wichtige, weitere Gesetze über die Fortbildung der Selbstverwaltung verabschiedet worden. Heute reden sie durchweg einer [8] Stärkung der Selbstverwaltungskörper, einer Einschränkung der Staatsaufsicht und einer Dezentralisierung der Verwaltung überhaupt das Wort. Freilich lehnen sie die (in den Kreisen der „freisinnigen Volkspartei“ erhobene) Forderung der vollständigen Verlegung des Schwerpunktes der ganzen Verwaltung in die kommunalen Selbstverwaltungskörper ab.[15]

Gehen wir zu der materiellen Staatstätigkeit über, so ergibt sich schon aus der Stellung der Konservativen zur nationalen Frage, dass sie für die wirksame Sicherung des Staats nach aussen und eine energische äussere Politik eintreten. Aber auch die ganze Geschichte zumal der preussischen Konservativen führt eben dahin. In älterer Zeit sympathisierten die Parteien in der auswärtigen Politik mit denjenigen Staaten, deren Verfassung den eigenen Verfassungsidealen nach Möglichkeit entsprach. Seit Bismarck ist dies anders geworden: heute richten nur noch die ganz links stehenden Parteien ihre Stellung zur auswärtigen Politik nach den eigenen Verfassungsidealen ein. Die andern Parteien fragen lediglich: welche auswärtige Politik wird durch das Interesse unseres Volks gefordert?

Die Erhaltung und Sicherung des Staats ist etwas Elementares; sie muss das prius aller Politik sein. Was hilft alle Diskussion über die schönsten Kulturaufgaben des Staats, wenn man nicht dafür sorgt, dass er und der Bestand der Nation erhalten bleiben![16] Es ist ein Ruhm der Konservativen, dass sie sich zuerst von allen Parteien diesen Gedanken vollkommen zugänglich gezeigt haben. Hiernach versteht es sich von selbst, dass sie stets für ein starkes Heer und eine starke Flotte eintreten. Man stellt es oft so dar, als ob sie als einseitige Agrarier für die Flotte im Grunde nichts übrig hätten, sogar ihre Gegner wären. Gewiss führt den agrarischen Teil der Konservativen, vom kurzsichtig egoistischen Standpunkt aus betrachtet, nichts dahin, eine besondere Verstärkung der Flotte zu wünschen. Allein das entscheidende ist, dass solche kurzsichtig egoistischen Erwägungen die Haltung der Konservativen nicht bestimmen.[17] Gerade ihr Eintreten für eine starke Flotte beweist, dass sie sich nicht lediglich von agrarischen Interessen leiten lassen. Und derselbe Beweis liegt in ihrer Befürwortung einer energischen Kolonialpolitik. Sie fassen dies alles unter dem allgemeinen nationalen und staatlichen Gesichtspunkt auf: das Interesse des Volksganzen verlangt ein starkes Heer, eine starke Flotte, eine energische Kolonialpolitik.

Wenn, wie bemerkt, die Konservativen die Unentbehrlichkeit eines starken Heeres früher als die andern Parteien erkannt haben, so hat sich die konservative Auffassung mehr und mehr auch bei diesen Bahn gebrochen: sie hat damit einen grossen Siegeszug gehalten. Anfangs verhielten sich selbst die Nationalliberalen noch zagend gegenüber den Heeresforderungen der Reichsregierung (man denke an die schwierigen Verhandlungen über das Septennat zu Laskers Zeit). Etwa seit der Abtrennung der Sezessionisten von den Nationalliberalen sind diese aber stets mit ganzer Seele bei der Fürsorge für ein starkes Heer gewesen. Allmählich fasste auch beim Zentrum die Überzeugung Boden, dass ein starkes Heer unentbehrlich sei. Die Freisinnigen hatten noch nach Einführung der zweijährigen Dienstzeit die Heeresforderungen abgelehnt. Eine Annäherung an den konservativen Standpunkt bedeuten für sie namentlich die Reichstagsdebatten vom Dezember 1906 und der bis zum Jahre 1909 bestehende Reichstagsblock.

