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gleichen und direkten Wahlrechts ist da, wo sie erfolgt ist, auch nicht zum besonderen Behagen der Liberalen durchgesetzt worden.[1] Wenn sie heute hier und da von ihnen verlangt wird, so geschieht es wesentlich aus taktischen Gründen. Von einem Teil der Liberalen und den Demokraten wird das allgemeine, gleiche, direkte Wahlrecht freilich wie ein Naturrecht gefordert. Dem gegenüber stellen die Konservativen bei jedem Wahlrecht die Frage, ob mit ihm eine Regierung des Staats noch möglich sei. Sie gehen von der Erfahrung aus, dass sich bisher noch kein bestimmtes Wahlrecht als ein Allheilmittel erwiesen hat. So wenig die Partei die Absicht hat, das bestehende Reichstagswahlrecht zu beseitigen, so widerstrebt sie doch einer weiteren Demokratisierung unserer Verfassungsverhältnisse. In den verschiedenen Bundesstaaten nehmen die Konservativen zur Wahlrechtsfrage im einzelnen eine abweichende Haltung ein. In Preussen sind sie zu einer Reform des Dreiklassenwahlrechts in Einzelheiten bereit, halten jedoch an einer starken Abstufung fest. Preussen würde, wie die Dinge zurzeit liegen, die Aufgabe, die ihm für das Reich zugewiesen ist, nicht erfüllen können, wenn es ein vollkommen demokratisches Wahlrecht hätte.[2] Die Konservativen sehen auch eine einfach schematische Verteilung der Reichstagsmandate nach der Bevölkerungszahl als unzweckmässig an, in der Erwägung, dass Beschlüsse, die schlechthin durch die staatliche Notwendigkeit diktiert waren, doch nur unter der Voraussetzung der jetzigen Wahlkreiseinteilung (mit ungleicher Bevölkerungszahl) zustande gekommen sind.[3] Die Konservativen halten die Heranziehung aller Schichten und Gruppen der Bevölkerung zur Teilnahme am politischen Leben für förderlich; sie hegen jedoch nicht die Meinung, dass die mit dieser Teilnahme gegebenen Vorteile an ein absolut gleiches Wahlrecht geknüpft sind. Vereinzelte konservative Stimmen haben den Aufbau der parlamentarischen Vertretung auf berufsständischer Grundlage empfohlen. Doch ist die Partei solchen Vorschlägen nie näher getreten.

Mit der Ablehnung der vollständigen Demokratisierung der Verfassung ist für die Konservativen ein bestimmtes Verhältnis zur Sozialdemokratie gegeben. Sie vertreten die Anschauung, dass bei stärkeren Erfolgen der Sozialdemokratie dasjenige Mass von individueller Freiheit, das wir heute besitzen, und speziell auch diejenige Bewegungsfreiheit, die für das wirtschaftliche Gedeihen eines Volks erforderlich ist, nicht bewahrt werden können. Während die Linksliberalen, die früher den ausgeprägt individuell-manchesterlichen Standpunkt repräsentierten, gegenwärtig den Forderungen des Sozialismus weit entgegenkommen, halten die Konservativen, ohne irgendwie zum Manchestertum zurückzukehren (s. unten über ihre Stellung zur Sozial- und Wirtschaftspolitik), an einem gesunden Individualismus fest.[4]

In dem Verhältnis der Konservativen zu der Freiheit und Selbständigkeit der Gemeinden und Korporationen im Staate, zu den Fragen der Selbstverwaltung stritten früher zwei Prinzipien mit einander: während einerseits die Überzeugung von der Notwendigkeit einer kräftigen obrigkeitlichen Gewalt Misstrauen gegen die freie Bewegung lokaler Instanzen und der Korporationen einflösste, forderte man andererseits (zumal vom romantischen Standpunkt aus) für sie mehr oder weniger Autonomie. Einen Ausgleich dieser scharfen Gegensätze, die einen erspriesslichen Ausbau der Verwaltung hinderten, und überhaupt einen Wandel in der Stellung der Konservativen zu jenen Fragen brachte die preussische Kreisordnung vom Jahre 1872,[5] um die sich die Freikonservativen besondere Verdienste erworben haben. Diese hatten auch schon vorher für das platte Land eine Selbstverwaltung gefordert, wie sie die Städte seit der Stein’schen Städteordnung besassen. Vom Jahre 1872 ab sind unter wesentlicher Mitwirkung der Konservativen wichtige, weitere Gesetze über die Fortbildung der Selbstverwaltung verabschiedet worden. Heute reden sie durchweg einer


  1. Über Geschichte und Berechtigung der in Deutschland in Betracht kommenden Arten des Wahlrechts s. meine Schrift: Das parlamentarische Wahlrecht in Deutschland (1909).
  2. Vgl. meine angeführte Schrift S. 55, 82, 123 ff.
  3. Ebenda S. 57 ff und 82 f.
  4. Der Gedanke, dass es heute die Konservativen sind, welche das Recht der freien Persönlichkeit verteidigen, ist neuerdings von Grabowsky in einem Artikel der Neuen Preussischen (Kreuz-) Zeitung (vom 4. Mai 1911. Nr. 208) näher ausgeführt worden, an den sich eine lebhafte Diskussion angeschlossen hat (wieder abgedruckt bei Röder a. a. O. S. 5 ff.).
  5. Vgl. P. Schmitz, Die Entstehung der preussischen Kreisordnung vom 13. Dezemb. 1872. Berlin 1910.
Empfohlene Zitierweise:
Diverse: Handbuch der Politik – Band 2. Dr. Walther Rothschild, Berlin und Leipzig 1914, Seite 7. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Handbuch_der_Politik_Band_2.pdf/23&oldid=- (Version vom 29.8.2021)