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Diverse: Handbuch der Politik – Band 2

1878 beginnt eine zweite Periode des Bismarckschen Einflusses auf die Parteien: es ist die grosse Zeit seiner inneren Politik: sie wird charakterisiert durch den Kampf gegen die Sozialdemokratie und eine eingreifende Sozial- und Wirtschaftspolitik. Deutschland geht zum Schutzzollsystem über. Es handelt sich aber nicht bloss um den Schutzzoll, sondern der manchesterliche Standpunkt der liberalen Ära wird in der Sozial- und Wirtschaftspolitik überhaupt verlassen. Die spezifischen Kulturkampfgesetze werden nach und nach beseitigt. In eben jenem Jahr 1878 erfolgte auch die Aussöhnung Bismarcks mit den Konservativen. Inwiefern das Programm der Deutschkonservativen von 1876 Anknüpfungspunkte für die neue Politik des Kanzlers bot, ergibt sich aus den bisherigen und den weiterhin zu machenden Darlegungen.

Bevor wir nun die Gestaltung des konservativen Programms, wie sie sich unter dem Einfluss der Bismarckschen Politik vollzog, im Zusammenhang betrachten, werfen wir einen Blick auf die konservativen Parteibildungen in den ausserpreussischen Staaten. Zum grossen Teil gehen die konservativen Parteibildungen hier auf dieselben Voraussetzungen zurück wie in Preussen: altständische Interessen, die Verteidigung der Stellung des Monarchen, kirchliche Gesichtspunkte, die romantische Bewegung. Aber es bestehen auch namhafte Unterschiede, oder es tritt wenigstens das eine Moment an dem einen Ort mehr in den Vordergrund als an dem andern. So stand bei den badischen Konservativen seit den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts das kirchliche Interesse zweifellos im Vordergrund, was sich damit ergab, dass die liberale Regierung sich mit dem kirchlichen Liberalismus identifizierte; wenn die positiv-kirchlichen Kreise nicht alle Bedeutung verlieren wollten, mussten sie nach politischem Einfluss streben. Ein Gegensatz zwischen Liberalismus und Monarchie war andererseits hier damals nicht vorhanden. In Württemberg zeigt sich ebenfalls ein starker Zusammenhang zwischen den positiv kirchlichen Kreisen und der konservativen Parteibildung; aber in anderer Art als in Baden. In mehreren Staaten wurde die Bildung einer konservativen Partei gehindert durch die endlosen Domänenstreitigkeiten. Die Weigerung der Regierungen, die Domänen als Staatseigentum anzuerkennen, rief hier eine starke Opposition hervor, während in Preussen, wo die Domänen längst als Staatseigentum anerkannt waren, ein solcher Stein des Anstosses nicht bestand. Jene Streitigkeiten beeinträchtigten die Popularität der Monarchie. Wenn z. B. in Gotha und Meiningen Jahrzehnte lang nie konservativ, sondern liberal oder freisinnig oder sozialistisch gewählt worden ist (im Gegensatz zu benachbarten preussischen Distrikten), so erklärt sich diese Erscheinung zum guten Teil gewiss aus den Domänenstreitigkeiten und ihren weiteren Wirkungen. Partikularistischer Charakter haftete in den nichtpreussischen Staaten verschiedenen Parteien an. Im Königreich Sachsen hatten neben den Freisinnigen die Konservativen einen partikularistischen Zug. Auch bei den württembergischen Konservativen finden wir ihn, doch nicht durchweg und gemässigt durch die Sympathie, die die positiv-kirchlich gerichteten württembergischen Konservativen mit den preussischen Konservativen verband.[1] Die partikularistische Partei par excellence ist in Württemberg die demokratische (Volkspartei).

Bismarck hat geglaubt, er werde durch seine Wirtschaftspolitik die alten Parteien zersprengen. Obwohl diese seine Hoffnung sich im vollen Masse nicht erfüllt hat, so hat seine Wirtschaftspolitik immerhin eine grosse Wirkung auf die Stellung der Parteien ausgeübt. In Verbindung mit andern Momenten – so dem Zusammenarbeiten der ausserpreussischen Konservativen mit den preussischen Konservativen (Bildung der deutschkonservativen Partei) und Freikonservativen, dem Gegensatz gegen die Sozialdemokratie, den Beobachtungen über den Aufschwung im allgemeinen, den die Reichsgründung gebracht hat – hat die Wirtschaftspolitik Bismarcks die Folge gehabt, dass der Partikularismus, soweit er sich noch in den konservativen Parteien einzelner Staaten fand, verschwunden ist. Ein interessantes Beispiel liefert für diese Entwickelung der württembergische Politiker Varnbühler: er, der in den sechziger Jahren als württembergischer Minister vom partikularistischen Standpunkt aus im Einvernehmen mit der demokratischen Partei (ohne ihr im übrigen anzugehören) Bismarcks Politik heftig bekämpft hatte, war bei dessen Wirtschaftspolitik dessen


  1. Vgl. darüber z. B. C. Kapff, Lebensbild von S. C. v. Kapff (Stuttgart 1881), Bd. 2, S. 64 ff., 76, 117, 198; Rapp, die Württemberger und die nationale Frage 1863–71 (Stuttgart 1910), S. 283.
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Diverse: Handbuch der Politik – Band 2. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 5. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_2.pdf/21&oldid=- (Version vom 6.12.2021)