Einen ähnlichen, freilich bisher noch nicht so vollständigen Siegeszug der konservativen Anschauungen beobachten wir auf dem Gebiet der Wirtschaftspolitik. In dem Programm von 1876 war dem Manchestertum der Krieg erklärt worden; man hatte jedoch noch nicht Schutzzölle verlangt. Die Mehrzahl der preussischen Konservativen (speziell auch der ostdeutschen Landwirte) huldigte in der Zeit vor 1878 dem Freihandelsprinzip. Die damals sich vollziehende Veränderung der weltwirtschaftlichen Lage und die Wirtschafts- und Steuerpolitik Bismarcks bestimmten jedoch die deutschkonservative wie die freikonservative Partei, die Schutzzölle für [9] Industrie und Landwirtschaft zu akzeptieren. Und diese Parteien erfassten schnell und energisch die Notwendigkeit, die durch die Situation gegeben war, während die Nationalliberalen mehr oder weniger zögernd und nur zum Teil auf die Wirtschaftspolitik Bismarcks eingingen und die Freisinnigen von ihr den Ruin Deutschlands weissagten. Allmählich hat nun auch hier eine Annäherung der andern Parteien an den Standpunkt der Konservativen sich vollzogen. Die Nationalliberalen sind namentlich seit der „Heidelberger Erklärung“ zu einer entschlosseneren Schutzzollpolitik übergegangen. In der freisinnigen Partei gibt es noch zahlreiche radikale Freihändler; aber es bricht sich auch in ihr nach und nach die Überzeugung Bahn, dass wenigstens von einem vollständigen Abbruch der Schutzzollpolitik nicht die Rede sein kann. Bezeichnend ist es, dass die Freisinnigen beiden letzten Reichstagsverhandlungen über die Dampfersubvention für diese gestimmt haben, die ihnen früher als Gipfel der Verkehrtheit erschien. Jedenfalls findet heute der Schutzzoll in Kreisen Anerkennung, die ihm 1878 noch ganz ablehnend gegenüberstanden, und jedenfalls haben die wirtschaftlichen Verhältnisse Deutschlands unter diesem System einen gewaltigen Aufschwung genommen. Gegenwärtig stehen wohl einzelne Schutzzölle zur Diskussion. Es wird jedoch in zunehmendem Masse anerkannt, dass eine vollständige Öffnung der Grenzen einer Kapitulation Deutschlands gleichkommen würde.

Wie angedeutet, treten die Konservativen ebenso für industrielle wie agrarische Zölle ein. Der Vorwurf, dass sie eine einseitig agrarische Partei seien, dass von ihnen sogar nur das Interesse der ostelbischen Landjunker wahrgenommen werde, trifft nicht zu. Ausser den Gegengründen, die in dem bereits Gesagten liegen, mag hier folgendes geltend gemacht werden. Jede politische Partei hat sich heute in ihrem Kreise mit einer wirtschaftlichen oder sozialen Gruppe auseinanderzusetzen; es kommt dann darauf an, dass diese nicht die Alleinherrschaft in ihr gewinnt. Eine solche Situation teilt die konservative Partei mit den anderen Parteien; allen kann die Gefahr drohen, dass sie durch eine rein wirtschaftliche oder soziale Gruppe und einen für deren unmittelbare Zwecke geschaffenen Verband einseitig beeinflusst werden. Dass die konservative Partei in agrarischen Interessen nicht aufgeht, dafür spricht schon der Umstand, dass sie starke Anhängerschaften in städtischen Kreisen (so besonders im Königreich Sachsen) findet. Ohne Zweifel würde ein blosses Plus geeigneter Agitation genügen, ihr hier eine noch grössere Verbreitung zu geben; das Programm ist durchaus danach angetan. Beachtung verdient es ferner, dass die konservative Partei die Bestrebungen der Regierung auf dem Gebiet der innern Kolonisation unterstützt. Zwar haben Grossgrundbesitzer als einzelne Abneigung gegen sie bekundet. Dagegen die Partei hat die innere Kolonisation stets als notwendig bezeichnet. Das preussische Enteignungsgesetz wäre weder im Abgeordnetenhaus noch im Herrenhaus[18] ohne die Konservativen angenommen worden. Die konservative Partei sieht es als eine ihrer Hauptaufgaben an, sich der heute von mehreren Seiten bedrohten Landwirtschaft energisch anzunehmen. Ein solches besonderes Verhältnis zu einem bestimmten Wirtschaftszweig ist aber gegenwärtig, wo die Stellung des Staats zum Wirtschaftsleben erhöhte Bedeutung gewonnen hat, bei jeder Partei zu beobachten, und es kann bei unbefangener Beobachtung auch nicht bestritten werden, dass die Landwirtschaft besonderer Aufmerksamkeit bedarf.[19]

Durch die seit 1878 eingeführten Schutzzölle sind die Einnahmen des Reichs ausserordentlich vermehrt worden. Die Frage, ob das Reich allein auf indirekte Reichssteuern angewiesen sein solle, wurde zur Zeit der Reichstagsverhandlungen über die Erbschaftssteuer (1909) lebhaft diskutiert. Viele Mitglieder der deutschkonservativen Partei bejahten sie. Aber wie die deutschkonservative Reichstagsfraktion die Stellung zur Erbschaftssteuer nicht zur Parteiangelegenheit machte, sondern frei gab, so haben auch namhafte Konservative (z. B. Prof. Zorn; von den konservativen Zeitungen z. B. der „Reichsbote“) jene Frage verneint. Die Reichspartei hat der Erbschaftssteuer [10] mit wenigen Ausnahmen zugestimmt.[20] Bei dem Reichsfinanzgesetz von 1913 zeigte sich eine ähnliche Differenz zwischen Konservativen und Reichspartei.

Im übrigen haben die neuesten Verhandlungen über die Finanzfrage eine Rechtfertigung der konservativen Auffassung gebracht. Im Jahre 1909 hatte die Linke die indirekten Steuern für geschlossen erklärt, dagegen den weiteren Ausbau der direkten für das Reich verlangt, im Namen speziell von Handel und Industrie, während die Konservativen die Verwertung der direkten Steuern durch das Reich (abgesehen von der Erbschaftssteuer, mit der angegebenen Differenz) verurteilten. Im Jahre 1913, in dem dann mit dem Ausbau der direkten Steuern im Reich Ernst gemacht wurde, erhoben sich dagegen laute Klagen gerade aus den Kreisen der Bank- und Handelswelt. Der Abgeordnete Bassermann erklärte (nachdem der Reichstag seine Beschlüsse gefasst), dass es nun kaum möglich sein dürfte, die „Besitzsteuerung“ noch mehr zu steigern; für etwaige weitere finanzielle Anforderungen bliebe nur die „Einführung von Staatsmonopolen“ übrig. In den Einzelstaaten, vor allem in Preussen, haben die Konservativen um die Ausbildung und Verschärfung der direkten Steuern grosse Verdienste.

Den Kampf gegen das Manchestertum haben die Konservativen ferner durchgeführt durch ihre Mitwirkung (teilweise gaben sie hierbei die entscheidende Anregung) auf den Gebieten der Wuchergesetzgebung,[21] der Nahrungsmittelpolizei, des Gewerbewesens (Schutz des Handwerks), der sozialen Gesetzgebung.

Die soziale Gesetzgebung des Deutschen Reichs ist in der Hauptsache das Werk Bismarcks; sie hat aber Anknüpfungspunkte in älteren Erscheinungen: in der Fabrikgesetzgebung des alten preussischen Staats,[22] in Bestrebungen, die religiösen Motiven entspringen, endlich in einer Bewegung der deutschen Wissenschaft. In den konservativen Kreisen reichen jene Bestrebungen weit zurück;[23] kurz vor der Inaugurierung der Bismarckschen Sozialpolitik waren sie in verstärktem Masse durch Stöcker aufgenommen.[24] Bismarck fand für seine Sozialpolitik an den Konservativen ebenso seine besten Bundesgenossen wie für seine Wirtschaftspolitik. Von den liberalen Parteien gehörten wohl einzelne Mitglieder dem wissenschaftlichen Kreis an, der der Sozialpolitik das Wort redete; die Parteien als solche aber standen ihr ablehnend gegenüber. Doch gewann Bismarck die Nationalliberalen, die 1880 ihre ganz manchesterliche Linke durch die „Sezession“ verloren. Diese und die Fortschrittspartei bekämpften die Sozialreform fast zwei Jahrzehnte lang. Die Konservativen haben sich wie am Anfang so auch weiterhin zu ihr bekannt. Freilich sind bei der Fortführung der sozialpolitischen Gesetzgebung auch Schwierigkeiten hervorgetreten: die Konservativen haben anerkannt, dass die Sozialpolitik zugunsten der industriellen Arbeiter eine Grenze an der Leistungsfähigkeit der Industrie und an der Notwendigkeit der Erhaltung eines gewerblichen Mittelstandes finden müsse. Im einzelnen lassen sich in der Stellung der konservativen Kreise zur Sozialreform verschiedene Schattierungen wahrnehmen: die einen betonen mehr den einen, die andern den andern Gesichtspunkt. Zeitweilig haben die Deutschkonservativen sich der Sozialpolitik mehr geneigt gezeigt als die Freikonservativen (Frh. v. Stumm). Doch ist dieser Unterschied kein dauernder gewesen, wie denn der im Januar 1907 gewählte Abg. Linz, der Vertreter des Industriearbeiter-Wahlkreises Barmen-Elberfeld, einer der eifrigsten Sozialpolitiker, der Reichspartei beitrat.

Über das Verhältnis von Staat und Kirche sprechen sich die konservativen Programme von 1876 und 1892 in bestimmter Weise aus. Es wird nicht ein christlicher Staat im Sinn einer Theokratie gefordert, aber „die Erhaltung und Kräftigung der christlichen Lebensanschauung in Volk [11] und Staat und ihre praktische Betätigung in der Gesetzgebung“. Dass das religiöse Motiv nicht für alle politischen Fragen den Ausschlag geben kann und dass diese nicht sämtlich religiös bestimmbar, dass ferner die Mittel und Funktionen des Staats notwendig weltlich und nicht religiös-sittlich sind, dass die staatlichen Gesetze sich nur auf das äussere Handeln richten, wird in der konservativen Literatur ausdrücklich hervorgehoben.[25] Dem Staat wird „das Recht zuerkannt, kraft seiner Souveränität sein Verhältnis zur Kirche zu ordnen“; andererseits wird gegen ein „Übergreifen der staatlichen Gesetzgebung auf das Gebiet des inneren kirchlichen Lebens“ Verwahrung eingelegt. Prinzipiell wird die konfessionelle Volksschule verlangt. Doch beweist das preussische Gesetz über die Unterhaltung der öffentlichen Volksschulen vom 28. Juli 1906 (welches von den Konservativen, Freikonservativen und Nationalliberalen gemeinsam bewilligt ist), dass die Konservativen aus schultechnischen Erwägungen eine Einschränkung des Prinzips für zulässig erachten. Einzelne Konservative haben sich mit dem Gedanken der Trennung von Staat und Kirche befreundet. Die Partei lehnt ihn ab (mit Rücksicht auf die wünschenswerte Einwirkung der Kirche auf das Volksleben und die Ausbildung der Geistlichen), tritt jedoch „für das gute Recht der evangelischen Kirche auf selbständige Regelung ihrer inneren Einrichtungen“ ein. Wie schon angedeutet, ist der konservativen Partei die historische Aufgabe zugefallen, dem positiven Christentum in der evangelischen Kirche freie Luft zu verschaffen. Die Verbindung bestimmter kirchlicher Richtungen mit bestimmten politischen Parteien ist eine Folge der Existenz stark differierender theologischer Richtungen in der protestantischen Kirche (unter der Voraussetzung der bestehenden engeren Verbindung von Staat und Kirche). In Preussen, mit seiner starken konservativen Partei, besteht jedoch Parität für die verschiedenen theologischen Richtungen (die Hälfte der theologischen Lehrstühle ist mit liberalen Theologen besetzt), während in den Staaten mit ausschlaggebender liberaler Partei im Landtag (Baden, Hessen, Thüringische Staaten) die Vertreter der positiven Theologie so gut wie ganz von den Universitäten ausgeschlossen sind.

Die freikonservative Partei unterscheidet sich in der Kirchenpolitik von der deutschkonservativen insofern, als sie etwas stärker das Recht des Staats betont, ferner in einem weniger nahen Verhältnis zu bestimmten kirchlichen Richtungen steht und in den parlamentarischen Verhandlungen eine Verständigung mit den Nationalliberalen zu vermitteln gesucht hat.

In neuester Zeit hat die freikonservative (Reichs-) Partei sich in Süddeutschland organisiert, so in Baden 1907, in Bayern 1911 (vgl. Frh. v. Pechmann in d. Allg. Zeitung vom 19. Okt. 1912), in Hessen 1912 (hier die Deutschkonservativen mit umfassend).





  1. Das Wort „konservativ“ lässt sich übrigens in Deutschland erst in den dreissiger Jahren des 19. Jahrhunderts nachweisen. Wahl a. a. O. S. 659 Anm.
  2. Über diese Verhältnisse, z. B. über Mommsen als Gegner des allgemeinen gleichen Wahlrechts vgl. Gustav Mayer, Die Trennung der proletarischen von der bürgerlichen Demokratie in Deutschland (1863–70), Archiv für die Geschichte des Sozialismus Bd. 2, S. 3.
  3. Näheres über das Verhältnis der Konservativen zu der nationalen Idee s. in meinem Aufsatz über die Anfänge der konservativen Partei in Preussen.
  4. Der Gründungstag ist der 29. Juli 1866. Vgl. Wolfstieg, die Anfänge der Freikonservativen Partei, in: Delbrück-Festschrift (Berlin 1908). S. 313 ff.
  5. Zur Charakteristik dieses Geistes vgl. J. v. Eckardt, Lebenserinnerungen I, S. 147. Zu dem damals viel zitierten Wort der Nationalzeitung: „Es ist eine Lust zu leben; heutzutage kann man ausserhalb des Schattens der Kirche leben und sterben“ vgl. Archiv f. Kulturgeschichte Bd. 8, S. 327 und 468; D. v. Örtzen, Adolf Stöcker I, S. 108.
  6. Vgl. darüber z. B. C. Kapff, Lebensbild von S. C. v. Kapff (Stuttgart 1881), Bd. 2, S. 64 ff., 76, 117, 198; Rapp, die Württemberger und die nationale Frage 1863–71 (Stuttgart 1910), S. 283.
  7. Wie Bismarck durch seine Wirtschaftspolitik auch im süddeutschen volksparteilichen Lager Anhänger gewann, darüber s. ein interessantes Beispiel bei Rapp a. a. O. S. 21.
  8. Hiermit ergibt sich ohne weiteres die Haltung der Konservativen in der polnischen Frage und in der von Elsass-Lothringen, worauf wir des uns zur Verfügung stehenden knappen Raumes wegen nur kurz hinweisen. Über die Stellung der Konservativen zur Judenfrage handelt der Art. „Antisemitismus“ in dem „Konservativen Handbuch“ S. 16 ff. Daselbst ist S. 17 Anm. 1 bemerkt, dass die freikonservative Partei mit der deutschkonservativen „in der Beurteilung des Einflusses des Judentums im allgemeinen ziemlich übereinstimmt“, jedoch „der politischen Inangriffnahme der Judenfrage weniger geneigt ist“ und über das allmähliche Aufgehen der Juden im Deutschtum optimistischer denkt. Scharfe Unterschiede lassen sich hier kaum aufstellen; die einzelnen Abgeordneten nehmen auch eine stark abweichende Stellung ein. Im Verhältnis zu den reinen Antisemiten dürfte die Haltung der Konservativen etwa dahin zu bestimmen sein, dass bei ihnen die Ablehnung des Judentums u. a. durch das religiöse Moment und durch den Gedanken an die staatlichen Notwendigkeiten gemildert wird. Als Mittel zur Bekämpfung des übermässigen Einflusses des Judentums wird in dem „Konservativen Handbuch“ S. 22 in erster Line die Beschränkung des Zuzugs ausländischer Juden empfohlen.
  9. Vgl. hierüber und über die staatsrechtliche Auffassung der Konservativen überhaupt die Darlegungen von Otto Hintze. Das monarchische Prinzip und die konstitutionelle Verfassung, Preussische Jahrbücher Bd. 144
  10. Über Geschichte und Berechtigung der in Deutschland in Betracht kommenden Arten des Wahlrechts s. meine Schrift: Das parlamentarische Wahlrecht in Deutschland (1909).
  11. Vgl. meine angeführte Schrift S. 55, 82, 123 ff.
  12. Ebenda S. 57 ff und 82 f.
  13. Der Gedanke, dass es heute die Konservativen sind, welche das Recht der freien Persönlichkeit verteidigen, ist neuerdings von Grabowsky in einem Artikel der Neuen Preussischen (Kreuz-) Zeitung (vom 4. Mai 1911. Nr. 208) näher ausgeführt worden, an den sich eine lebhafte Diskussion angeschlossen hat (wieder abgedruckt bei Röder a. a. O. S. 5 ff.).
  14. Vgl. P. Schmitz, Die Entstehung der preussischen Kreisordnung vom 13. Dezemb. 1872. Berlin 1910.
  15. Vortreffliche Bemerkungen zu diesem Thema bei J. V. Bredt, Ztschr. für Sozialwissenschaft 1911, S. 64 ff.
  16. Vgl. hierzu Dietrich Schäfer, Politische Geschichte, Deutsche Literaturzeitung 1911, Nr. 20, Sp. 1221 ff.
  17. Der einzige Beweis, den man versucht hat, liegt in dem Hinweis auf das von einem Abgeordneten gebrauchte Wort von „der grässlichen Flotte“. Dieser hat es jedoch gebraucht, ehe er Mitglied der konservativen Partei war, und ihm übrigens keine praktische Folge gegeben.
  18. Bemerkenswerte Daten hierzu s. in meiner angeführten Schrift S. 131 ff.
  19. Eine Rechtfertigung der Begründung des „Bundes der Landwirte“ findet man in dem „Politischen Handbuch der Nationalliberalen Partei“ (abgeschlossen Dezember 1907), Berlin, Verlag der Buchhandlung der Nationalliberalen Partei, S. 631, in dem Art. über die konservative Partei. Der Art. über den Bund der Landwirte. S. 259 ff. ist überwiegend kritisch gehalten. Vgl. ferner meine angeführte Schrift S. 36 und S. 38 Anm. 20.
  20. Historisches zu dem Streit um die Erbschaftssteuer s. in meiner Schrift: Die politische Lage im Reich und in Baden (Heidelberg 1910 C. Winter).
  21. Vgl. den Art. Wucher im Wörterbuch der Volkswirtschaft (hergg. von Elster).
  22. Vgl. G. K. Anton, Geschichte der preussischen Fabrikgesetzgebung bis zu ihrer Aufnahme durch die Reichsgewerbeordnung (Leipzig 1891). S. 57 f. vergleicht er die Gesetze des alten (absolutistischen) preussischen Staats mit den entsprechenden englischen Gesetzen und entscheidet den Vergleich zugunsten Preussens.
  23. Vgl. dazu meine angeführte Abhandlung über die Anfänge der konservativen Partei in Preussen.
  24. Zu der Biographie Stöckers von D. v. Örtzen vgl. den inhaltreichen Art. von H. v. Petersdorff in der Konservativen Monatsschrift 1911. Februarheft.
  25. Vgl. z. B. R. Seeberg, Christlich-protestantische Ethik, in: Kultur der Gegenwart I, IV, 2. S. 223 Derselbe. System der Ethik (Lpz. 1911).